Skip to main content

Full text of "Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik."

See other formats


REICH: 



MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS 



WILHELM REICH 



MASSENPSYCHOLOGIE 
DES FASCHISMUS 




ZUR SEXUALÖKONOMIE 

DER POLITISCHEN REAKTION UND 

ZUR PROLETARISCHEN SEXUALPOLITIK 



VERLAG FÜR SEXUALPOLITIK 1933 
KOPENHAGEN - PRAG - ZÜRICH 



COPYRIGHT BY VERLAG FÜR SEXUALPOLITIK 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 









Franc Chrisllreu'i 
8ogMJ«a KjbwtavnK. 






VORREDE 

Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere 
Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an 
Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgrün- 
dendem, den alten Freiheitszielen der arbeiten- 
den Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschis- 
mus hat gesiegt und baut seine Positionen mit 
allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch 
kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich 
aus. Aber der Kampf gegen das neuerstandene 
Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, 
Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, 
für die natürlichen Rechte der arbeitenden und 
schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeu- 
tung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer 
betroffenen Menschen, für die Beseitigung 
dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung 
wird weitergehen. Doch kommt es nicht nur 
darauf an, dass er weitergeht, sondern in erster 
Linie ob, wie und in welcher Zeit er zum Siege 
des internationalen Sozialismus führen wird. 

Die Formen, unter denen sich die Machter- 
greifung des Nationalsozialismus vollzog, erteil- 
ten dem internationalen Sozialismus eine unaus- 
löschliche Lehre: dass die politische Reaktion 
sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirk- 
lichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern 
nur durch Weckung echter revolutionärer Be- 
geisterung, nicht mit bürokratisierten Partei- 



Vorrede 



apparaten \, sondern nur mit innerlich demokra- 
tischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbei- 
terorganisationen und überzeugten Kampftrup- 

5Üc SS f n l3SSen WiTd - Sie kehrten uns, 
dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich 
suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Ent- 
mutigung der Massen führt, wenn die eiserne 
Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirk- 
lichkeit enthüllt. 

Jahrelange sexualärztliche und politische Ar- 
beit innerhalb der Organisationen der Arbeiter- 
schaft im besonderen ihrer Jugend, gab mir die 
unerschütterliche Überzeugung, dass die Klasse, 
die von den „gott gesandten" Führern des „dritten 
Reiches als „Untermenschen" ins Joch ge- 
spannt wird, in sich die Zukunft der Mensch- 
heit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natür- 
liche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige 
Leben enthält, als in allen Schmökern der bür- 
gerlichen Moralphilosophie und in den Phrasen 
der politischen Reaktion gefordert wird, frei- 
lich eine andere Kultur, eine andere Ehre eine 
andere Sittlichkeit, weil sie keine schmierige 
Kehrseite in der Praxis hat. 

Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden 
gedruckt, enttäuscht, duldend sich verhalten ja 
sogar wenn auch in guter Überzeugung, dem 
Faschismus folgen, so besteht dennoch kein 
Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive 
Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhän 
ger von der sozialistischen Mission des National- 
sozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie 
auch über Deutschland gebracht hat, ein mäch- 

i!f er C ktlvposten für dIe sozialistische Zukunft 
Man behindert die Entfaltung dieser geschieht- 



* 



r 



Vorrede 

liehen Kraft, wenn man die nationalsozialis- 
tische Bewegung als ein Werk von Gaunern 
und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in 
ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler 
ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die 
Herrschaft des Grosskapitals verschärft; sub- 
jektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker 
des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv 
begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der 
Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich 
trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, 
sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beab- 
sichtigten, wenn man die nationalsozialistische 
Führung mit alten, abgeschmackten Methoden 
lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit uner- 
hörter Energie und mit grossem Geschick Mas- 
sen wirklich begeistert und dadurch die Macht 
erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Tot- 
feind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn 
wir seine Stärken richtig einschätzen und 
dies auch mutig aussprechen. Wir können bor- 
nierte Methoden entbehren; plumpe Demagogie 
ist immer ein Zeichen der theoretischen und 
praktischen Schwäche und, weil sie nichts er- 
zielt, objektiv konterrevolutionär. Was wir den 
Millionen der Entmutigten und den anderen 
sozialistisch fühlenden Millionen der noch be- 
geisterten Nationalsozialisten zu sagen und zu 
zeigen haben, ist, dass die Stärke der National- 
sozialisten ihre Überzeugtheit von ihrer gött- 
lichen Sendung war, dass es aber eine gött- 
liche Sendung nicht gibt und nur kriegerischer 
Imperialismus vorliegt; dass ihre militärischen 
Organisationen glänzend sind, aber den Herein- 
bruch des menschlichen Untergangs bedeuten 

7 



Vorrede 

und andere Ziele zu verfolgen haben, diejeni- 
gen, die der einfache SA-Mann selbst brennend 
erstrebt: den Sturz des Kapitals; dass Hitler 
vermeint, das Volk zu befreien, dass er aber ein 
unerbittliches Schicksal gegen sich hat: 
den Untergang des Kapitalismus, den wir wollen 
und den er niemals bannen kann. 

Womit wir die Massen zu erfüllen haben ist 
die tiefe Überzeugung, dass es revolutionäre 
Zentren gibt, die den Prozess der Jetztzeit auf- 
merksam, ausgestattet mit dem Rüstzeug der 
Wissenschaft, verfolgen, entschlossen, das viel- 
besungene letzte Gefecht wirklich aufzunehmen, 
wenn der Gang der Ereignisse sich wieder um- 
kehrt, was sie schon jetzt mit allen Mitteln un- 
terstützen. Der Kampfeswille der Jugend ist i n 
Wirklichkeit auf unserer Seite; der Wille 
der Jugend zur Lebensfreude wird die gewal- 
tigste Kraft der Revolution sein. 

Wer die Überzeugung von der wirklichen 
sozialistischen Schlagkraft der werktätigen 
Massen nicht hat und wer die positiv revolutio- 
nären Kräfte, die im Nationalsozialismus ge- 
bunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird 
auch keine neue Praxis der Revolution ent- 
wickeln können. Wer auch jetzt nicht durch 
sauberste Anwendung der Sozialwissenschaft, 
über die wir allein verfügen, zunächst theore- 
tisch Herr über die gesellschaftliche Situation 
wird und die Zeit, die ihm die Ebbe der Arbei- 
terbewegung gibt, nicht voll ausnützt, wer sich 
von leerem Optimismus zur fruchtlosen Arbeit 
verurteilen lässt, hilft praktisch der politischen 
Reaktion. 

Die wissenschaftliche Erfassung auch der 

8 



Vorrede 

brennendsten Geschehnisse ist darauf angewie- 
sen, die unendlich vielen Fehlerquellen bei der 
Anschauung der Dinge tunlichst auszuschalten; 
sie arbeitet daher langsam und hinkt den Ereig- 
nissen mächtig nach. Die Unterjochten verta- 
gen jedoch von den wissenschaftlichen Arbei- 
tern, dass sie ihre Forschung auf die aktuellen 
Fragen konzentrieren. Die Wissenschaft ist der 
Totfeind der politischen Reaktion. Der Wissen- 
schaftler aber, der glaubt, durch Vorsicht und 
„Unpolitischsein" seine Existenz zu retten und 
durch die Verjagung und Einkerkerung auch der 
Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt 
wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst ge- 
nommen zu werden und später einmal am wirk- 
lichen Neuaufbau der Gesellschaft mitzuwirken. 
Seine Klagen und seine Kulturbesorgtheit sind 
überzeugungslose Ergüsse, wenn er nicht aus 
den Ereignissen erkennt, dass gerade seine 
Wissenschaft, seine wissenschaftliche Kraft 
denjenigen fehlt, auf die er in Zeiten des Zu- 
sammenbruchs seine Hoffnung setzt. Sein Un- 
politischsein ist ein Stück der Stärke der poli- 
tischen Reaktion und seines eigenen Untergan- 
ges gleichzeitig. 

Wem die Ausführungen dieser Schrift ein- 
leuchten sollten, der bedenke, dass die vorwarts- 
t reibenden Kräfte der Geschichte zu einem gros- 
sen Teile brachliegen, weil es an geschulten 
Kräften fehlt und weil die Wissenschaftler in 
ihrer akademischen Abgeschlossenheit verhar- 
ren, sofern sie sich nicht gleichschalten lassen. 
Wissenschaftliche Kritik dieser Arbeit ist er- 
wünscht, aber nur solche, die nicht Theorien 
über das menschliche Dasein am Schreibtisch 



— ^- 



•* 



Vorrede 

fabriziert, sondern ihre Anschauungen aus dem 
wirklichen Leben der Menschen durch innigen 
Kontakt mit ihnen schöpft, wie ich es zu tun 
bestrebt war. 

Diese Schrift entstand im Verlaufe des An- 
wachsens der reaktionären Flut in Deutschland 
in den Jahren 1930 bis 1933. Ihre Absicht ist, 
der jungen, noch unentwickelten sexualpoli- 
tischen Bewegung ein Stück theoretischer 
Grundlage zu geben und einige der wichtigsten 
praktischen Angriffspunkte aus dem sexual- 
reformerischen Chaos herauszuschälen. Sie 
knüpft an frühere Versuche, den Prozess der 
Sexualökonomie unserer Gesellschaftsordnung 
zu enthüllen, an; da aber dieser Prozess nur ein 
Stück des gesamten gesellschaftlichen Gesche- 
hens ist, greift die Untersuchung in die Fragen 
der allgemeinen politischen Bewegung ein. Die 
beabsichtigte Vollständigkeit, soweit sie in 
wissenschaftlicher Arbeit überhaupt zu erzielen 
ist, konnte infolge der politischen Ereignisse in 
Deutschland nicht mehr angestrebt werden. Zu 
warten, bis der wissenschaftlichen Pedanterie 
Genüge getan war, schien mir in den Zeiten, die 
wir gegenwärtig durchleben, unmöglich, zumal 
wenig Aussicht bestand, in absehbarer Zeit das 
mühsam gesammelte Material zu ersetzen, das 
bei der Katastrophe verlorenging. 

Ich habe mich bemüht, das schwierige Thema 
so einfach wie möglich darzustellen, damit die 
Schrift auch dem durchschnittlichen Arbeiter- 
funktionär zugänglich wird. Ich weiss, dass es 
mir nicht gut genug gelang. 

Sollte die politische Reaktion sich für den 
Inhalt dieser Schrift an der Psychoanalyse oder 
10 



Vorrede 

ihren Vertretern revanchieren wollen, so würde 
sie fehlgreifen. Freud und die Mehrheit sei- 
ner Schüler lehnen die soziologischen Konse- 
quenzen der Psychoanalyse ab und bemühen sich 
sehr, den Rahmen der bürgerlichen Gesell- 
schaft nicht zu überschreiten. Sie sind also 
unschuldig daran und nicht verantwortlich, 
wenn sich Politiker der wissenschaftlichen For- 
schungsergebnisse der Psychoanalyse bedienen. 

Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass nach 
dem berühmten Wort die Waffe der Kritik die 
Kritik der Waffen nicht ersetzen kann. Wenn 
diese Schrift den schwierigen Weg zur Kritik 
der Waffen abzukürzen in der Lage ist, wird 
ihr Zweck erfüllt sein. 

Im September 1933. 

Wilhelm Reich 



11 






I. KAPITEL 

Die Ideologie als materielle Gewalt 

1. DIE SCHERE 

Im Verlaufe der Monate seit der Machter- 
greifung durch den Nationalsozialismus in 
Deutschland konnte man sehr oft eine Feststel- 
lung machen, von der wir ausgehen wollen. Es 
zeigten sich Zweifel an der Richtigkeit der 
marxistischen Grundauffassung des gesellschaft- 
lichen Geschehens auch bei solchen, die durch 
die Tat jahrelang ihre revolutionäre Festigkeit 
bewiesen hatten. Diese Zweifel knüpfen an ei- 
ner zunächst unverständlichen Tatsache an, die 
nicht wegzuleugnen ist : Der Faschismus, seinen 
objektiven Zielen und seinem Wesen nach der 
extremste Vertreter der politischen und wirt- 
schaftlichen Reaktion, wird seit mehreren Jah- 
ren zu einer internationalen Erscheinung und 
überflügelt in vielen Ländern sichtbar und un- 
leugbar die proletarisch-revolutionäre Bewe- 
gung. Dass sich diese Erscheinung in den hoch- 
industriellen Ländern am stärksten ausprägt, 
verschärft nur das Problem. Dem internationa- 
len Erstarken des Nationalismus steht die Tat- 
sache des Versagens der Arbeiterbewegung in 
einer ökonomisch zur Sprengung der kapitali- 

13 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

»tischen Produktionsweise reif gewordenen 
Phase der neuzeitlichen Geschichte gegenüber. 
Dazu kommt die unauslöschliche Erinnerung an 
das Versagen der Arbeiterinternationale beim 
Ausbruch des Weltkrieges und das Ersticken 
der revolutionären Erhebung 1918—1923 ausser- 
halb Russlands. Die genannten Zweifel knüpfen 
also an schwerwiegenden Tatsachen an; be- 
stehen sie zurecht, ist die Marxsche Grundauf- 
fassung unrichtig, dann bedarf es entschlosse- 
ner Neuorientierung der Arbeiterbewegung, 
wenn man ihr Ziel dennoch erreichen will ; be- 
stehen aber die Zweifel nicht zurecht, ist die 
Marxsche Grundauffassung richtig, dann bedarf 
es gründlichster, vielseitiger Analyse sowohl 
der Ursachen des bisherigen Versagens der Ar- 
beiterbewegung, als auch — und dies vor allem 
— einer restlosen Klärung der in der Geschich- 
te neuartigen Massenbewegung des Faschismus, 
aus der sich eine neue Praxis ergeben würde. 

Auf keinen Fall ist auf eine Aenderung der 
gegenwärtigen Lage zu hoffen, wenn der Nach- 
weis nach der einen oder anderen Richtung 
nicht gelingen sollte. Es ist klar, dass weder 
ein Appellieren an das revolutionäre Klassen- 
bewusstsein der Arbeiterschaft, noch die heute 
mit Vorliebe betriebene Methode ä la Coue, die 
Niederlagen verschleiert und gewichtige Tat- 
sachen durch Illusionen verhüllt, zum Ziele füh- 
ren kann. Auch ein Sichbescheiden mit der Tat- 
sache, dass auch die Arbeiterbewegung „vor- 
wärtsgeht", dass hier und dort gekämpft"und 
gestreikt wird, wäre illusionär, denn nicht, dass 
es vorwärtsgeht, ist entscheidend, sondern in 
welchem Tempo im Verhältnis zum internatio- 
14 



• 



Die Schere 

nalen Erstarken und Vorwärtsschreiten der po- 
litischen Reaktion. 

Die junge sexualpolitische Bewegung ist an 
gründlichster Klärung dieser Fragen nicht nur 
deshalb interessiert, weil sie ein Teil des so- 
zialen Befreiungskampfes überhaupt ist, son- 
dern vor allem auch deshalb, weil die Er- 
reichung ihrer Ziele unlösbar an die Erreichung 
der wirtschaftspolitischen Ziele der Arbeiter- 
bewegung geknüpft ist. Wir wollen daher von 
der sexualpolitischen Seite der Arbeiterbe- 
wegung her darzulegen versuchen, wo sich die 
speziellen sexualpolitischen mit den allgemei- 
nen Fragen der Politik verflechten. 

In manchen deutschen Versammlungen pfleg- 
ten kluge, ehrlich gesinnte, wenn auch nationali- 
stisch und metaphysisch denkende Antikapitali- 
sten wie etwa Otto Strasser den Marxisten ent- 
gegenzuhalten : „Ihr Marxisten pflegt euch auf 
die Lehre von Karl Marx zu berufen. Wie wir 
aber wissen, hat Marx gelehrt, dass sich die 
Theorie nur durch die Praxis bestätige. Ihr aber 
kommt immer nur mit Erklärungen für die Nie- 
derlagen der Arbeiterinternationale. Euer Marx- 
ismus hat versagt: Für die Niederlage 1914 dien- 
te als Erklärung der Umfall der Sozialdemokra- 
tie, für 1918 ihre verräterische Politik und ihre 
Illusionen. Und nun habt ihr wieder Erklärun- 
gen zur Hand für die Tatsache, dass die Massen 
in der Weltkrise statt nach links nach rechts ab- 
schwenkten. Aber eure Erklärungen schaffen die 
Tatsache der Niederlage nicht aus der Welt! 
Wo bleibt seit 80 Jahren die Bestätigung der 
Lehre von der sozialen Revolution durch die 
Praxis? Euer Grundfehler ist, dass ihr die Seele 

15 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

und den Geist leugnet oder verlacht und ihn, 
der alles bewegt, nicht begreift." So oder ähn- 
lich argumentierten sie und die marxistischen 
Referenten wussten keine geeignete Antwort auf 
derartige Fragen. Es wurde immer klarer, dass 
die politische Massenpropaganda, wenn sie sich 
nur auf die Erörterung der objektiven sozial- 
ökonomischen Krisenprozesse (kapitalistische 
Produktionsweise, wirtschaftliche Anarchie, 
etc.) bezog, ausser der Minderheit der bereits in 
der linken Front Eingereihten niemand erfasste, 
dass die Herausstellung der materiellen Not, des 
Hungers der Massen, nicht genügte, denn das 
tat jede politische Partei, sogar die Kirche; und 
schliesslich siegte die Mystik der Nationalsozia- 
listen in tiefster Krise und Verelendung über 
den wissenschaftlichen Sozialismus. Man musste 
sich also sagen, dass es offenbar eine klaffende 
Lücke in der Propaganda und in der Gesamtauf- 
fassung gab, aus der sich die politischen Fehler 
der kommunistischen Partei erklären Hessen; 
man konnte auch feststellen, dass es sich um 
Mängel in der marxistischen Erfassung der poli- 
tischen Wirklichkeit handelte, zu deren Behe- 
bung in der Methode des dialektischen Materia- 
lismus alle Voraussetzungen enthalten waren. 
Diese Möglichkeiten waren aber unausgenützt 
geblieben, die marxistische Politik hatte, um es 
kurz vorwegzunehmen, die Psychologie der Mas- 
sen und die soziale Wirkung des Mystizismus in 
ihre Kalkulationen und ihre politische Praxis 
nicht oder unrichtig einbezogen. 

Wer die Theorie und Praxis des Marxismus 
der letzten Jahre in der revolutionären Linken 
verfolgte und praktisch miterlebte, musste fest- 

16 



Die Schere 

stellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven 
Prozesse der Wirtschaft und auf die engere 
Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenann- 
ten „subjektiven Faktor*' der Geschichte, die 
Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und 
ihren Widersprüchen weder aufmerksam ver- 
folgte, noch erfasste ; sie unterliess es vor allem, 
die Methode des dialektischen Materialismus 
immer neu anzuwenden, immer lebendig zu er- 
halten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung 
mit dieser Methode neu zu erfassen. Die An- 
wendung des dialektischen Materialismus auf 
neue historische Erscheinungen (und der Fa- 
schismus ist eine derartige Erscheinung, die we- 
der Marx noch Engels bekannt war und von Le- 
nin erst in ihren Anfängen gesichtet wurde) 
kann zu keiner falschen Praxis führen; aus einem 
sehr einfachen, bisher schwer vernachlässigten 
Grunde: Die bürgerliche Erfassung der Wirk- 
lichkeit geht an ihren Widersprüchen und realen 
Verhältnissen vorbei ; die bürgerliche Praxis der 
Politik bedient sich automatisch derjenigen 
Kräfte der Geschichte, die sich gegen die Ent- 
wicklung stemmen; sie kann dies erfolgreich 
nur solange tun, als die revolutionäre Wissen- 
schaft nicht diejenigen Kräfte restlos aufdeckt, 
die jenen gegenübergestellt, sie überwinden 
müssen. Wie wir später darlegen werden, waren 
in der Massenbasis des Faschismus, im rebellie- 
renden Kleinbürgertum, nicht nur die rückwärts- 
treibenden, sondern auch ganz energisch vor- 
wärtstreibende Kräfte der Geschichte in Er- 
scheinung getreten; dieser Widerspruch wurde 
übersehen, mehr, die ganze Frage der Rolle des 
Kleinbürgertums stand bis knapp vor der Macht - 

2 17 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

ergreifung durch Hitler überhaupt nicht im 
Vordergrunde der Diskussion, und wenn hier 
und da, so einseitig, mechanistisch. Die revolu- 
tionäre Praxis auf jedem Gebiete des menschli- 
chen Daseins ergibt sich automatisch, wenn man 
die Widersprüche in jedem neuen Prozess er- 
fasst; sie besteht dann in nichts anderem als 
darin, dass man sich auf die Seite derjenigen 
Kräfte stellt, die in der Richtung der vorwärts- 
strebenden Entwicklung wirken, und ihnen zur 
Bewusstwerdung durch praktische Bewältigung 
verhilft. Radikal sein, heisst „die Dinge an der 
Wurzel fassen", sagte Karl Marx; fasst man die 
Dinge an der Wurzel, begreift man ihren wider- 
spruchsvollen Prozess, dann ist die revolutio- 
näre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so 
landet man, ob man will oder nicht, ob man sich 
dialektischer Materialist nennt oder nicht, im 
Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der 
Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise 
ein falsche Praxis. Eine Kritik dieser falschen 
Praxis hat demnach nur dann einen Sinn und 
praktischen Wert, wenn sie in der Lage ist nach- 
zuweisen, wo die Widersprüche der Wirklich- 
keit übersehen wurden. Die marxsche revolutio- 
näre Tat bestand nicht darin, dass er irgendwel- 
che Aufrufe schrieb oder revolutionäre Ziele 
wies, sondern in der Hauptsache darin, dass er 
das Proletariat als die vorwärtsdrängende Kraft 
der Geschichte erkannte und die Widersprüche 
der kapitalistischen Wirtschaft der Wirklich- 
keit entsprechend darstellte, so dass heute jeder 
wissen kann, welche wirtschaftlichen Kräfte 
vorwärts drängen und welche sich dagegen an- 
stemmen. Wenn die Arbeiterbewegung versagte, 

18 



Die Schere 

so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärts- 
entwicklung aufhalten, nicht restlos, wahr- 
scheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht 

erkannt sein. 

Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlich- 
stes Kennzeichen ist, die dialektisch-materiali- 
stische Methode praktisch durch Nichtanwen- 
dung zu negieren, musste daher zur Auffassung 
gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen 
Ausmasses wie die 1929—1933 notwendigerweise 
zu einer ideologischen Linksentwicklung der 
betroffenen Massen führen müsse. Während so- 
gar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von 
einem „revolutionären Aufschwung" in Deutsch- 
land gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, 
dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwar- 
tung nach eine Linksentwicklung der Ideologie 
der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu ei- 
ner extremen Rechtsentwicklung in der Ideolo- 
gie der proletarisierten Schichten und derjeni- 
gen, die in tieferes Elend als bisher versanken, 
geführt hatte. Es ergab sich eine Schere zwi- 
schen der Entwicklung in der ökonomischen Ba- 
sis, die nach links drängte, und der Entwicklung 
der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts 
erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und 
weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage 
nicht gestellt werden, wie ein Nationahstisch- 
werden der breiten Masse in der Paupensierung 
möglich ist. Mit Worten wie „Chauvinismus , 
„Psychose", „Folgen von Versailles", lässt sich 
etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Ver- 
elendung rechtsradikal zu werden nicht prak- 
tisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht 
wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur 

19 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

Kleinbürger, sondern breite und nicht immer 
die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach 
rechts abschwenkten. Man übersah, dass die 
Bourgeoisie, gewarnt durch den Erfolg der rus- 
sischen Revolution, zu neuen, noch nicht ver- 
standenen, von der Arbeiterbewegung unanaly- 
sierten, sehr merkwürdigen Vorbeugungsversu- 
chen greift (etwa der Roosevelt-Plan) ; man 
übersah, dass der Faschismus in seinem Ansatz 
und im Beginne seiner Entwicklung zur Mas- 
senbewegung sich zunächst gegen die Grossbour- 
geoisie richtet und als „nur eine Garde des Fi- 
nanzkapitals" nicht erledigt werden kann, schon 
deshalb nicht, weil er eine Massenbewegung ist. 
Wo hegt das Problem? 

Die Marxsche Grundkonzeption erfasste zu- 
nächst die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft 
und die prozesshafte, notwendige Konzentra- 
tion des Kapitals in wenigen Händen, mit der 
die fortschreitende Verelendung der Mehrheit 
der arbeitenden Menschheit, des Proletariats in 
erster Linie, Hand in Hand geht. Aus diesem 
Prozess leitete Marx die objektive Notwendig- 
keit der „Expropriation der Expropriateure" ab 
Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesell- 
schaft sprengen den Rahmen der Produktions- 
weise, der Widerspruch zwischen gesellschaft- 
licher Produktion und privater Aneignung der 
Produkte durch das Kapital kann nur durch die 
Angleichung der Produktionsweise an den Stand 
der Produktivkräfte gelöst werden. Zur gesell- 
schaftlichen Produktion muss die gesellschaftli- 
che Aneignung der Erzeugnisse hinzukommen 
Der erste Akt dieser Angleichung ist die soziale 
Kevolution; das ist das ökonomische Grund- 
20 



Die Schere 



prinzip des wissenschaftlichen Sozialismus. Die- 
se Angleichung kann nur so erfolgen, dass die 
verelendete Mehrheit die „Diktatur des Prole- 
tariats" errichtet, als Diktatur der Mehrheit der 
Schaffenden über die Minderheit der nunmehr 
enteigneten Besitzer der Produktionsmittel. Die 
ökonomischen Voraussetzungen der sozialen Re- 
volution trafen entsprechen der Theorie von 
Marx zu: Das Kapital ist in wenigen Händen 
konzentriert, die Entwicklung der Nationalwirt- 
schaft zur Weltwirtschaft steht in schärfstem 
Widerspruch zum Zollsystem der nationalen 
Staaten, die kapitalistische Wirtschaft erreicht 
die Produktionskapazität kaum zur Hälfte und 
hat ihre Anarchie restlos enthüllt, die Mehrheit 
der Bevölkerung der hochindustriellen Länder 
ist verelendet, etwa 50 Millionen Menschen sind 
arbeitslos, Hunderte Millionen Schaffender fri- 
sten ein Hungerdasein. Aber die Expropriation 
der Expropriateure bleibt aus, und die Geschich- 
te scheint, im Gegensatz zu den Erwartungen, 
sich am Scheidewege zwischen Sozialismus und 
Barbarei zunächst in der Richtung zur Barbarei 
hinzubewegen, denn nichts anderes ist das inter- 
nationale Erstarken des Faschismus und das Zu- 
rückbleiben der Arbeiterbewegung. Und wer 
noch eine Hoffnung auf einen revolutionären 
Ausgang des kommenden Weltkrieges mit „Si- 
cherheit" setzt, wer sich sozusagen darauf 
yerlässt, dass die Massen die Waffen, die sie 
in die Hand bekommen, gegen den inneren 
Feind wenden werden, der möge zumindest die 
Entwicklung der neueren Kriegstechnik verfol- 
gen und nicht von vornherein einen kürzlich aus- 
gesprochenen Gedankengang verwerfen, dass die 



21 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

Bewaffnung der breiten Masse im nächsten 
Kriege sehr unwahrscheinlich ist. Die krie^er? 
sehen Handlungen würden sich dieser Äuffas" 
sung nach gegen die unbewaffneten Masten der" - 

grossen Industriezentren richten und von wen; I 

gen sehr verglichen und ausgesuchten KrTegs- 
unÄ"? durch g efüh " werden. Im Denken 

etzu^ - egEn UmzuI< ™ »<* daher die Voraus" 
etzung einer neuen sozialistischen Praxis 



s 



2. ÖKONOMISCHE UND IDEOLOGISCHE 
STRUKTUR DER GESELLSCHAFT 

me A rkwürd^ Ser % A u UffaSSUng VOn der zunächs * 
KZh& , >? zwischen ökonomischer 
IrtfrÄ Ide ° lo g'e °er proletarischen und pro- 
Macht "n ^ a ! S f n '., die dem Faschismus zur 
Macht in Deutschland verhalfen, richtig ist so 

— r 7 f t* Hi]fe uns " er diafek^ch- 
iTandelt liA SChen - Meth ° de erfassen könn ™. Es 

fM gewiss T, die Fra s e nach d " Rol- 

.♦.11 Id . e . olo 8 I « und der gefühlsmässigen Ein- 

or um d;:T M t aSS \ n 3,S ««chichtlicfen Fak- 
tors, um die Ruckwirkung der Ideologie auf die 
ökonomische Basis. Wenn die materielle V«? 
elendung breiter Massen nicht zu einer Revolu- 

lonierung im Sinne der proletarischen Revolu- 
tion gefuhrt hat, wenn sich aus der Krise ob 
jektiv gesehen der Revolution konträre Ideolo- 

Idtnl^ T ^ en ' S ° hat die Entwicklung der 
Ideologie der Masse in den letzten Jahren die 
Entfaltung der Produktivkräfte, dierevolutio! 
nare Losung des Widerspruchs zwischen den 



Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

Produktivkräften des monopolistischen Kapita- 
lismus und seiner Produktionsweise gehemmt. 

Die Klassengliederung in Deutschland (nach 
Kunik: „Versuch einer Feststellung der sozia- 
len Gliederung der deutschen Bevölkerung", 
„Die Internationale" 1928,zusammengestellt von 
Lenz: „Proletarische Politik", Internationaler 
Arbeiterverlag 1931) enthüllt folgendes Bild: 

Erwerbstätige m. Familien- 

i. Taus, angeh. i. Mill. 

Proletarier 21,789 40,7 

Stadt. Mittelstand 6,157 10.7 

Klein- und Mittelbauern 6,598 9,0 

Bourgeoisie (einschl. d. Grund- 
besitzer u. Grossbauern) ... 718 2,0 

Bevölkerung (ohne Kinder L 

und Hausfrauen) 34,762 Ges. 62,4 

Schichten des Proletariats: i. Taus. 

Arbeiter in Industrie, Verkehr, Handel etc.... 11,826 

Landarbeiter 2,607 

Heimarbeiter 138 

Hausangestellte 1,326 

Sozialrentner 1,717 

Untere Angestellte (bis 250 Mark monatl.) ... 2,775 

Untere Beamte (-+- Pensionierte) 1,400 

21,789 

Schichten des städtischen Mittelstandes: 
Untere Schichten der Kleingewerbetreibenden 
(Heimgewerbe, Pächter, Alleinbetriebe und 

Betriebe bis zu zwei Beschäftigten) 1,916 

Kleingewerbetreibende mit drei und mehr 

Beschäftigten 1,403 

Höhere Angestellte und Beamte 1,763 

Freie Berufe und Studenten 431 

Kleinrentner und Kleinbesitzer 644 

6,157 

23 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

Mittelschichten auf dem Lande: : Ta „ B 

Kleinbauern und Pächter (bis zu u,t,j\ i aus * 

Mittelbauern (5-50 ha) ... Land) '" *£%% 

Di z"h 1 ung h, 1 e 9 25. entSPreChen d " B -ölk e ru„ g s- W98 

H.V i Ä e u» aber ' daS fflÜSSen wir festhalten, nur 
iL f Un ? . naCh der sozialökonomischen 
df/eini %' n ' Cht d l e ideol °g isc he Schichtung, 
a tn , f', 15 *' Sorialökonomisch umfasste 
also Deutschland 1925: 

BS32S :::::: ^ ' *%^ 

stStt fei? 2f sieht die *^*— 

Pr Arh£ SCh T ^ oll «ktive Produktion; 

« f et . c * " nd Landarbeiter) 14 4« lumi 

Kleinbürgerlich jJJJf JJ ill. 

Heimarbeiter (individuelle ' MlU ' 

Produktion) 13g T 

Hausangestellte (Erfahrun-" 

gen bei Hauspropaganda) 1,326 T 
Sozialrentner .... 17l7 ™ 

Untere Angestellte (Erfahl" ' 
rung aus Grossbetrieben, 
z. B. „Nordstern", Berlin) 2.775 T 
Untere Beamte (z. B. Steuer- 

revisoren, Postbeamte) ... 1,400 T. 

7,356 T. (von ökono- 

Städti scher Mittelstand «STT ProIetariern > 

-Landlicher Mittelstand 6,598 T. 

20,111 T. 
24 



Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

Wieviele Mittelständler auch Linksparteien 
und umgekehrt Proletarier Rechtsparteien ge- 
wählt haben mögen, so fällt doch auf, dass die 
von uns errechneten Zahlen der ideologischen 
Schichtung ungefähr mit den Wahlziffern 1932 
übereinstimmen: Kommunisten und Sozialdemo- 
kraten umfassten zusammen zuletzt 12 bis 13 
Millionen Stimmen, die NSDAP und die 
Deutschnationalen zusammen etwa 19 bis 20 
Millionen. Das spricht dafür, dass praktisch- 
politisch nicht die wirtschaftliche, sondern die 
ideologische Schichtung entschieden hat. Dem 
Mittelstand kommt somit eine höhere Bedeu- 
tung zu, als ihm beigemessen war. 

In die Zeit des rapiden Niedergangs der 
deutschen Wirtschaft 1929—1932 fällt der grosse 
Sprung der NSDAP von 800.000 Stimmen im 
Jahre 1928 auf 6,4 Millionen im Herbst 1930, 
13 Millionen im Sommer 1932 und 17 Millionen 
im Januar 1933. Nach einer Berechnung von 
Jäger („Hitler", „Roter Aufbau", Oktober 1930), 
die ich auf ihre Genauigkeit nicht überprüfen 
konnte, enthielten bereits die 6,4 Millionen na- 
tionalsozialistischen Stimmen etwa drei Millio- 
nen ökonomisch-proletarische, und zwar 60 — 70% 
Angestellte und 30—40% Arbeiter. 

Das Problematische des jüngsten soziologi- 
schen Prozesses erfasste meines Wissens am 
klarsten Karl Radek schon im Jahre 1930 nach 
dem ersten Aufschwung der NSDAP; er 
schrieb : 

„Nichts ähnliches ist in der Geschichte des politi- 
schen Kampfes bekannt, besonders in einem Lande mit 
alter politischer Differenzierung, wo jede neue Partei 
sehr schwer einen Platz an dem durch die alten Par- 

25 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

teien besetzten Tische erkämpfen muss. Es gibt nichts 
charakteristischeres, als dass über diese Partei, die 
den zweiten Platz im deutschen politischen Leben 
einnimmt sowohl in der bürgerlichen wie in der so- 
zialistischen Literatur nichts gesagt worden ist. Das 
ist eine Partei ohne Geschichte, die sich plötzlich im 
politischen Leben Deutschlands emporhebt, wie plötz- 
lich mitten im Meer durch die Wirkung vulkanischer 
Kräfte ein Eiland emportaucht." 

(„Deutsche Wahlen", Roter Aufbau. Okt. 1930). 

Wir zweifeln nicht daran, dass auch dieses 
Eiland seine Geschichte hat und über eine in- 
nere Logik verfügt. 

Die Entscheidung in der Alternative: „Unter- 
gang in der Barbarei", oder: „Aufstieg zum 
Sozialismus", liegt, nach allem, was die Ueberle- 
gung bisher ergibt, daran, ob sich die ideologi- 
sche Struktur der beherrschten Schichten nach 
ihrer ökonomischen Lage ausrichtet, oder ob 
sie auseinanderfallen; sei es in der Form, dass 
die Ausbeutung passiv geduldet wird, wie in 
den grossen asiatischen Gesellschaften, sei es 
in der Form, dass die Ideologie der Mehrheit 
der Unterdrückten der ökonomischen Lage kon- 
trär ist wie heute in Deutschland. 

Das Grundproblem ist also, was das beschrie- 
bene Auseinanderfallen bedingt bezw. den Zu- 
sammenklang von wirtschaftlicher Lage und 
Ideologie verhindert. 

Es kommt also auf die Erfassung des Wesens 
der ideologischen Struktur und ihrer Bezie- 
hung zur ökonomischen Basis, der sie entsprang, 

Um dies zu begreifen, müssen wir uns zu- 
nächst von einigen vulgärmarxistischen Auffas- 
sungen befreien, die den Weg zum Verständnis 
26 



Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

des Faschismus versperren. Es sind im wesent- 
lichen folgende: 

Der Vulgärmarxismus trennt schematisch 
das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche 
Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, 
dass die Ideologie und das „Bewusstsein" der 
Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein 
und unmittelbar bestimmt werden. So gelangt 
er zu einer mechanischen Gegenüberstellung 
von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und 
Ueberbau; er macht die Ideologie schematisch 
und einseitig abhängig von der Wirtschaft und 
übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung 
der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem 
Grunde ist ihm das Problem der sogenannten 
„Rückwirkung der Ideologie" verschlossen 
Obwohl er nun vom „Zurückbleiben des subjek- 
tiven Faktors", wie ihn Lenin verstand, spricht, 
kann er dieses Zurückbleiben nicht praktisch 
bewältigen, weil er ihn früher aus der wirt- 
schaftlichen Situation einseitig hervorgehen 
Hess, ohne erstens die Widersprüche der Oeko- 
nomie in der Ideologie aufzusuchen, und zwei- 
tens ohne die Ideologie als geschichtliche Kraft 
zu erfassen. 

In der Tat sträubt er sich gegen die Er- 
fassung der Struktur und Dynamik der Ideolo- 
gie, indem er sie als „Psychologie", die un- 
marxistisch sei, abtut, und überlässt die Hand- 
habung des subjektiven Faktors, des sogenann- 
ten „Seelenlebens" in der Geschichte, dem me- 
taphysischen Idealismus der politischen Reak- 
tion, den Gentile und Rosenberg, die den 
„Geist" und die „Seele" allein Geschichte ma- 
chen lassen, womit sie merkwürdigerweise sogar 

27 






Die Ideologie als materielle Gewalt 

Erfolg haben. Die Vernachlässigung dieser Seite 
des historischen Materialismus ist ein Vorgehen, 
das Marx seinerzeit prinzipiell schon am Ma- 
terialismus des 18. Jahrhunderts kritisierte. Dem 
Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein 
von vornherein metaphysisches System und er 
denkt nicht daran, den metaphysischen Charak- 
ter der bürgerlichen Psychologie von ihren 
materialistischen Grundelementen, die die bür- 
gerliche psychologische Forschung erbringt und 
die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen. 
Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, 
und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsa- 
chen wie „Trieb", „Bedürfnis" oder „seelischer 
Prozess" als „idealistisch" verwirft. Er gerät 
dadurch in grösste Schwierigkeiten und erntet 
nur Miserfolge, weil er gezwungen ist, in der 
politischen Praxis unausgesetzt praktische Psy- 
chologie zu betreiben, von den Bedürfnissen 
der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, 
vom Streikwillen etc. zu sprechen. Je mehr er 
nun die Psychologie leugnet, desto mehr be- 
treibt er selbst metaphysischen Psychologis- 
mus und schlimmeres, wie öden Coueismus, etwa 
indem er eine historische Situation aus der „Hit- 
lerpsychose" erklärt oder die Massen tröstet, sie 
sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz 
alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht 
niederringen u. s. f. Er versinkt schliesslich 
darin, illusionär Mut einzupumpen, ohne in 
Wirklichkeit etwas sachliches zur Situation zu 
sagen, ohne zu begreifen, was vorgegangen ist. 
Dass es für die Bourgeoisie nie eine ausweglose 
Situation gibt, dass eine scharfe ökonomische 
Krise ebensogut zum Sozialismus wie in die 
28 



Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

Barbarei führen kann, muss ihm als Problem 
ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Statt aus 
der Wirklichkeit Gedanken und Tat abzuleiten, 
formt er die Wirklichkeit in der Phantasie so 
um, wie es seinen Wünschen entspricht. 

Die dialektisch-materialistische Psychologie 
kann nichts anderes sein als die Forschung nach 
diesem subjektiven Faktor der Geschichte, nach 
der ideologischen Struktur der Menschen einer 
Epoche und der ideologischen Struktur der Ge- 
sellschaft, die sie bilden. Sie stellt sich nicht 
wie die bürgerliche Psychologie und die psy- 
chologistische Oekonomie der Marxschen So- 
ziologie gegenüber, indem sie ihr eine „psycho- 
logische Auffassung" des Gesellschaftlichen 
entgegensetzt, sondern sie ordnet sich ihr, die 
das Bewusstsein aus dem Sein ableitet, an einer 
ganz bestimmten Stelle unter und ein. 

Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle 
(das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in 
Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich 
umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens, 
wie das geschieht, was dabei „im Menschen- 
kopfe" vorgeht, zweitens wie das so entstandene 
Bewusstsein (wir werden von nun an von psy- 
chischer Struktur sprechen) auf den ökonomi- 
schen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt 
die analytische Psychologie aus, indem sie den 
Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, 
der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und 
somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst. 
Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. 
Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klas- 
sengesellschaft oder die kapitalistische Produk- 
tionsweise erklären (sofern sie solches versucht, 

29 



Die IdeoI °&ie als materielle Gewalt 
kommt regM„i g reaktionärer Unsinn heraus, 

S^S ÄÄ e ausschal - 

Sie knüpft dabei an Marx selbst an: 

^ÄfidÄI denen wir ^einnen, sind 
Voraussetzungen v„nj Do S men < « s sind wirkliche 
düng abstrahlen kann Fe" TJ* - in der EinbiI - 

£%SS SH^ «e^eoet 
Produkt^ frtelSÄ^^^ .T"* 11 «' 

auf sie einwirken." (Theorien &££*&&"* 



f-rw,- .V'" uc , r oestimmend 
(Theorien über den Mehrwert 
1905, I, S. 388 f). 



Wir sagen also keine Neuigkeiten und ra- 
dieren nicht Marx, wie wir sicher zu hören he" 
kommen werden: „Alle menschlichen %&£. 






Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

nisse" — dazu gehören die Verhältnisse des Ar- 
beitsprozesses ebenso wie die persönlichsten und 
privatesten und die höchsten Sublimierungen 
des menschlichen Trieblebens und Denkens, also 
auch etwa das Geschlechtsleben der Frauen und 
Jugendlichen und Kinder ebenso wie der Stand 
der marxistischen Forschung über diese Verhält- 
nisse und ihre Anwendung auf neue gesellschaft- 
liche Fragen. Hitler vermochte mit einer be- 
stimmten Art dieser menschlichen Verhältnisse 
Geschichte zu machen, die durch Verlachen 

E£ ke^eS "f ™ f**" ist " wÄS 
Marx keine Sexualsoziologie entwickelt hat und 

nicht entwickeln konnte, weil es damals keine 
Sexualwissenschaft gab, so kommt es darauf an 
nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch 
diese Verhältnisse in das Gebäude des histor" 
sehen Materialismus einzubauen, die Hegemonie 
der Mystiker und Metaphysiker über dieses 
Gebiet zu zerstören. 

Wenn eine Ideologie auf den wirtschaftlichen 
Prozess ruckwirkt, muss sie zu einer materiellen 
Kraft geworden sein. Wenn eine Ideologie zur 
materiellen Kraft wird, sobald sie Massen er- 
greift, so müssen wir weiter fragen: Auf wel- 
chem Wege geschieht das? Wie wird die ma- 
terielle Auswirkung eines ideologischen Tat- 
bestandes möglich, also etwa einer Theorie, die 
geschichtsumwälzend wirkt? Die Antwort auf 
diese Frage muss gleichzeitig die Antwort auf 
die Frage nach der Praxis der Massenpsycholo- 
gie sein. 

Die Ideologie jeder gesellschaftlichen Forma 
tion hat nicht nur die Funktion, den ökonomi- 
schen Prozess dieser Gesellschaft zu spiegeln, 

31 



SSS3BS 



Ti 



Die Ideologie als materielle Gewalt 



sondern vielmehr auch die, ihn in den psychi- 
schen Strukturen der Menschen dieser Gesell- 
schaft zu verankern. Die Menschen unterliegen 
ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: di- 
rekt der unmittelbaren Einwirkung ihrer öko- 
nomischen und sozialen Lage, und indirekt ver- 
mittels der ideologischen Struktur der Gesell- 
schaft; sie müssen also immer einen Wider- 
spruch in ihrer psychischen Struktur ent- 
wickeln, der dem Widerspruch zwischen der 
Einwirkung durch ihre materielle Lage und der 
Einwirkung durch die ideologische Struktur 
der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa 
ist sowohl seiner Klassensituation wie der all- 
gemeinen Ideologie der bürgerlichen Gesell- 
schaft ausgesetzt. Indem die Menschen der ver- 
schiedenen Schichten aber nicht nur Objekte 
dieser Einwirkungen sind, sondern sie auch als 
tätige Subjekte reproduzieren, muss ihr Denken 
und Handeln ebenso widerspruchsvoll sein, wie 
die Gesellschaft, der es entspringt. Indem aber 
eine Ideologie die psychische Struktur der Men- 
schen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen 
Menschen reproduziert, sondern was bedeutsa- 
mer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret 
veränderten und infolgedessen verändert und 
widerspruchsvoll handelnden Menschen zur ak- 
tiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden. 
Auf diese Weise wird die Rückwirkung der 
Ideologie einer Gesellschaft auf die ökonomi- 
sche Basis, der sie entsprang, möglich, und nur 
auf diese Weise. Die „Rückwirkung" verliert 
ihren anscheinend metaphysischen oder psycho- 
logistischen Charakter, wenn sie in ihrer ma- 
teriellen Gegebenheit als psychische Struktur 

32 



te 




Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft 

des handelnden Menschen erfasst werden kann. 
Als solche ist sie dann Objekt der naturwissen- 
schaftlichen, d. h. marxistischen Psychologie. 
Die Feststellung, dass sich die Ideologie 
langsamer umwälzt als die ökonomische Basis, 
erfahrt hier bestimmte Präzision. Da die psy- 
chischen Strukturen, die einer bestimmten hi- 
storischen Situation entsprechen, in der frühen 
Kindheit in den Grundzügen formiert werden 
und einen weit konservativeren Charakter haben 
als die technischen Produktivkräfte, so ergibt 
sich dass mit der Zeit die psychischen Struktu- 
ren hinter der Entwicklung der Seinsverhält- 
nisse, denen sie entsprangen und die sich rasch 
weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den 
spateren Lebensformen in Konflikt geraten 
müssen. Das ist der Grundzug des Wesens der 
sogenannten Tradition, die wir aber dadurch 
noch nicht inhaltlich begreifen. 



3. DIE FRAGESTELLUNG DER MASSEN- 
PSYCHOLOGIE 
Wir haben bisher gesehen, dass die wirt- 
schaftliche und ideologische Situation der Mas- 
sen sich nicht decken müssen und sogar be- 
trächtlich auseinanderfallen können. Wir müs- 
sen nun weiter feststellen, dass die ökonomi- 
sche Lage sich nicht unmittelbar und direkt in 
politisches Bewusstsein umsetzt. Wäre das der 
Fall, die soziale Revolution wäre längst da. Ent- 
sprechend diesem Auseinanderfallen von ökono- 
mischer Lage und Ideologie oder politischem 
Bewusstsein muss die Untersuchung der Wirk 

33 



■M 




Die Ideologie als materielle Gewalt 

lichkeit eine doppelte sein: Ungeachtet der Tat- 
sache, dass sich die Ideologie grob gefasst aus 
dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss die 
wirtschaftliche Situation mit anderer Frage- 
stellung erfasst werden als die ideologische 
Struktur: jene sozialökonomisch, diese psycho- 
logisch. Wir wollen das Gesagte an einem ein- 
fachen Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die 
infolge Lohndrucks hungern, streiken, so er- 
gibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirt- 
schaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hun- 
gernden, der stiehlt. Zur Erklärung des Dieb- 
stahls aus Hunger oder des Streiks aus der Aus- 
beutung bedarf es keiner weiteren psychologi- 
schen Erklärung. In diesem Falle entsprechen 
Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichen 
Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken 
sich. Die bürgerliche Psychologie pflegt in 
diesem Falle psychologisch erklären zu wollen, 
aus welchen angeblich irrationalen Motiven ge- 
stohlen oder gestreikt wird, was immer zu re- 
aktionären Erklärungen führt. Für die dialek- 
tisch-materialistische Psychologie steht die 
Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hun- 
gernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete 
streikt, ist zu erklären, sondern warum die 
Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die 
Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt. Die 
Sozialökonomie erklärt also einen gesellschaft- 
lichen Tatbestand restlos dann, wenn das Han- 
deln und Denken rational-zweckmässig ist, d. h. 
der Bedürfnisbefriedigung dient und die ökono- 
mische Situation unmittelbar wiedergibt und 
fortsetzt. Sie versagt, wenn das Denken und 
Handeln der Menschen der ökonomischen Si- 

34 



Die Fragestellung der Massenpsychologie 

tuation widerspricht, also irrational ist. Der 
Vulgärmarxismus und der Ökonomismus, die die 
Psychologie nicht anerkennen, stehen einem sol- 
chen Widerspruch hilflos gegenüber. Je mecha- 
nistischer , ökonomistischer der vulgäre Marxist 
ist, je mehr er die Psychologie des Menschen 
leugnet, desto mehr verfällt er dem oberfläch- 
lichsten Psychologismus in der Praxis der Mas- 
senpropaganda, indem er, statt den psychischen 
Widerspruch im Massenindividuum zu erraten 
und zu beseitigen, öden Coueismus betreibt oder 
die nationalistische Bewegung aus einer „Mas- 
senpsychose" erklärt. Die Fragestellung der 
marxistischen Massenpsychologie setzt also ge- 
rade dort an, wo die unmittelbare sozialökono- 
mische Erklärung versagt. Stellt sich die Mas- 
senpsychologie dadurch in Gegensatz zur So- 
zialökonomie? Nein. Um es vorwegzunehmen: 
das irrationale, also der unmittelbaren sozialöko- 
nomischen Situation widersprechende Denken 
und Handeln der Massen ist selbst die Folge 
einer früheren, älteren sozialökonomischen Si- 
tuation. Man pflegt die Hemmung der Entwick- 
lung des revolutionären Bewusstseins aus der 
sogenannten Tradition zu erklären. Es ist aber 
bisher nicht untersucht worden, was das ist: 
„Tradition", an welchen materiellen, psychi- 
schen Tatbeständen sie sich abspielt. Der Öko- 
nomismus hat bisher übersehen, dass die we- 
sentlichste Frage nicht die ist, dass und wie 
Klassenbewusstsein beim Werktätigen vorhan- 
den ist (das ist selbstverständlich!), sondern 
was die Entwicklung des Klassenbewusstseins 
hemmt. 

Die Ablehnung der psychologischen Beobach- 



35 



i 




Die Ideologie als materielle Gewalt 

tung und Praxis in der proletarischen Politik 
ergab bisher in den Diskussionen eine unproduk- 
tive politische Fragestellung. Die Kommunisten 
erklärten z. B. die Machtergreifung durch den 
Faschismus aus der illusionären, irreführenden 
Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung 
führt im Grunde in eine Sackgasse, denn es ist 
ja eben die Funktion der Sozialdemokratie, als 
objektive Stütze des Kapitalismus, Illusionen zu 
verbreiten. Das wird sie immer tun, solange sie 
besteht. Diese Erklärung ergibt keine neue 
Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, 
die politische Reaktion hätte in Gestalt des 
Faschismus die Massen „vernebelt", „verführt** 
und „hypnotisiert". Das ist und bleibt die Funk- 
tion des Faschismus, solange er existiert. Es 
ist unproduktiv, weil es keinen Ausweg zeigt, 
die Politik nur auf die objektive Funktion einer 
kapitalistischen Partei, nämlich Stütze der ka- 
pitalistischen Herrschaft zu sein, zu begründen. 
Man muss natürlich die objektive Funktion der 
Sozialdemokratie und des Faschismus enthüllen. 
Die Erfahrung lehrt aber, dass die tausendfäl- 
tige Enthüllung dieser Rolle die Massen nicht 
überzeugte, dass also die sozialökonomische 
Fragestellung allein nicht genügt. Liegt nicht 
nahe zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass 
sie diese Rolle nicht erkennen konnten und woll- 
ten? Mit der typischen Auskunft „Die Arbeiter 
müssen nun erkennen ..." oder „Wir haben es 
nicht verstanden ..." ist nicht gedient. Warum 
erkennen die Arbeiter nicht und warum haben 
wir nicht verstanden? Als unproduktive Frage- 
stellung ist z. B. auch jene zu betrachten, die 
der Diskussion zwischen der rechten Opposition 

36 






Die Fragestellung der Massenpsychologie 

und der Komintern zugrundelag. Die Rechten 
behaupteten, die Arbeiter seien nicht kampfge- 
willt, die „Linie" dagegen behauptete, das sei 
falsch, die Arbeiter seien revolutionär und die 
Behauptung der Rechten bedeute Verrat am re- 
volutionären Gedanken. Beide Fragestellungen 
waren, weil sie ein Entweder — Oder darstell- 
ten, mechanisch, undialektisch. Der Wirklich- 
keit hätte entsprochen festzustellen, dass der 
durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch, 
gleichzeitig die Gegensätze von revolutionärer 
Einstellung und bürgerlicher Hemmung (z. B. 
Führerbindung des sozialdemokratischen Arbei- 
ters) in sich trägt, dass er also weder eindeutig 
revolutionär, noch eindeutig bürgerlich ist, son- 
dern in einem Konflikt steht: seine psychische 
Struktur leitet sich einerseits aus seiner Klas- 
senlage ab, die revolutionäre Einstellungen an- 
bahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre 
der bürgerlichen Gesellschaft, was einander 
widerspricht. 

Es ist nicht nur entscheidend, einen solchen 
Widerspruch zu sehen, sondern auch zu er- 
fahren, worin sich konkret das Bürgerliche und 
das Klassenmässige im Arbeiter darstellt. Die 
gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für 
den Mittelständler. Dass er in der Krise gegen 
das „System** rebelliert, verstehen wir unmit- 
telbar. Dass er aber, obwohl bereits ökonomisch 
proletarisiert, trotzdem das Absinken ins Pro- 
letariat fürchtet und extrem reaktionär wird, 
ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu ver- 
stehen. Auch er hat also einen Widerspruch in 
sich zwischen rebellierendem Fühlen und reak- 
tionären Zielen und Inhalten. 

37 



«I 









Die Ideologie als materielle Gewalt 



Wir erklären z. B. einen Krieg soziologisch 
nicht vollständig, wenn wir die besonderen öko- 
nomischen und politischen Gesetze aufdecken, 
die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die 
deutschen Annexionstendenzen, die sich vor 
1914 auf die Erzbecken von Briey und Longy, 
auf das belgische Industriegebiet, auf die Er- 
weiterung des Kolonialbesitzes in Vorderasien 
etc. richteten. Die ökonomischen Widersprüche 
des deutschen Imperialismus waren zwar der 
entscheidende aktuelle Faktor, aber wir müssen 
auch die massenpsychologische Basis des Welt- 
krieges einordnen, wir müssen fragen, warum 
der massenpsychologische Boden fähig war, die 
imperialistische Ideologie aufzusaugen, die im- 
perialistischen Parolen in Tat umzusetzen. Man 
beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend, 
wenn man den Umfall der Führer der II. Inter- 
nationale dafür allein verantwortlich macht. 
Warum Hessen sich die Millionenmassen der 
sozialistisch und antiimperialistisch gesinnten 
Arbeiter verraten? Die Angst vor den Folgen 
der Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei 
einer Minderzahl in Betracht. Wer die Mobili- 
sierung 1914 mitgemacht hat, weiss, dass sich 
in den proletarischen Massen verschiedenartige 
Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung 
bei einer Minderheit angefangen über eine 
merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder 
eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis 
zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mit- 
telschichten, sondern weit hinein in proletari- 
sche Kreise. Die Stumpfheit der einen wie die 
Begeisterung der anderen waren fraglos massen- 
strukturelle Fundierungen des Krieges. Diese 

38 



Die Fragestellung der Massenpsychologie 

massenpsychologische Fundierung des Welt- 
krieges muss unter dem Gesichtspunkt entlarvt 
werden, dass die imperialistische Ideologie der 
Hochfinanz zu einer materiellen Kraft nur da- 
durch werden konnte, dass sie die Strukturen 
der werktätigen Massen konkret im Sinne des 
Imperialismus veränderte, dass es allgemeine 
Prinzipien der Klassengesellschaft waren, die 
den Krieg ermöglichten, Prinzipien, die man mit 
der Auskunft, dass es sich um eine „Kriegspsy- 
chose" oder eine „Massenvernebelung" handelte, 
nicht abtun kann. Es würde einen Widerspruch 
zur marxistischen Theorie des Klassenbewusst- 
seins bedeuten, wenn man die Massen auf der an- 
deren Seite derart einschätzen würde, dass sie 
einer blossen Vernebelung zugänglich seien. Es 
handelt sich offenbar um die grosse Frage, dass 
jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen 
ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, 
die sie für ihre Hauptziele braucht. 1 ) Ohne 
diese massenpsychologisch zu erforschenden 

1) „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in 
jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die 
Klasse, welche die herrschende materielle Macht der 
Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige 
Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Pro- 
duktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zu- 
gleich über die Mittel zur geistigen Produktion, sodass 
ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken de- 
rer, denen die Mittel zur geistigen Produktion ab- 
gehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken 
sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herr- 
schenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken 
gefassten. herrschenden materiellen Verhaltnisse: also 
die Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herr- 
schenden machen, also die Gedanken ihrer Herr- 
schaft." (Marx). 

39 















1 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

Strukturen wäre der Krieg nicht möglich gewe- 
sen. Es muss eine wichtige Korrelation besfenTn 
zwischen der ökonomischen Struktur einer Ge" 
Seilschaft und der massenpsychologischen Struk- 
tur ihrer Mitglieder ; nicht nur in dem S nne I 
dass die herrschenden Ideologien die Ideologfen 
der herrschenden Klasse sind, sondern, wa S g ur 
die Losung von praktischen Fragen der Politik 
bedeutsamer ist : auch die Widersprüche der ökö 
nomischen Struktur einer Gesellschaft müssen 

UnterH . m t S / 5enpSyCh0l °S ischen Strukturen der 
" *t en ^präsentiert sein. Anders wäre 

einer rTu^'u ^ die ökon °™schen Gesetze 
hJJ" ^ Se,Iscl J a . ft nur dur ch die „Aktion", das 
he.sst die psychischen Strukturen der ihnen u„- f 

terworfenen Massen zur konkreten Auswirkung 
gelangen können. e 

H,.? w? r 2i?*f ^f Bewe S un g wusste zwar von | i 

FaktoT^ g "r- eit t S J° Senannten subjektiven 
Faktors der Geschichte" (bei Marx ist im Ge- 
gensatz zum mechanischen Materialismus der 

e^fa n s S s C t und £^ *T GeSChkhte ™ Prin Ä 
erfasst und Lemn baute gerade diese Seite des 

Marxismus aus) ; woran es mangelte, war die 

Handelns, anders ausgedrückt, des Auseinander- 
fallens von Ökonomie und Ideologie. Wir müssen 
erklaren können, wie es möglich wurde das« 
Mystik über wissenschaftliche Soziologie <re 
siegt hat. Diese Aufgabe kann nur dann geleistet 
werden, wenn unsere Fragestellung derart ist 
dass sich aus der Erklärung automatisch neue 

Sil 8 3?* , W , enn d ! r Werktäti Se weder ein- 
deut.g bürgerlich noch eindeutig revolutionär 
ist. sondern in einem Widerspruch zwischen 
in 



Die Fragestellung der Massenpsychologie 

reaktionären und revolutionären Strebungen 
steht so muss sich, wenn wir diesen Wider- 
spruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis er- 
geben, die den konservativen psychischen Kräf- 
ten die revolutionären entgegensetzt. Die Mystik 
ist reaktionär, der bürgerliche Mensch ist mys- 
tisch Wenn man die Mystik verlacht, als Ver- 
nehmung oder als Psychose unerklärt abtut, so 
geht keine Praxis gegen die Mystik daraus her- 
vor Wenn man aber die Mystik materialistisch 
erklären kann, so muss sich zwangsläufig ein 
politisches Gegengift gegen sie ergeben Um 
aber diese Aufgabe zu leisten, müssen die Be- 
ziehungen zwischen sozialer Lage und Ideolo- 
giebi düng, im besonderen die nicht unmittelbar 
sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen so 

weit die Erkenntnismittel reichen, erfasst wer- 
den. 



4. DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION 

DER SEXUALUNTERDRÜCKUNG 
i Schon Lenin war ein merkwürdiges, irrationa- 
les Verhalten der Massen vor Aufständen oder 
im Prozess des Aufstandes aufgefallen. Er be- 
richtet über die Soldatenaufstände 1905 in Russ- 



land: 



„Der Soldat war voller Sympathie für die Sache des 
dauern; seine Augen glühten auf bei der blossen Er- 
wähnung von Land. Mehrfach war die Macht bei den 
Truppen in die Hände der Soldaten übergegangen 
doch hat es fast nie eine geschlossene Ausnutzung 
dieser Macht gegeben; die Soldaten schwankten- ei 
nige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhassten 



41 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen 
in Freiheit, traten in Verhandlungen mit den Behör- 
den und Hessen sich dann erschiessen, legten sich un- 
ter die Ruten, Hessen sich wieder ins Joch spannen " 
(„Ueber Religion", S. 65, Verl. f. Lit. u. Pol.) 

Der Mystiker jeder Art wird derartiges Ver- 
halten aus der ewig sittlichen Natur des Men- 
schen erklären, die eine Rebellion gegen die 
göttliche Einrichtung des Privateigentums und 
der Autorität des Staates und seiner Vertreter 
verhindere; der Vulgärmarxist geht an derarti- 
gen Erscheinungen achtlos vorbei, und er hätte 
auch weder ein Verständnis noch eine Erklärung 
für sie, weil sie unmittelbar ökonomisch nicht 
zu erklären sind. Die Freudsche Auffassung v « 

kommt dem Tatbestand beträchtlich näher, wenn 
sie in solchem Verhalten die Wirkung eines aus 
der Kindheit der Menschen stammenden Schuld- 
gefühls Vatergestalten gegenüber erkennt. Sie 
bleibt uns nur die Auskunft über die soziolo- 
gische Herkunft und Funktion dieses Verhal- 
tens schuldig und führt daher auch zu keiner 
praktischen Lösung. Sie übersieht auch den Zu- 
sammenhang mit der Art des Geschlechtslebens 
der breiten Massen. 

Zur Klärung der Frage, wie wir an die Er- 
forschung derartiger massenpsychologischer 
Erscheinungen irrationaler Art herantreten kön- 
nen, ist ein kurzer Ueberblick über die an an- 
deren Stellen ausführlich behandelte — Frage- 
stellung der Sexualökonomie notwendig. 

Die Sexualökonomie ist eine Forschungs- 
richtung, die sich seit einigen Jahren an der 
Soziologie des menschlichen Geschlechtslebens 
durch Anwendung des dialektischen Materialis- 
42 



L 



D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

mus auf dieses Gebiet formiert und bereits über 
eine Reihe neuartiger Feststellungen verfügt. 
Sie geht von folgenden Voraussetzungen aus. 

Marx fand das gesellschaftliche Leben be- 
herrscht von den Bedingungen der wirtschaft- 
lichen Produktion und den aus ihnen von einem 
bestimmten Zeitpunkt der Geschichte ab hervor- 
gehenden Klassenkämpfen. Die Beherrschung 
der unterdrückten Klasse durch die Besitzer der 
Produktionsmittel bedient sich nur selten der 
Mittel der brutalen Gewalt ; ihre Hauptwaffe ist 
die ideologische Macht über die Unterdrückten, 
die den Staatsapparat mächtig stützt. Dass Marx 
als erste Voraussetzung der Geschichte und Po- 
litik den lebendigen, produzierenden Menschen 
mit seiner psychischen und physischen Beschaf- 
fenheit setzte, haben wir bereits gehört. Die 
Struktur des handelnden Menschen, der sog. 
„subjektive Faktor der Geschichte", blieb uner- 
forscht, weil Marx Soziologe und nicht Psycho- 
loge war, und weil es damals keine naturwissen- 
schaftliche Psychologie gab. Das Problem, aus 
welchem Grunde sich die Menschen die Aus- 
beutung, moralische Erniedrigung, kurz die 
Sklaverei seit Jahrtausenden gefallen lassen, blieb 
unbeantwortet; ermittelt war nur der ökonomi- 
sche Prozess der Gesellschaft und der Mechanis- 
mus der privatwirtschaftlichen Ausbeutung. 

Ein knapp halbes Jahrhundert später entdeck- 
te Freud mit einer speziellen Methode, die er 
Psychoanalyse nannte, den Prozess, der das See- 
lenleben beherrscht. Seine wichtigsten Ent- 
deckungen, die auf eine grosse Reihe bisheriger 
Anschauungen verheerend und an sich umstürz- 



43 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

lerlisch wirkten, was ihm anfangs den Hass der 
Welt eintrug, sind folgende.*) 

Das Bewusstsein ist nur ein kleiner Teil des 
Seelischen ; es wird selbst dirigiert von seelischen 
Prozessen, die unbewusst ablaufen und deshalb 
der Kontrolle des Bewusstseins nicht zugäng- 
lich sind; jedes scheinbar noch so sinnlose psy- 
chische Geschehen, wie der Traum, die Fehl- 
leistung, die absurden Äusserungen der seelisch 
Kranken und Geistesgestörten etc., hat eine 
Funktion und einen „Sinn" und lässt sich restlos 
verstehen, wenn man es in die Entwicklungs- 
geschichte des betreffenden Menschen einzuord- 
nen vermag. Dadurch reihte sich die Psycholo- 
gie, die bis dahin entweder als eine Art Physik 
des Gehirns („Hirnmythologie") oder als Lehre 
von einem mysteriösen objektiven Geist vege- 
tierte, in die Reihe der Naturwissenschaften ein. 
Die zweite grosse Entdeckung war die, dass 
schon das kleine Kind eine lebhafte Sexualität 
entwickelt, die nichts mit der Fortpflanzung zu 
tun hat, dass also Sexualität und Fortpflanzung 
sexuell und genital nicht dasselbe seien; die 
analytische Zerlegung der psychischen Prozesse 
wies ferner nach, dass die Sexualität bezw. deren 
Energie, die Libido, aus körperlichen Quellen 
stammend, der zentrale Motor des Seelenlebens 
ist, sobald sie in Konflikt mit realen Bedingun- 
gen des Daseins gerät. Biologische Vorausset- 
zungen und soziale Bedingungen des Lebens 
treffen also im Seelischen aufeinander. 

*) Eine ausführlichere Darstellung findet sich vom 
marxistischen Standpunkt in Reich: „Dialektischer 
Materialismus und Psychoanalyse", („Unter dem Ban- 
ner des Marxismus", 1929). 

44 



L 



D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

Die dritte grosse Entdeckung war, dass die 
kindliche Sexualität, zu der auch das meiste und 
wesentlichste an der Kind-Eltern-Beziehung 
(„Oedipuskomplex") gehört, gewöhnlich aus 
Angst vor Strafe für sexuelles Tun und Denken 
(im Kern „Kastrationsangst") verdrängt wird, 
das heisst von der Aktion ausgesperrt und in 
der Erinnerung ausgelöscht wird. Die Ver- 
drängung der kindlichen Sexualität entzieht sie 
also der Herrschaft des Bewusstseins, nimmt ihr 
aber nicht ihre Kraft, erhöht sie vielmehr und 
befähigt sie derart, sich in verschiedenen krank- 
haften Störungen des Seelenleben zu äussern. 
Da es kaum eine Ausnahme von dieser Regel 
beim Kulturmenschen gibt, konnte Freud sagen, 
dass er die ganze Menschheit zum Patienten 
habe. 

Die vierte hier wichtige Entdeckung war, dass 
die moralischen Instanzen im Menschen, weit 
entfernt davon, überirdischer Herkunft zu sein, 
sich zentral aus den Erziehungsmassnahmen der 
Eltern und ihrer Vertreter in frühester Kindheit 
ableiten. Im Kern dieser Erziehungsmassnahmen 
wirken diejenigen, die sich gegen die Sexualität 
des Kindes richten. Der Konflikt, der sich ur- 
sprünglich zwischen den Wünschen des Kindes 
und den Verboten der Eltern abspielt, setzt sich 
später als Konflikt zwischen Trieb und Moral 
innerhalb der Person fort. Die moralischen In- 
stanzen, die selbst unbewusst sind, wirken sich 
beim Erwachsenen gegen die Erkenntnisse der 
Gesetze der Sexualität und des unbewussten 
Seelenlebens aus; sie unterstützen die Sexual- 
verdrängung („Sexualwiderstand") und erklären 



45 



7 



Die Ideologie als materielle Gewalt ^ 

den Widerstand der Welt gegen die Entdeckung 
der kindlichen Sexualität. 

Jede dieser Entdeckungen (.wir nannten nur 
die für unser Thema wichtigsten) bedeutete 
schon durch ihre Existenz einen schweren * 

Schlag gegen die bürgerliche Moralphilosophie 
und insbesondere gegen die Religion, die ewige 
sittliche Werte verteidigten, einen objektiven 
Geist die Welt beherrschen Hessen und die kind- 
liche Sexualität leugneten, sowie die Geschlecht- 
lichkeit auf die Fortpflanzungsfunktion eineng- 
ten. Diese Entdeckungen konnten bisher ihre 
Wirkung nicht entfalten, weil die psychoanaly- 
tische Soziologie, die sich darauf aufbaute, zum 
grössten Teile ihnen wieder nahm, was sie an 
fortschrittlichem und umstürzlerischem gegeben 
hatten. Hier ist nicht der Ort, dies zu beweisen. 
Die analytische Soziologie versuchte die Gesell- 
schaft wie ein Individuum zu analysieren, setzte 
einen absoluten Gegensatz von Kulturprozess 
und Sexualbefriedigung, fasste die destruktiven 
Triebe als ursprüngliche, biologische Gegeben- 
heiten auf, die das menschliche Geschick unaus- 
rottbar beherrschen, leugnete die mutterrecht- 
liche Urzeit und landete in einer lähmenden 
Skepsis, weil sie vor den Konsequenzen der eige- 
nen Entdeckungen zurückschrak. Heute steht sie 
Bestrebungen, diese Konsequenzen zu ziehen, 
feindlich gegenüber, und ihre Vertreter erwei- 
sen sich im Kampfe gegen diese Bestrebungen 
keineswegs inkonsequent. Das ändert nichts da- 
ran, dass wir die grossen Freudschen Ent- 
deckungen gegen jeden Angriff, von welcher 
Seite immer er kommen mag, aufs schärfste zu 
verteidigen entschlossen sind. 
46 









D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

Die Fragestellung der Sexualökonomie, die 
von diesen Entdeckungen ausging, ist nicht 
einer der üblichen Versuche, Marx durch Freud 
oder Freud durch Marx zu ersetzen, zu ergänzen, 
sie zu vermengen etc. (von der dialektisch-mate- 
rialistischen Kritik der psychoanalytischen The- 
orie sehen wir dabei ab). Wir haben früher die 
Stelle im historischen Materialismus angegeben, 
an der die Psychoanalyse eine wissenschaftliche 
Funktion zu erfüllen hat, die die Sozialökono- 
mie nicht zu leisten vermag: die Erfassung der 
Struktur und Dynamik der Ideologie, nicht 
deren historischen Bodens. 

Die Psychoanalyse ist in ihrem klinischen 
Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch- 
materialistischen Psychologie. Durch Einbezie- 
hung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie 
auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirk- 
lichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich 
der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist. 
Dass sie nicht sofort billige praktische Rat- 
schläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte 
Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit 
allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissen- 
schaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur 
ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, 
sie als ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexuali- 
tät erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als 
wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrech- 






nen. . 

Es ergibt sich daraus von selbst, das die Wis- 
senschaft der Sexualökonomie, die sich auf dem 
soziologischen Fundament von Marx und dem 
psychologischen von Freud aufbaut, eine im 
wesentlichen massenpsychologische und sexual- 

47 



Die Ideologie als materielle Gewalt 






soziologische zugleich ist. Sie beginnt dort, wo, 
nach Ablehnung der idealistischen Soziologie 
und Kulturphilosophie Freuds, 1 ) die klinisch- 
psychologische Fragestellung der Psychoanalyse 
endet. 

Die Psychoanalyse enthüllt uns die Wirkun- 
gen und Mechanismen der Sexualunterdrückung 
und -Verdrängung und deren krankhafte Folgen. 
Die Sexualökonomie setzt fort: Aus welchem 
soziologischen Grunde wird die Sexualität von 
der Gesellschaft unterdrückt und vom Indi- 
viduum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche 
sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die 
mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen 
ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus; 
die Freudsche Kulturphilosophie behauptet, dies 
geschehe um der „Kultur" willen; man wird 
skeptisch und fragt sich, warum denn die Ona- 
nie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr 
der Puberilen die Errichtung von Tankstellen 
und die Erzeugung von Flugschiffen stören 
sollte. Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätig- 
keit an sich, sondern nur die gegenwärtigen 
Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist 
gern bereit, die Formen zu opfern, wenn da- 
dyrch das masslose Kinder- und Jugendelend 
beseitigt werden könnte. Die Frage ist dann 
nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der 
Gesellschaftsordnung. Man untersucht die Ge- 
schichte der Sexualunterdrückung und die Her- 
kunft der Sexualverdrängung und findet, dass 



1) in der sich trotz allem Idealismus mehr Wahr- 
heiten über das lebendige Leben finden als in allen 
bürgerlichen Soziologien und manchen „marxistischen" 
Psychologien zusammengenommen. 

48 



D - gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

• 

s ie nicht im Beginne der Kulturentwicklung 
einsetzt, also nicht die Voraussetzung der Kul- 
turbildung ist, sondern erst relativ spät sich mit 
dem Privateigentum an den Produktionsmitteln 
u nd dem Beginne der Klassenteilung heraus- 
zubilden beginnt. Die Geschlechtsinteressen al- 
ler beginnen in den Dienst der wirtschaftlichen 
Profitinteressen einer Minderheit zu treten; in 
Porm der monogamen Ehe und der vaterrecht- 
lichen Familie hat dieser Tatbestand feste orga- 
nisatorische Gestalt gewonnen. Mit der Ein- 
schränkung und Unterdrückung der Geschlecht- 
lichkeit verändert das menschliche Fühlen seine 
Art, es entsteht die sexualverneinende Religion 
und allmählich baut die herrschende Klasse eine 
eigene sexualpolitische Organisation auf, die 
Kirche mit allen ihren Vorläufern, die nichts 
anderes als die Ausrottung der sexuellen Lust 
der Menschen und mithin des geringen Glücks 
auf Erden zum Ziele hat. Das hat seinen guten 
soziologischen Sinn im Zusammenhange mit der 
nunmehr blühenden Ausbeutung menschlicher 
Arbeitskraft. 

Um diesen Zusammenhang zu begreifen, ist es 
notwendig, die gesellschaftliche Kerninstitution 
zu erfassen, in der die wirtschaftliche und die 
sexualökonomische Situation der privatwirt- 
schaftlichen Gesellschaft sich ineinanderflech- 
ten. Ohne Einbeziehung dieser Institution ist 
ein Verständnis der sexuellen Ökonomie und des 
ideologischen Prozesses des Patriarchats un- 
möglich. Die Psychoanalyse von Menschen jeder 
Altersstufe, aus allen Ländern und jeder sozia- 
len Schichte ergibt : Die Verknüpfung der sozial- 
ökonomischen mit der sexuellen Struktur der 

4 49 









' ' 




Die Ideologie als materielle Gewalt 

Gesellschaft und die ideologische Reproduktion 
der Gesellschaft erfolgen in den ersten vier bis 
fünf Lebensjahren und in der Familie. Die Kir- 
che setzt diese Funktion später nur fort. So 
gewinnt der Klassenstaat sein ungeheures In- 
teresse an der Familie: Sie ist seine Struktur- 
und Ideologiefabrik geworden. 

Wir fanden die Institution, in der sich die 
sexuellen und die wirtschaftlichen Interessen 
verknüpfen. Wir müssen nun fragen, wie diese 
Verknüpfung erfolgt und wie ihr Mechanismus 
ist. Auch darauf gibt die Analyse der typischen 
Struktur des bürgerlichen Menschen (des Pro- 
letariers eingeschlossen) eine Anwort, freilich 
nur dann, wenn man sich solche Fragen in der 
individuellen Analyse überhaupt vorlegt. Die 
moralische Hemmung der natürlichen Ge- 
schlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe 
die schwere Beeinträchtigung der genitalen 
Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, 
scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürger- 
lichen Sinne brav und erziehbar ; sie lähmt, weil 
nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer 
Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im 
Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot 
eine allgemeine Denkhemmung und Kritik- 
unfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung 
des an die privateigentümliche Ordnung ange- 
passten, trotz Not und Erniedrigung sie dulden- 
den Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft 
des Kind den autoritären Miniaturstaat der Fa- 
milie, an deren Struktur sich das Kind zunächst 
anpassen muss, um später dem allgemeinen ge- 
sellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu 
sein. Die Umstrukturierung des Menschen er- 

50 






D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 






folgt — das muss genau festgehalten werden — 
zentral durch Verankerung sexueller Hemmung 
und Angst am lebendigen Material der sexuellen 
Antriebe. 

Wir werden sofort begreifen, warum die Fa- 
milie von der Sexualökonomie als die wichtigste 
ideologische Reproduktionsstätte des privat- 
wirtschaftlichen Gesellschaftssystems aufgefasst 
wird, wenn wir uns das Beispiel einer durch- 
schnittlichen christlichen Arbeiterfrau vor Au- 
gen halten. Sie hungert ebensosehr wie eine 
kommunistische, ist also der gleichen ökonomi- 
schen Lage unterworfen, wählt aber Zentrum 
und später NSDAP; wenn wir uns auch noch 
die Wirklichkeit des Unterschiedes in der Sexu- 
alideologie der durchschnittlichen klassenbe- 
wussten und der durchschnittlichen christlichen 
Frau klarmachen, dann erkennen wir die ent- 
scheidende Bedeutung der Sexualstruktur: Die 
antisexuelle, moralische Hemmung verhindert 
die christliche Frau zum Bewusstsein ihrer so- 
zialen Lage zu gelangen und bindet sie ebenso 
fest an die Kirche, wie sie sie den „Sexualbol- 
schewismus" fürchten lässt. Theoretisch stellt 
sich die Sachlage wie folgt dar. Der mechani- 
stisch denkende Vulgärmarxist wird annehmen, 
dass das Klassenbewusstsein, d. h. die Einsicht 
in die soziale Lage, besonders ausgeprägt dann 
sein müsste, wenn sich zur wirtschaftlichen 
Notlage die sexuelle hinzuaddiert. Nach dieser 
Annahme müssten die Masse der Jugendlichen 
und die Masse der Frauen weit klassenbewusster 
sein als die der Männer. Die Wirklichkeit zeigt 
das gerade Gegenteil und der Vulgärmarxist 
steht dem völlig hilflos gegenüber. Er wird es 

51 






— ' ■ 






I 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

unverstehbar finden, dass die christliche Frau 
sich sträubt, sein Wirtschaftsprogramm auch nur 
anzuhören. Die Erklärung ist die: Die Unter- 
drückung der grob materiellen Bedürfnisbe- 
friedigung erzielt ein anderes Resultat als die 
der sexuellen Bedürfnisse. Erste treibt zur Re- 
bellion, die zweite jedoch verhindert dadurch, 
dass sie die sexuellen Ansprüche zur Verdrän- 
gung bringt, sie dem Bewusstsein entzieht und 
sich als moralische Abwehr innerlich verankert, 
den Vollzug der Auflehnung aus beiden Arten 
von Unterdrückung. Ja auch die Hemmung der 
Auflehnung selbst ist unbewusst. Es findet sich 
beim durchschnittlichen unpolitischen Menschen 
im Bewusstsein nicht einmal ein Ansatz dazu. 
Zur Verdeutlichung der Beziehung diene fol- 
gendes Schema: 

KLASSEN-STAAT 




AUSBEUTUNG 



SEXUALUNTERDRÜCKUNG 



ANSATZ ZUR 
REBELLION 



/ 



/ 



ANSATZ ZUR 
REBELLION 

/ \ A 

MORALISCHE 
HEMMUNG 



SEXUALVER- 
DRÄNGUNG 



IV* 

NAHRUNGS- 
BEDÜRFNIS 



\ 

\ 






SEXUAL- 
BEDÜRFNIS 



52 



D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

Die Sexualverdrängung stärkt die politische 
Reaktion nicht nur durch den beschriebenen 
Vorgang, der die Massenindividuen passiv und 
unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur 
des bürgerlichen Menschen eine sekundäre 
Kraft, ein künstliches Interesse, das die herr- 
schende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist 
nämlich die Sexualität durch den Prozcss der 
Sexualverdrängung aus den naturgemäss gege- 
benen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, 
so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung 
verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich 
die natürliche Agression zum brutalen Sadismus, 
der ein wesentliches Stück der massenpsycholo- 
gischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, 
der von einigen wenigen aus imperialistischen 
Interessen insceniert wird. Um ein anderes Bei- 
spiel zu nennen: Die Wirkung des Militarismus 
beruht massenpsychologisch im wesentlichen auf 
einem libidinösen Mechanismus; die sexuelle 
Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende, 
weil rhythmisch vollendete Wirkung der Para- 
demärsche, der exhibitionistische Charakter des 
militärischen Auftretens sind einer Hausgehil- 
fin oder einer durchschnittlichen Angestellten 
bisher praktisch klarer geworden als unseren 
gebildetsten Politikern. Dagegen bedient sich 
die politische Reaktion bewusst dieser sexuellen 
Interessen. Sie schafft nicht nur pfauenartig 
ausstaffierte Uniformen für die Männer, sondern 
sie lässt wie in Amerika die Anwerbung durch 
anziehende Frauen durchführen. Am Schluss sei 
noch an die Werbeplakate der kriegslüsternen 
Mächte erinnert, die etwa folgenden Inhalt ha- 
ben: „Willst Du fremde Länder kennen lernen, 

53 



Die Ideologie als materielle Gewalt 

dann tritt in die Marine des Königs ein!"; und 
die fremden Länder sind durch exotische Frauen 
dargestellt. Und warum wirken diese Plakate? 
Weil unsere Jugend durch die Sexualeinschrän- 
kung sexualhungrig geworden ist. 

Sowohl die das Klassenbewusstsein hemmende 
Sexualmoral, als auch diejenigen Kräfte, die 
den kapitalistischen Interessen entgegenkom- 
men, beziehen ihre Energie aus der verdrängten 
Sexualität. Wir begreifen nun besser ein Kern- 
stück im Prozess der Rückwirkung der Ideolo- 
gie auf die ökonomische Basis: Die Sexualhem- 
mung verändert den wirtschaftlich unterdrück- 
ten Menschen strukturell derart, dass er gegen 
sein materielles Interesse handelt, fühlt und 
denkt. Das ist gleichbedeutend mit ideologischer 
Angleichung an die Bourgeoisie. 

Die Beobachtung von Lenin erfährt derart 
ihre massenpsychologische Bestätigung und 
Deutung. Die Soldaten von 1905 erblickten un- 
bewusst in den Offizieren die Väter aus der 
Kindheit, kondensiert in der Gottesvorstellung, 
die die Sexualität versagten und die man damals 
weder töten durfte noch konnte, obwohl sie 
einem die Lebensfreude zerbrachen. Ihre Reue 
nach der Machtergreifung und ihr Schwanken 
waren Ausdruck in sein Gegenteil, in Mitleid, 
verwandelten Hasses, der solcherweise nicht zur 
Aktion vordringen konnte. 

Das praktische Problem der Massenpsycholo- 
gie ist somit die Aktivierung der passiven Mehr- 
heit der Bevölkerung, die stets der politischen 
Reaktion zum Siege verhilft, und die Beseiti- 
gung derjenigen Hemmungen, die der Entwick- 
lung des aus der sozialökonomischen Lage strö- 
54 



D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung 

menden Klassenbewussteins entgegenwirken. 
Die seelischen Energien einer durchschnitt- 
lichen Masse, die ein Fussballspiel erregt ver- 
folgt oder eine kitschige Operette miterlebt, von 
ihren Fesseln gelöst, in die Bahnen zu den ra- 
tionalen Zielen der Arbeiterbewegung gelenkt, 
wäre nicht mehr zu binden. Von diesem Ge- 
sichtspunkt aus ist die folgende sexualokonomi- 
sche Untersuchung geleitet. 



55 



' 















IL KAPITEL 

Die Familienideologie in der Massen- 
psychologie des Faschismus 

1. FÜHRER UND MASSENSTRUKTUR 

Liesse die Geschichte des gesellschaftlichen 
Prozesses den bürgerlichen Historikern Zeit, 
Betrachtungen über die deutsche Vergangenheit 
nach einigen Jahrzehnten anzustellen, sie wür- 
den im Erfolg Hitlers in den Jahren 1928—1933 
sicher den Beweis dafür erblicken, dass nur der 
grosse Mann Geschichte macht, indem er die 
Massen mit „seiner Idee" entflammt: und ein 
Grundzug der nationalsozialistischen Propagan- 
da baut sich in der Tat auf dieser Führer- 
ideologie auf. So wenig den Propagandisten des 
Nationalsozialismus die Mechanik ihres Erfol- 
ges bekannt ist, so wenig dürfen sie den histo- 
rischen Boden der nationalsozialistischen Be- 
wegung je erfassen. Es ist daher vollkommen 
konsequent, wenn der Nationalsozialist Wilhelm 
Stapel in seiner Schrift „Christentum und 
Nationalsozialismus" (Hanseatische Verlags- 
anstalt) seinerzeit schrieb: „Weil der National- 
sozialismus eine elementare Bewegung ist, 
darum kann man ihm nicht mit „Argumenten" 
56 



Führer und Massenstruktur 

beikommen. Argumente würden nur wirken, 
wenn die Bewegung durch Argumente gross- 
geworden wäre." Das sachlische Niveau der 
nationalsozialistischen Versammlungsreden 

zeichnete sich entsprechend dieser Charakteri- 
stik durch sehr geschickte Massnahmen aus, mit 
den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren 
und sachliche Argumentation tunlichst zu ver- 
meiden. Hitler betont an verschiedenen Stel- 
len seines Buches „Mein Kampf", dass die 
richtige massenpsychologische Taktik auf Ar- 
gumentation verzichten und nur das „grosse 
Endziel" unausgesetzt den Massen vorführen 
müsse. Wie es dann mit dem Endziel nach der 
Machtergreifung aussieht, lässt sich am italie- 
nischen Faschismus leicht zeigen, wie ja auch 
die jüngsten Erlässe Görings gegen die wirt- 
schaftlichen Organisationen des Mittelstandes, 
die Absage an die von den Anhängern erwartete 
„zweite Revolution", die Nichterfüllung der ver- 
sprochenen sozialistischen Massnahmen etc. be- 
reits die eigentliche objektive Funktion des 
Faschismus enthüllen. Wie wenig Hitler selbst 
den Mechanismus seiner Erfolge kennt, zeigt 
folgende Ansicht: 

„Diese grosse Linie allein, die nie verlassen werden 
darf, lässt bei immer gleichbleibender konsequenter 
Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann 
aber wird man mit Staunen feststellen können, zu 
welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen 
solch eine Beharrlichkeit führt." („Mein Kampf", 
S. 203). 

Hitlers Erfolg lässt sich also keinesfalls aus 
seiner objektiven Rolle in der Geschichte des 
Kapitalismus erklären, denn diese hätte, wäre 

57 



\ 



I 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

sie unmittelbarer Inhalt der Propaganda gewe- 
sen, das Gegenteil des Beabsichtigten erzielt. 
Die Erforschung der massenpsychologischen 
Wirkung Hitlers muss von der Voraussetzung 
ausgehen, dass ein Führer oder auch nur Ver- 
treter einer Idee nur dann Erfolg haben kann 
(wenn auch nicht in historischer, so doch in be- 
grenzter Perspektive), wenn seine persönliche 
Anschauung, seine Ideologie oder sein Pro- 
gramm an die durchschnittliche Struktur einer 
breiten Schicht von Massenindividuen anklingt. 
Dann ergibt sich die weitere Frage, welcher 
historischen und soziologischen Situation diese 
Massenstrukturen ihr Entstehen verdanken. So 
verlegt sich die Fragestellung der Massenpsy- 
chologie aus der Metaphysik in die Wirklich- 
keit des gesellschaftlichen Lebens. Nur dann, 
wenn die Struktur einer Führerpersönlichkeit 
mit massenindividuellen Strukturen breiter 
Kreise zusammenklingt, kann ein „Führer" Ge- 
schichte machen. Und ob er endgültig Geschich- 
te macht oder nur vorübergehend, hängt einzig 
und allein davon ab, ob sein Programm in der 
Richtung des fortschreitenden gesellschaftli- 
chen Prozesses liegt oder sich dagegen an- 
stemmt. Es ist daher nicht nur verfehlt, sondern 
auch politisch irreführend, wenn man den Hit- 
lerschen Erfolg allein aus der Demagogie der 
Nationalsozialisten, mit der „Vernebelung der 
Massen", ihrer „Irreführung" oder gar mit dem 
vagen, nichtssagenden Begriff der „Nazipsycho- 
se" zu erklären versucht, wie sogar Kommuni- 
sten es vielfach taten. Kommt es doch gerade 
darauf an zu begreifen, warum sich die Massen 
der (objektiv gesehen) tatsächlichen Irrefüh- 

58 






Führer und Massenstruktur 

rung, Vernebelung und psychotischen Situation 
zugänglich erwiesen. Das heisst, ohne die ge- 
naue Analyse dessen, was in den Massen vor- 
geht, kann man das Problem nicht lösen. Auch 
nicht mit der Angabe der objektiven Rolle der 
Hitler-Bewegung im historischen Prozess. Denn 
wie gesagt, der Erfolg der NSDAP wider- 
spricht dieser ihrer Rolle, ein Widerspruch, der 
nur massenpsychologisch zu lösen ist. 

Der Nationalsozialismus bediente sich ge- 
genüber den verschiedenen Objekten seiner 
Propaganda verschiedener Mittel und machte, 
je nach der sozialen Schicht, die er gerade 
brauchte, verschiedene Versprechungen. So 
trat z. B. im Frühjahr 1933 in der Propaganda 
die Betonung des revolutionären Charakters der 
Nazi-Bewegung hervor, weil man die Industrie- 
arbeiter gewinnen wollte, und man feierte den 
1. Mai, nachdem man in Potsdam den Adel zu- 
friedengestellt hatte. Wollte man daraus ablei- 
ten, dass der Erfolg nur politischem Schwindel 
zuzuschreiben ist, man geriete als Marxist in 
Widerspruch mit sich selbst und würde da- 
durch praktisch die soziale Revolution negie- 
ren. Die Grundfrage ist : Warum lassen sich die 
Massen politisch beschwindeln? Sie hatten alle 
Möglichkeiten, die Propaganda der verschiede- 
nen Parteien zu kontrollieren. Warum ent- 
deckten sie nicht etwa, dass Hitler den Arbei- 
tern Enteignung des Besitzes an Produktions- 
mitteln und den Kapitalisten Schutz vor 
Streiks gleichzeitig versprach? 

Hitlers persönliche Struktur und seine Le- 
bensgeschichte sind für das Verständnis des 
Nationalsozialismus von keinerlei Belang. Es 

59 







i 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

ist allerdings akademisch interessant, dass die 
kleinbürgerliche Herkunft seiner Ideen sich 
mit dem massenpsychologischen Milieu der 
Strukturen, die diese Ideen bereitwillig auf- 
nahmen, in den Hauptzügen deckt. 

Hitler stützt sich wie jede faschistische 
Bewegung auf die verschiedenen Schichten 
des Kleinbürgertums. Der Nationalsozialismus 
offenbart somit sämtliche Widersprüche, die 
die Massenpsychologie des Kleinbürgertums 
kennzeichnen. Es kommt nur darauf an, erstens 
diese Widersprüche selbst in ihrem ideologi- 
schen Gefüge zu erfassen, zweitens die gemein- 
same Herkunft dieser Widersprüche aus den 
Produktionsverhältnissen des imperialisti- 
schen Kapitalismus kennenzulernen. Wir 
schränken uns auf die sexziaZ-ideologischen Fra- 
gen ein. 



2. HITLERS HERKUNFT 

Der Führer des deutschen rebellierenden 
Mittelstandes ist selbst Beamtensohn und be- 
richtet genau über einen die kleinbürgerliche 
Massenstruktur spezifisch kennzeichnenden 
Konflikt, den er durchzumachen hatte. Sein Va- 
ter wollte ihn zum Beamten machen, der Sohn 
rebellierte aber gegen den väterlichen Plan, be- 
schloss, „unter keinen Umständen*' Folge zu 
leisten, wurde Maler und proletarisierte sich 
dadurch. Aber neben dieser Rebellion gegen den 
Vater blieb die Hochachtung und Anerken- 
nung seiner Autorität bestehen. Diese zwie- 
spältige Einstellung zur Autorität: Rebellion 
gegen die Autorität bei gleichzeitiger Aner- 

6Q 






Hitlers Herkunft 

kennung und Unterwerfung, ist ein zentraler 
Faktor jeder kleinbürgerlichen Struktur am 
Übergang von der Pubertät zur völligen Er- 
wachsenheit und besonders ausgeprägt bei ma- 
teriell proletarischer Lebensführung. 

Zur Mutter hatte Hitler eine eindeutig po- 
sitive Einstellung; er spricht mit grosser Sen- 
timentalität von ihr und versichert, er hätte 
nur einmal in seinem Leben geweint, als näm- 
lich seine Mutter starb. Aus der Rassen- und 
Syphilistheorie (vgl. nächstes Kapitel) geht 
seine ideologische Sexualablehnung und die 
Idealisierung der Mutterschaft eindeutig her- 
vor. 

Als junger Nationalist beschloss Hitler, der 
in Oesterreich lebte, den Kampf gegen das 
österreichische Herrscherhaus aufzunehmen, 
das das deutsche Vaterland „der Slawisierung" 
preisgab. Bei der Polemik gegen die Habsbur- 
ger nimmt der Vorwurf, dass es unter ihnen 
einige Syphilitiker gab, eine bemerkenswerte 
Stellung ein. Man würde daran achtlos vor- 
übergehen, wenn nicht das Motiv der „Vergif- 
tung des Volkskörpers" und die gesamte Stel- 
lung zur Frage der Syphilis in besonderer 
Weise immer wiederkehrte und später nach der 
Machtergreifung ein zentrales Stück der In- 
nenpolitik gebildet hätte. 

Hitler sympathisierte ursprünglich mit der 
Sozialdemokratie, weil sie den Kampf um das 
allgemeine und geheime Wahlrecht führte und 
dies zu einer Schwächung des ihm verhassten 
„Habsburgerregiments" führen musste. Doch 
die Betonung der Klassen, die Negierung der 
Nation, der staatlichen Autorität, des Eigen- 

61 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

HiTlef^n d6r ? e u gi ! n und Moral Sti ^sen 
n„ . m i entscheidenden Anstoss zu sei- 

ner Ideologie gab die Aufforderung, die von 
Seiten seiner Baustelle an ihn gerichtet wurde 
der Gewerkschaft beizutreten. Er lehnte ab und 
begründet das mit der ersten Einsicht in die 
Rolle der Sozialdemokratie. 

Sein Ideal wurde Bismarck, weil er die Ei 
n.gun g d deutschen Nation herbeiführte U nd 

kamofte n ° S I err . eichiscl * Herrscherhaus 
kämpfte. Der Antisemit Lueger und der 

sehe S H° nale • SchÖnerer bestimmten ent- 
scheidend die weitere Entwicklung Hitlers Er 

tionahsmus zu verwirklichen gSrte Die 

„Erst wenn der — politisch dnrM, a 
Marxismus geführten « Sernatfon»! " Sf*» ni »i«ten 
ung eine ebenso einheitlich ^SSSSÄS W « ltan f*au- 
volkische gegenübertritt, wird s rh PS « elei ^te 
Kampfesenergie der Erfolg auf die SUU i «Weher 
Wahrheit schlagen." aie Seite der ewigen 

„Was der internationalen Weltanff-, 
folg gab, war ihre Vertretung fidftS'S den . Er " 
lungsmässig organisierte politische pir* ? turmal >tei- 
gegenteilige Weltanschauung unterließ ,• Was die 
der bisherige Mangel einer einheitlich SLz?* ,^ ar 
tretung derselben. Nicht in einer inb£r mten Ver " 
gabe der Auslegung einer ÄÄ2T2» Frei " 

62 






^^^^^»■^^^ 






Hitlers Herkunft 

Hitler erkannte früh den Bankrott der sozial- 
demokratischen Politik, aber gleichzeitig auch 
die Ohnmacht der alten bürgerlichen Parteien, 
eingeschlossen der deutschnationalen. 

„Dies alles aber war nur die zwangsläufige Folge 
des Fehlens einer grundsätzlichen, dem Marxismus 
entgegengesetzten neuen Weltanschauung von stürmi- 
schem Eroberungswillen." (1. c. S. 190). 

„Je mehr ich mich damals mit dem Gedanken einer 
notwendigen Änderung der Haltung der staatlichen 
Regierungen zur Sozialdemokratie als der augenblick- 
lichen Verkörperung des Marxismus beschäftigte, um- 
so mehr erkannte ich das Fehlen eines brauchbaren 
Ersatzes für diese Lehre. Was wollte man denn den 
Massen geben, wenn, angenommen, die Sozialdemokra- 
tie gebrochen worden wäre? Nicht eine Bewegung 
war vorhanden, von der man hätte erwarten können, 
dass es ihr gelingen würde, die grossen Scharen der 
nun mehr oder weniger führerlos gewordenen Arbeiter 
in ihren Bann zu ziehen. Es ist unsinnig und mehr als 
dumm, zu meinen, dass der aus der Klassenpartei aus- 
geschiedene internationale Fanatiker nun augenblick- 
lich in eine bürgerliche Partei, also in eine neue Klas- 
senorganisation, einrücken werde." (1. c. S. 190). 

„Die „bürgerlichen" Parteien, wie sie sich selbst 
bezeichnen, werden niemals mehr die „proletari- 
schen" Massen an ihr Lager fesseln, da sich hier 
zwei Welten gegenüberstehen, teils natürlich, teils 
künstlich getrennt, deren Verhaltungszustand zuein- 
ander nur der Kampf sein kann. Siegen aber wird hier 
der Jüngere — und dies wäre der Marxismus." (1 c. 
S. 191). 

Die antisowjetistische Grundtendenz des Natio- 
nalsozialismus kam früh zum Vorschein. 

„Wollte man in Europa Grund und Boden, dann 
konnte dies im grossen und ganzen nur auf Kosten 
Russlands geschehen, dann musste sich das neue Reich 
wieder auf der Strasse der einstigen Ordensritter in 
Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem 
deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das täg- 
liche Brot zu geben." (1. c. S. 154). 

63 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 
Solchermassen sieht sich Hitler vor folgende 
IÄ„ W*J Wie ist dem nationalso g ziaH- 

a st sich H t e " ZUm Si6ge ZU helfen? Wie 
Usst sich der Marxismus wirksam bekämpfen? 

Wie kann man an die Massen herankommen? 

Zu diesem Zweck appelliert Hitler an die na- 

SÄfS h GefÜhl , e der M ™ • beschließt 
aber dabei sich wie der Marxismus auf einer 

SSSÄ Z , U "Z™™«™. eine eigene Pro- 
SÄ! ZU entWkkeIn U " d k °-quent 

Er will also, was offen zugegeben wirrt H P n 

durchseSr^ 11 ^ eAli « Mettd „ 
Technik dl V r dem Marxi ^«s und seiner 
Dass dL. M Massenor ganisierung entlehnt. 

seiner Persönlichkeit sondern aus der Be de ü 

Ä er . V ° n den MaSSen ^kommt U^ Jas" 
Problem ist umso brennender ak Witi~ J 

Massen, mit deren Hilfe er seinen ££ ■ v 

mus durchsehen will, ÄSE fe 

k D e a nnt r nir elle "^ - * **-fRtt 

»Die Stimmung des Volkes war im™ 
druck dessen, wls man von oben"™ Ä ( ,*f 
Meinung hineintrichterte." (1. c S 140). ' 

.ii*ü elch t Struktur en in der Masse waren trotz 
alledem bereit, Hitlers Propaganda aufzusau- 

64 



I 



* 



Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 

3. ZUR MASSENPSYCHOLOGIE DES 
KLEINBÜRGERTUMS 

Wir sagten, der Erfolg Hitlers sei weder aus 
seiner „Persönlichkeit", noch aus der objekti- 
ven Rolle, die seine Ideologie im zerrütteten 
Kapitalismus spielt, zu verstehen. Ebensowenig 
aus einer blossen „Vernebelung" der Massen, 
die ihm folgten. Wir stellten die Frage ins Zen- 
trum, was in den Massen vorging, dass sie einer 
Partei Gefolgschaft leisteten, deren Führung 
objektiv sowohl wie subjektiv nur die Interes- 
sen des Grosskapitals vertritt. 

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst 
festzuhalten, dass die nationalsozialistische Be- 
wegung in ihrem ersten erfolgreichen Anlauf 
sich auf die breiten Schichten des sogenannten 
Mittelstandes stützte, also der Millionen priva- 
ter und öffentlicher Beamter, der mittleren 
Kaufmannschaft und des mittleren und kleinen 
Bauerntums. Vom Standpunkt seiner sozialen 
Basis gesehen ist der Nationalsozialismus eine 
kleinbürgerliche Bewegung, und dies überall, 
wo er auftritt. Dieses Kleinbürgertum, das vor- 
her im Lager der verschiedenen bürgerlich-de- 
mokratischen Parteien stand, musste also eine 
innere Wandlung durchgemacht haben, dass es 
seinen politischen Standort wechselte. Aus der 
sozialen Lage und der ihr entsprechenden psy- 
chologischen Struktur des Kleinbürgertums er- 
klären sich sowohl die grundsätzlichen Gleich- 
heiten wie die Verschiedenheiten der bürger- 
lich-liberalen und der nationalsozialistischen 
Ideologien. 

Das nationalsozialistische Kleinbürgertum ist 
das gleiche des kleinbürgerlichen demokrati- 

5 65 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

sehen Liberalismus in einer anderen histori- 
schen Epoche des Kapitalismus. Der National- 
sozialismus bezog seinen Zuwachs in den Wahl- 
jahren 1930 bis 1932 fast ausschliesslich aus der 
deutschnationalen Partei, der Wirtschaftspar- 
tei und den kleineren Splitterparteien des 
deutschen Reiches. Nur das katholische Zen- 
trum bewahrte sogar in der Preussenwahl 1932 
seine Position. Erst bei der Preussenwahl 1932 
gelang dem Nationalsozialismus auch ein Ein- 
bruch in die Arbeitermassen. Doch nach wie 
vor blieb der Mittelstand die Kerntruppe des 
Hakenkreuzes. In der schwersten wirtschaftli- 
chen Erschütterung des kapitalistischen Sy- 
stems seit seinem Bestände trat in Gestalt des 
Nationalsozialismus der Mittelstand auf die po- 
litische Tribüne und hält den revolutionären 
Untergang der kapitalistischen Herrschaft auf. 
Die politische Reaktion weiss diese Bedeutung 
des Kleinbürgertums sehr richtig einzuschät- 
zen. „Der Mittelstand ist für die Existenz eines 
Staates von entscheidender Bedeutung", hiess es 
in einen Flugblatt der Deutschnationalen vom 
8. April 1932. 

Die Frage nach der politischen Bedeutung 
des Mittelstandes spielte innerhalb der Linken 
in den Diskussionen nach dem 30. Januar eine 
grosse Rolle. Bis zum 30. Januar war die Be- 
achtung des Mittelstandes beträchtlich zu kurz 
gekommen, weil alle Interessen von der Beach- 
tung der Entwicklung der politischen Reaktion, 
der bürgerlichen Staatsführung gefesselt wa- 
ren, und die massenpsychologische Fragestel- 
lung den Politikern fernlag. Nachher begann 
man an verschiedenen Stellen die „Rebellion 

66 



Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 

des Mittelstandes" in den Vordergrund zu rük- 
ken. Verfolgt man die Diskussion über diese 
Frage, so kann man feststellen, dass sich zwei 
Hauptmeinungen herausbildeten: die eine ver- 
trat den Standpunkt, der Faschismus sei „nichts 
anderes" als die Parteigarde der Grossbour- 
geoisie; die andere übersah diesen Tatbestand 
nicht, rückte jedoch die „Rebellion des Mittel- 
standes" in den Vordergrund, was ihren Ver- 
tretern den Vorwurf eintrug, dass sie die reak- 
tionäre Rolle des Faschismus verwischten; man 
berief sich dabei auf die Berufung Thyssens zum 
Wirtschaftsdiktator, auf die Auflösung der 
wirtschaftlichen Mittelstandsorganisationen, 
auf das Abblasen der „zweiten Revolution", 
kurz auf den ab etwa Ende Juni 1933 immer 
mehr und offener hervortretenden nur reaktio- 
nären Charakter des Faschismus. 

Man konnte einige Unklarheiten in der sehr 
heftigen Diskussion feststellen: Die Tatsache, 
dass der Nationalsozialismus sich nach der 
Machtergreifung immer mehr als imperialisti- 
scher Nationalismus des Grossbürgertums ent- 
hüllte, der eifrig bestrebt war, alles „Sozialisti- 
sche" aus der Bewegung auszuschalten, und den 
Krieg mit allen Mitteln vorbereitet, wider- 
spricht nicht der anderen Tatsache, dass der Fa- 
schismus, von seiner Massenbasis her gesehen, 
in der Tat eine Mittelstandsbewegung war. Oh- 
ne das Versprechen, den Kampf gegen das 
Grosskapital aufzunehmen, hätte Hitler die 
Mittelstandsschichten nie gewonnen. Sie ver- 
halfen ihm zum Siege, weil sie gegen das Gross- 
kapital waren. Unter ihrem Drucke mussten die 
führenden Stellen zu anr/kapitalistischen Mass- 

67 



"- 




! 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

nahmen ansetzen, wie sie sie unter dem Drucke 
der Grossbourgeoisie wieder abstoppen muss- 
ten. Wenn man nicht die Interessen in der 
Massenbasis einer politischen Bewegung von 
der objektiven Funktion unterscheidet, die ein- 
ander widersprechen und in der Ganzheit der 
Nazi-Bewegung zunächst vereinigt waren, muss 
man an einander vorbeireden, indem der eine die 
objektive Rolle des Faschismus, der andere die 
subjektiven Interessen der faschistischen Mas- 
sen meint, wenn er von „Faschismus" spricht. 
In der Gegensätzlichkeit dieser zwei Seiten des 
Faschismus sind sämtliche seiner Widersprü- 
che begründet, ebenso wie ihre Vereinigung in 
der einen Form: „Nationalsozialismus", die 
Hitlerbewegung kennzeichnet. Sofern der Na- 
tionalsozialismus seinen Charakter als Mittel- 
standsbewegung hervorzukehren gezwungen 
war (vor der Machtergreifung und knapp nach- 
her), ist er in der Tat antikapitalistisch; sofern 

rnn?.' M gU u ng "^ Erhaltun g der einmal er- 
rungenen Macht - da er das Grosskapital nicht 
entrechtet -. immer mehr seinen antikapita- 
isischen Charakter abstreift und seine kapita- 
listische Funktion immer ausschliesslicher her- 
vorkehrt, wird er zum extremen Verfechter und 
Festiger der grosskapitalistischen Wirtschafts- 
ordnung. Dabei ist völlig gleichgültig, ob und 
wieviele seiner Führer ehrlich oder unehrlich 
„sozialistisch" (in ihrer Auffassung!) gesinnt 
sind, ebensowenig wie, ob und wieviele Volks- 
betrüger und Machtjäger sind. Darauf kann 
man gründliche antifaschistische Politik nicht 
basieren. Aus der Geschichte des italienischen Fa- 
schismus hätte man alles für das Verständnis 
68 






* 






Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 

des deutschen Faschismus und seiner Zwie- 
spältigkeit lernen können, denn auch der ita- 
lienische Faschismus zeigte die beiden genann- 
ten einander strikt widersprechenden Seiten 
oder Funktionen zu einem Ganzen vereint. 1 ) 

Diejenigen, die die Funktion der Massenba- 
sis des Faschismus entweder leugnen oder nicht 
gebührend einschätzen, stehen gebannt in der 
grossen historischen Perspektive, dass der Mit- 
telstand, weil er weder über die Hauptproduk- 
tionsmittel verfügt, noch an ihnen arbeitet, auf 
die Dauer keine Geschichte machen kann, daher 
zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin- 
und herschwanken muss. Über der grossen 
übersehen sie aber die kleine historische Per- 
spektive, dass der Mittelstand wenn auch nicht 
auf die Dauer, so doch für geschichtlich kurz 
begrenzte Zeit „Geschichte machen" kann und 
macht, wie es der italienische und deutsche 
Faschismus lehren. Nicht nur die Zerschlagung 
der Arbeiterorganisationen, die unzähligen 
Opfer, der Einbruch der Barbarei sind dabei 



1. In den Parteidiskussionen der Kommunisten herrsch- 
te ein grosser Streit über die Frage, ob der Fa- 
schismus ein Zeichen der Stärkung oder Schwächung 
des Kapitalismus sei: eine mechanische Fragestel- 
lung, die unter anderem die revolutionäre Linke spal- 
tete und schwächte. Hätte man auf die Wirklichkeit 
statt auf Kongressthesen geachtet, so hätte man leicht 
feststellen können: gerät der Kapitalismus in wirt- 
schaftliche Schwierigkeiten, so gebiert er nationali- 
stische Bewegungen — also als Zeichen der Schwäche 
zum Zwecke der Festigung der Macht; gelingt es ihm, 
den Faschismus gross zu machen, ihm schliesslich 
zum Siege zu verhelfen, dann hat sich die reaktio- 
näre Massenbewegung aus einem Zeichen der Schwä- 
che in ein Zeichen der Stärke verwandelt. 

69 



r 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

gemeint; sondern vor allem die Verhinderung 
der Entwicklung der ökonomischen Krise zur 
politischen Umv/älzung der Gesellschaft, zur 
sozialen Revolution. Es ist klar: Je grösser 
Umfang und Gewicht der Mittelstandsschich- 
ten in einer Nation sind, desto entscheidendere 
Bedeutung kommt ihnen als zeitlich begrenzt, 
aber doch entscheidend wirkender gesellschaft- 
licher Kraft zu. Gegenwärtig ergibt sich das ge- 
schichtliche Paradoxon, dass der nationalisti- 
sche Faschismus in den westlichen Ländern den 
internationalen Kommunismus selbst als inter- 
nationale Bewegung zu überflügeln beginnt. 
Dies nicht sehen, Illusionen über das Fort- 
schreiten der revolutionären Bewegung im Ver- 
hältnis zu dem der Reaktion haben, bedeutet 
schlechthin politischen Selbstmord vorbereiten, 
auch wenn die besten Motive zugrundeliegen. 
Diese Frage verdient die allergrösste Aufmerk- 
samkeit, und es ist weiterhin einleuchtend, dass 
der Prozess, der sich gegenwärtig in den Mit- 
telstandsschichten aller Länder abspielt, weit 
mehr Aufmerksamkeit verdient, als die banale, 
bekannte Tatsache, dass der Faschismus extrem- 
ste wirtschaftliche und politische Reaktion be- 
deutet. Mit dem letzten allein kann man poli- 
tisch nichts anfangen, was ja auch die Ge- 
schichte zwischen 1928—1933 reichlich bewiesen 
hat. 

Wenn der Mittelstand wirklich in Bewegung 
geriet, in der Gestalt des Faschismus als gesell- 
schaftliche Kraft auf die Bühne der Geschichte 
trat, so kommt es weniger auf die reaktionäre 
Absicht der Hitler und Göring als auf die In- 

70 



. 



Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 

teressen der Mittelstandsschichten an, wenn 
man sie gewinnen oder neutralisieren will. 

Dass eine faschistische Bewegung überhaupt 
existiert, ist zweifellos gesellschaftlicher Aus- 
druck der Angst der Grossbourgeoisie vor dem 
Bolschewismus in der Phase des drohenden Zu- 
sammenbruchs. Dass aber diese faschistische 
Bewegung zu einer Massenbewegung werden, 
ja an die Macht gelangen kann, was ihre ob- 
jektive Funktion, das Grosskapital zu stützen 
und die Arbeiterbewegung niederzuschlagen 
erst erfüllt, ist nicht mehr eine Frage der In- 
teressen der Grossbourgeoisie, sondern eine 
Frage der Massenbewegung des Mittelstandes, 
die das ermöglicht. Nur unter Beachtung dieser 
Gegensätze und Widersprüche, jedes zu seiner 
Zeit, kann man die einander widersprechenden 
Erscheinungen erfassen und nicht zuletzt müs- 
sige Diskussionsstreitereien und Fraktionsbil- 
dungen ersparen. 

Die Stellung des Mittelstandes ist bestimmt: 

durch seine Stellung im kapitalistischen Pro- 
duktionsprozesse 

durch seine Stellung im kapitalistischen 

Staatsapparat, 
durch seine besondere familiäre Situation, 

lie unmittelbar von der Stellung *» p ™.? uk : 
tionsprozess bestimmt ist, aber den Schlüssel 
zum Verständnis seiner Ideologie abgibt. Das 
ist sofort daran zu sehen, dass die Stellung des 
Kleinbauerntums, des Beamtentums und der 
mittleren Kaufmannschaft wirtschaftliche Ver- 
schiedenheiten zeigt, sich aber durch eine in 
den Grundzügen gleichartige familiäre Situ- 
ation kennzeichnet. 

71 



■ 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

p£aJ«? e . t ? ntW }. cklun S der kapitalistischen 
Produkt.vkrafte d le stetig und rasch fort- 
schreitende Mechanisierung der Produktion, 
die Zusammenfassung der verschiedenen Pro- 
duktionszwe.ge in monopolistische Syndikate 

tenden P r S n lT d ?" Grund]a g* der fortschrei- 
tenden Proletansierung der kleinbürgerlichen 
Kaufleute und Gewerbetreibenden. Der Kon" 

*Sa2 U ^l Und ratione "« arbeitenden 
kleinen TT V 16 T^ S ewach ^"- verfallen die 
kleinen Unternehmungen unrettbar. 

dere^zf'erhoffen 4? VOI \ diesem System nichts an- 

Darum also geht es' Ob alft"?^ 086 Vernichtu "S- 
öde Masse v„„ p~i ? • eme g ross e> graue und 

seih» «SSf ~ Proletariat versinken, wo alle das- 

£F,e&„"Ä n -^de°r de in dt fc^^S 

mahnten die Deutschnationalen vor der Reich, 
Präsidentenwahl 1932. Die Nationalsozialisten 
gingen nicht so plump vor, eine breite Kluft 
zwischen Mittelstand und Proletariat fe der 

meh P r a fr n fo?g. aUfZUreiSSen " »» d ^ *£ 
Auch in der Propaganda der NSDAP spielte 
der Kampf gegen die grossen Kaufhäuser eine 
grosse Rolle. Doch der Widerspruch zwischen 
der Rolle, die der Nationalsozialismus für die 
Grossmdustrie spielte, und den Interessen des 
Mittelstandes, auf die er sich stützte, kam etwa 
in Hitlers Gesprach mit Knickerbocker zum 
Ausdruck: „Wir werden die deutsch-amerika- 
nischen Beziehungen nicht von einem Kramla- 
den abhangig machen (gemeint war das Schick- 
72 






Zur Massenpsychologie des Kleinbürgert 



ums 



sal von Woolworth in Berlin) ... die Existenz 
derartiger Unternehmungen bedeutet eine För- 
derung des Bolschewismus ... Sie zerstören 
viele kleine Existenzen. Deshalb werden wir sie 
nicht billigen, aber Sie können versichert sein, 
dass Ihre Unternehmungen dieser Art in 
Deutschland um nichts anders behandelt wer- 
den sollen, als ähnliche deutsche Unternehmun- 
gen."*) Die ausländischen Privatschulden belas- 
teten den Mittelstand ungeheuer. Während 
aber Hitler für die Zahlung der Privatschulden 
war, weil er aussenpolitisch von der Erfüllung 
der Auslandsforderungen abhing, forderten sei- 
ne Anhänger die Annulierung dieser Schulden. 
Das Kleinbürgertum rebellierte also „gegen das 
System", worunter es die „marxistische Herr- 
schaft" der Sozialdemokratie verstand, für die 
wirklichen marxistischen Tatsachenfeststellun- 
gen aber war es unzugänglich. 

Es begriff nicht, dass es als gesellschaftliche 
Schichte infolge der Entwicklung der Gross- 
industrie dem Untergang geweiht ist, es erwies 
sich dem Nachweis unzugänglich, dass es im 
Kommunismus zwar als Schichte oder Klasse un- 
tergeht, als Individuen aber in seiner materiel- 
len Existenz gesicherter wäre, wenn auch in an- 
derer Form. Aber gerade diese andere Form 
schreckte es ab. Es wusste nichts davon, ver- 
stand nicht, dass es anders werden muss, und 

1. Nach der Machtergreifung in den Monaten März 
—April setzte auch ein Massensturm auf die Kaufhäu- 
ser ein, der von der Führung der NSDAP sehr bald 
abgebremst wurde (Verbot der eigenmächtigen Ein- 
griffe in die Wirtschaft, Auflösung von Mittelstands- 
organisationen etc.). 

73 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

die kommunistische Propaganda verstand es 
nicht -- abgesehen von der Unterschätzung des 
Kleinbürgertums - die geeignete Form zu fin- 
den, ihm sein historisches Schicksal intensiv 
genug klar zu machen. 

So sehr nun diese Schichten des Kleinbü^er- 
tums in der Krise zum organisierten Zusammen- 
schluss drängten, die wirtschaftliche Konkur- 
renz der kleinen Unternehmungen hatte sich 
doch gegen die Grundlegung eines dem des 
Proletariats entsprechenden Solidaritätsgefühls 
ausgewirkt. Schon infolge seiner sozialen Lage 
kann der Kleinbürger sich weder mit seiner so- 
zialen Schichte, noch auch mit dem Proletariat 
solidarisieren; mit seiner eigenen Schichte 
nicht weil da die Konkurrenz vorherrscht, mit 
aem Industrieproletariat nicht, weil er gerade 
die Proletarisierung am meisten fürchtet 
Trotzdem bedeutete die faschistische Bewe- 
gung gleichzeitig einen Zusammenschluss des 
Kleinbürgertums. Auf welcher massenpsycho- 
logischen Basis? p y ° 

Die Antwort darauf gibt die Stellung des 
kleinen und mittleren staatlichen und privaten 
Beamtentums. Der durchschnittliche Beamte ist 
wirtschaftlich schlechter gestellt als der 
durchschnittliche gelernte Industriearbeiter • 
die schlechtere Stellung wird zum Teil wettee' 
macht durch, die geringfügige Aussicht auf 
Karriere, vor allem aber beim Staatsbeamten 
durch die lebenslängliche Versorgung. Derart 
von der obrigkeitlichen Autorität abhängig, bil- 
det sich auch in dieser Schichte eine psycholo- 
gische Konkurrenzhaltung gegenüber den Kol- 
legen heraus, die der Entwicklung der Klassen- 
74 






Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 

Solidarität entgegenwirkt. Das soziale Be- 
wusstsein des Beamten ist nicht gekennzeichnet 
durch das Bewusstsein der Schicksalsgemein- 
schaft mit seinen Arbeitskollegen, sondern 
durch seine Stellung zur staatlichen Obrigkeit 
und zur „Nation". Diese besteht in einer völli- 
gen Identifizierung mit der Staatsmacht) beim 
privaten Angestellten in einer Identifizierung 
mit dem Unternehmen, dem er dient Er ist 
ebenso ausgebeutet wie der Industriearbeiter 
Warum entwickelt er kein Solidaritätsgefühl 
wie dieser? Das beruht auf seiner Zwischen- 
stellung zwischen Obrigkeit und Proletariat 
Nach oben Untergebener ist er nach unten Ver- 
treter dieser Obrigkeit und geniesst als solcher 
eine besondere moralische (nicht materielle) 
Schutzstellung. Die restlose Ausbildung dieses 
massenpsychologischen Typs finden wir in den 
Feldwebeln der verschiedenen Armeen 

Die Macht dieser Identifizierung mit dem 
Dienstgeber erkennen wir in krasser Form bei 

et^'d fe sich % deH r "? äUSer ' K — erdienern 
Den' Jr* S l Cl V durch Übernahme von Haltung, 
Denkart, Auftreten der herrschenden Klasse 
restlos verändern und sogar, um die JroSri! 
sehe Herkunft zu übertönen, dieses Wesen über- 
treiben. 

Diese Id entifizierung mit der Behörde, dem 

1 1 ' y nte £ »J dentif izierung" versteht die Psychoana- 
lyse den Tatbestand, dass eine Person sich mit einer 
anderen eins zu fühlen beginnt, Eigenschaften und 
Haltungen von ihr übernimmt, die sie früher nicht be- 
sass, in der Phantasie sich an ihre Stelle setzen kann- 
diesem Prozess liegt eine tatsächliche Veränderung 
der sich identifizierenden Person zugrunde, indem sie 
Eigenschaften des Vorbildes „in sich aufnimmt". 

75 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

Unternehmen, dem Staat, der Nation etc., die 
sich in die Formel kleiden lässt: „Ich bin der 
Maat, die Behörde, das Unternehmen, die Na- 
tion , stellt eine psychische Realität dar und 
ist eines der besten Beispiele für eine zur ma- 
teriellen Kraft gewordene Ideologie. Zunächst 
schwebt dem Angestellten und Beamten nur 
das Ideal, so wie der Vorgesetzte zu sein 
vor, bis allmählich durch die chronische ma- 
terielle Abhängigkeit sich das Wesen im 
bmne der herrschenden Klasse umbaut. Stän- 
dig den Bhck nach oben gerichtet, bildet 
der Kleinbürger eine Schere aus zwischen 
seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideo- 
logie. Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er 
tritt nach aussen repräsentativ auf, dies oft 
bis zur Lächerlichkeit übertreibend. Er isst 
schlecht und ungenügend, aber er legt grossen 
W S rt / uf »händige Kleidung". Der Zylinder 
und der Bratenrock werden die materiellen 
Symbole dieser Struktur. Und weniges ist für 
die massenpsychologische Beurteilung einer Be- 
völkerung auf den ersten Blick geeigneter als 
die Beobachtung ihrer Kleidung. Durch den 
„Blick nach oben unterscheidet sich die klein 
bürgerliche Struktur spezifisch von der Klas- 
senstruktur des Industriearbeiters. 

Wie tief reicht nun diese Identifizierung mit 
der Obrigkeit? Dass eine solche besteht, war, 
wenn auch anders formuliert, bisher bekannt' 
Die Frage ist aber, ob und in welcher Weise 
ausser unmittelbar wirkenden wirtschaftlichen 
Seinsfaktoren andere, indirekt ökonomisch be- 
stimmte, gefühlsmässige Umstände die klein- 
bürgerliche Haltung unterbauen und derart fest- 
76 



Familienbindung und nationales Empfinden 

legen, dass die kleinbürgerliche Ideologie auch 
in Zeiten der Krise, auch in Zeiten, in denen 
die Arbeitslosigkeit die unmittelbare wirtschaft- 
liche Basis zerstört, nicht ins Wanken gerät. 

Wir sagten früher, dass die wirtschaftliche 
Stellung der verschiedenen Schichten des Klein- 
bürgertums eine verschiedene, ihre familiäre 
Lage aber in den Grundzügen die gleiche sei. 
Und in dieser familiären Lage haben wir den 
Schlüssel zum gefühlsmässigen Unterbau der 
früher beschriebenen Struktur. 



4. FAMILIENBINDUNG UND NATIO- 
NALES EMPFINDEN 

Zunächst ist die familiäre Lage der verschie- 
denen Schichten des Kleinbürgertums nicht ge- 
sondert von ihrer unmittelbaren wirtschaftli- 
chen Stellung. Die Familie bildet dort, wo die 
kapitalistische Krise noch nicht zugegriffen 
hat, — das Beamtentum ausgenommen — gleich- 
zeitig den wirtschaftlichen Kleinbetrieb. In dem 
Unternehmen des kleinen Kaufmannes arbeitet 
die Familie mit, werden doch dadurch fremde 
und teurere Arbeitskräfte erspart. In der klei- 
nen und mittleren Bauernwirtschaft ist dieses 
Zusammenfallen von Familie und Produktions- 
weise noch ausgesprochener. Darauf beruht im 
Grunde die Wirtschaftsweise des Grosspatriar- 
chats (z. B. Zadruga). Und in dieser innigen 
Verflochtenheit von Familie und Wirtschaft 
liegt die Lösung der Frage, warum das Bauern- 
tum „erdgebunden", „traditionell" und darum 
der politischen Reaktion so leicht zugänglich 

77 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

ist Das nicht in dem Sinne, dass die Wirt- 
schaf tswe.se allein die Erdgebundenheit und 

Jie PrnH tt ^ '^^ ta dem Si ™. °ass 
die ProdukUonswe.se des Bauern eine strenee 
familiäre Bindung aller FamilienmitgHedfr 
aneinander erfordert, und diese Bindung setzt 
we. gehende sexuelle Unterdrückung und Se 

Ten Ba r s -rT k! "W ElSt 3Uf dies « doppel- 
ÄÄ S ' ch dann das typische bäuer- 
PriJL • ' deSSen Zentrm Verehrung des 

SÄ? U " d ^ Patriarchalische 5 £ 

aü die Seh ; ^- r Werden an anderer Stelle 
au* die Schwierigkeiten zurückkommen, denen 

ttis e°rZf d 1SCh T e R / gierUng bei der K ° SS 
« den finden 1 " *£ d !*! , ?" ft be g e S"ete, «nd 

Ä ' ^Ä^ -SS die 

„Schon die Möglichkeit der Evu«n. 
• den Bauernstandes^ Fundament de Z* Cines geSun " 
kann niemals hoch genue e^Lw-l gesamt en Nation 
unserer heutigen LSftt SS^S Viele 
gesunden Verhältnisses zwischen S* Z° lge des un " 
volk. Ein fester Stock fi r L Sta ?; Und Land " 
war noch zu allen Zeiten der beste &*' Bauern 
ziale Erkrankungen, wie wir sie he^l k * V egen so " 
ist aber auch die einzige Lösune % te . Sitzen. Dies 
tägliche Brot im inneren Kreislauf •"* X ation das 
finden lässt. Industrie und H ai idSl tT Wirtschaf * 
ungesunden führenden Stellung 7„rii? , VOn ihrer 
sich in den allgemeinen RahmSn eT ner „S? d ^2™ 

r/ri^ 2 t usgleichswirtschaft e ^üBSafe 

.Das ist die Stellungnahme Hitlers So nn 
smnig sie wirtschaftlich ist, so wenig e ° der" 
/ö 









Familienbindung und nationales Empfinden 

politischen Reaktion je gelingen kann, die Ent- 
wicklung der Grossindustrie und der maschi- 
nellen Grosslandwirtschaft und damit den Un- 
tergang des Kleinbürgertums und Kleinbauern- 
tums auszuschalten, so bedeutungsvoll ist diese 
Propaganda massenpsychologisch, so sehr wirkt 
sie auf die familiär gebundenen Strukturen der 
kleinbürgerlichen Schichten. 

Die innige Verflochtenheit von Familienbin- 
dung und bäuerlicher Wirtschaftsform musste 
nach der Machtergreifung durch die NSDAP 
ihren Ausdruck finden. Da die Hitlerbewegung 
ihrer Massenbasis und subjektiv-ideologischen 
Struktur nach eine Bewegung des Kleinbürger- 
tums darstellt, ungeachtet ihrer objektiven 
Funktion, die Herrschaft des Grosskapitals zu 
festigen, war einer der ersten Schritte, die der 
Sicherung der Mittelschichten galten, der Er- 
lass über die „Neuordnung der bäuerlichen Be- 
sitzverhältnisse" vom 12. Mai 1933, der auf 
uralte Formen zurückgreift und von der „un- 
löslichen Verbundenheit von Blut und Boden" 
ausgeht. 

Hier der Wortlaut einiger kennzeichnender 
Stellen : 



„Die unablösbare Verbundenheit von Blut und Bo- 
den ist die unerlässliche Voraussetzung für das ge- 
sunde Leben eines Volkes. Die bäuerliche Bodenver- 
fassung früherer Jahrhunderte sicherte in Deutsch- 
land diese aus dem natürlichen Lebensgefühl des Vol- 
kes herausgeborene Verknüpfung auch gesetzlich. Der 
Bauernhof war das unveräusserliche Erbe des ange- 
stammten Bauerngeschlechts. Artfremdes Recht drang 
ein und zerstörte die gesetzliche Grundlage dieser 
bäuerlichen Verfassung. Trotzdem bewahrte der deut- 
sche Bauer mit gesundem Sinn für seines Volkes Le- 

79 




v 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

bensgrundlage im Wege der Sitte in vielen Gauen des 
Landes den Bauernhof von Geschlecht zu Geschlecht 
ungeteilt. 

Unabweisbare Pflicht der Regierung des erwachten 
Volkes ist die Sicherung der nationalen Erhebung 
durch gesetzliche Festlegung der in deutscher Sitte 
bewahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und 
Boden durch das bäuerliche Erbhofrecht. 

Der in der Anerbenrolle des zuständigen Amtsge- 
richts eingetragene land- und forstwirtschaftliche Be- 
sitzer (Erbhof) vererbt sich nach dem Anerbenrecht. 
Der Eigentümer dieses Erbhofes heisst Bauer. Meh- 
rere Erbhöfe hat ein Bauer nicht. Der Bauer hat nur 
ein Kind, welches den Erbhof übernehmen kann. Das 
ist der Anerbe. Die Miterben werden bis zur wirt- 
schaftlichen Selbständigkeit vom Hof versorgt. Ge- 
raten sie unverschuldet in Not, so können sie auch in 
spateren Jahren noch auf dem Hof Zuflucht suchen 
(Heimatzuflucht). Ist der zur Eintragung in die An- 
erbenrolle geeinete Hof nicht eingetragen, so besteht 
das Recht zur Übernahme kraft Anerbenrechts. 

Einen Erbhof kann als Bauer nur besitzen, wer 
deutcher Staatsbürger und deutschen Blutes ist Deut- 
schen Blutes ist nicht, wer unter seinen Vorfahren im 
Mannesstamm oder wer unter seinen übrigen Vor- 
fahren bis ins vierte Glied eine Person jüdischer oder 
farbiger Herkunft hat. Deutschen Blutes im Sinne 
dieses Gesetzes ist aber selbstverständlich jeder Ger 
mane. Eine in Zukunft erfolgende Eheschliesung; mit 
einer Person nicht deutschen Blutes macht die Nach- 
kommen dauernd unfähig, als Besitzer eines Erbhofes 
Bauern zu sein. 

*n? aS u G ?.T tZ ha \ d ÜLÜT Ck % die Bauernhöfe vor 
Überschuldung und schädlicher Zersplitterung im Erb 

gange zu schützen, um sie dauernd als Erbe in der 
Familie freier Bauern zu erhalten. Zugleich will das 
Gesetz auf eine gesunde Verteilung der landwirt 
schaftlichen Besitzgrossen hinwirken. Eine grosse An 
zahl lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhöfe" 
möglichst gleichmässig über das ganze Land verteilt 
ist iür die Gesunderhaltung von Volk und Staat not- 
wendig." 



80 



Die genaue Durchsicht des Gesetzes zwingt 



* 



Familienbindung und nationales Empfinden 

die Frage auf, welche Tendenzen sich in ihm 
ausdrücken. Das Gesetz steht in einigem Wider- 
spruch zu den Interessen der Grossagrarier, die 
auf Aufsaugung sämtlicher mittleren und klei- 
neren Bauernwirtschaften zielen, auf eine im- 
mer grösser werdende Teilung in Besitzer von 
Boden und besitzloses Landproletariat. Dieser 
Widerspruch oder Gegensatz wird aber reich- 
lich wettgemacht durch ein zweites mächtiges 
Interesse der Grossbourgeoisie, den bäuerlichen 
Mittelstand zu erhalten, weil er die Massen- 
basis ihrer Herrschaft darstellt. Nicht nur ist 
der Kleinbesitzer mit dem Grossbesitzer als 
Privateigentümer identifiziert; das hätte wenig 
Gewicht, wenn nicht mit dem Klein- und Mit- 
telbesitz eine ideologische Atmosphäre erhal- 
ten bliebe, die der kleinwirtschaftenden Familie, 
aus der die besten nationalistischen Krieger 
hervorzugehen pflegen und die die Frauen im 
Sinne der nationalistischen und kirchlichen Ide- 
ologie strukturell verändert. Hier liegt der Hin- 
tergrund des vielgenannten „sittlich erhalten- 
den Einflusses des gesunden Bauerntums". Diese 
Frage ist aber eine sexualökonomische. 

Die hier beschriebene Verflechtung von ka- 
pitalistischer Produktionsweise und kapitali- 
stischer Familie im kleinen Bürgertum ist eine 
der vielen Quellen der faschistischen Ideologie 
von der „kinderreichen Familie". Doch diese 
Frage wird in anderem Zusammenhange noch 
wiederkehren. 

Der wirtschaftlichen Abgrenzung, der kleinen 
Betriebe gegeneinander entspricht die familiäre 
Abkapselung und die Konkurrenz der Familien 
untereinander, die für das Kleinbürgertum ty- 

81 



t). Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Pasch. 

pisch sind. Schon jetzt wird verständlich, dass 
das individualistische Denken, das dem Kollek- 
tivgedanken des Kommunismus so sehr entge- 
genwirkt, hier seine Quelle hat. Aber dieser 
Tatbestand bedarf einer viel ausführlicheren Be- 
gründung. 1 ) 

Diese wirtschaftliche und familiäre Situation 
wäre in Anbetracht der natürlichen Organisa- 
tion der Menschen unhaltbar, wenn sie nicht 
durch weitere Tatbestände gesichert wäre. Dazu 
gehört ein bestimmtes Verhältnis von Mann 
und Frau, das wir als das patriarchalische be- 
zeichnen, und eine bestimmte sexuelle Lebens- 
weise. 

In seinem Bestreben, sich vom Proletariat 
abzugrenzen, kann das städtische Kleinbürger- 
tum, da es wirtschaftlich nicht besser gestellt 
ist, als das Industrieproletariat, nur auf seine 
familiären und sexuellen Lebensformen sich 
stützen, die es dann in bestimmter Weise ausbaut. 
Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muss mora- 
lisch kompensiert werden. Dieses Motiv ist beim 
Beamtentum das wirksamste Element seiner Iden- 
tifizierung mit der Staatsmacht. Da man nicht 
so gestellt ist wie die Grossbourgeoisie, gleich- 
zeitig aber mit ihr identifiziert ist, müssen die 
kulturellen Ideologien wettmachen, was die 

1. Trotz der Ideologie „Gemeinnutz geht vor Eigen- 
nutz" und dem „korporativen Gedanken" des Fa- 
schismus. Die Kernelemente der faschistischen Ideolo- 
gie bleiben individualistisch, wie das „Führerprinzip", 
die Familienpolitik etc. Das Kollektivistische im Fa- 
schismus entstammt den sozialistischen Tendenzen aus 
der Massenbasis, wie das Individualistische den In- 
teressen des Grosskapitals und der faschistischen Füh- 
rung entstammt. 

82 






Familienbindung und nationales Empfinden 

wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und 
die von ihnen abhängigen sonstigen kulturellen 
Lebensformen dienen im wesentlichen der Ab- 
grenzung gegen unten. 

Die Summe dieser moralischen Haltungen, die 
sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren 
und gemeinhin als „Spiessertum" bezeichnet 
werden gipfelt in den Vorstellungen — wir 
sagen Vorstellungen, nicht Taten - von Ehre 
und Pflicht. Man muss die Wirkung dieser bei- 
den Worte auf das Kleinbürgertum richtig ein- 
schätzen, um es auch der Mühe wert zu halten 
sich mit ihnen eingehend zu beschäftigen Keh- 
ren sie doch auch in der faschistischen Ideologie 
und Rassetheorie immer wieder. Praktisch und 
wirklich zwingen ja gerade die kleinbürger- 
liche Daseinsweise und der kleinbürgerliche 
Warenverkehr vielfach das gerade gegenteilige 
Verhalten auf. In der privaten Warenwirtschaft 
gehört ein Stück Unehrenhaftigkeit sogar zur 
Existenz. Kauft ein Bauer ein Pferd, so wird 
er es in jeder Weise entwerten. Verkauft er 
das gleiche Pferd ein Jahr später, so wird es 
junger besser und tüchtiger geworden sein als 
ein Jahr vorher. Die Pflicht beruht auf Ge- 
schaftinteressen und nicht auf nationalen Cha- 
raktereigenschaften. Die eigene Ware wird im- 
m f^ ? le bes *e sein, die fremde immer die 
schlechtere. Auftreten und Benehmen der klei- 
nen Geschäftsleute zeugen in ihrer Überhöflich- 
keit und in ihrer Unterwerfung unter den Kun- 
den von dem grausamen Zwang der wirtschaft- 
lichen Daseinsweise, die den besten Charakter 
auf die Dauer verbiegen muss. Trotzdem spielt 
der Begriff der Ehre und der Pflicht im Klein- 

83 









D.- Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

bürgertum eine so entscheidende Rolle. Das lässt 
sich aus Verdeckungsabsichten grob materiel- 
ler Herkunft nicht allein erklären. Denn bei 
aller Heuchelei, die psychische Ekstase dabei ist 
echt. Es fragt sich nur, aus welchen Quellen 
sie strömt. 

Sie kommt aus Quellen des unbewussten Ge- 
fühlslebens, die man zunächst nicht beachtet, 
deren Zusammenhang vor allem mit jener Ideo- 
logie man typisch und gern übersieht. Die Ana- 
lyse des Kleinbürgers lässt aber keinen Zweifel 
über die Bedeutung des Zusammenhanges sei- 
nes sexuellen Lebens mit seiner Ideologie von 
Pflicht und Ehre. 

Zunächst spiegelt sich die staatliche und öko- 
nomische Stellung des Vaters in seinem patri- 
archalischen Verhältnis zur übrigen Familie wie- 
der. Der autoritäre Staat hat als seinen Vertre- 
ter in jeder Familie, den Vater, wodurch sie 
sein Wertvollstes Machtinstrument wird. 

Diese Stellung des Vaters gibt seine politi- 
sche Rolle wieder und enthüllt die Beziehung 
der Familie zum autoritären Staat. Die gleiche 
Stellung, die der Vorgesetzte dem Vater gegen- 
über im Produktionsprozess einnimmt hält er 
selbst innerhalb der Familie fest. Und seine 
Untertanenstellung zur Obrigkeit erzeugt er neu 
in seinen Kindern, besonders seinen Söhnen 
Aus diesen Verhältnissen strömt die passive 
hörige Haltung der kleinbürgerlichen Menschen 
zu Führergestalten. Und Hitler baut ohne es 
in der Tiefe zu ahnen, auf diese Haltungen der 
kleinbürgerlichen Massen, wenn er schreibt: 

„Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so 
feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüch- 

84 






Familienbindung und nationales Empfinden 

terne Überlegung, vielmehr gefühlsmässige Empfin- 
dung sein Denken und Handeln bestimmt." 

»Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, son- 
dern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht 
viel Differenzierungen, sondern ein Positiv oder ein 
Negativ, Liebe oder Hass, Recht oder Unrecht, Wahr- 
heit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder 
teilweise usw." („Mein Kampf",,' S. 201). 



Es handelt sich nicht um eine „Veranlagung", 
sondern um ein typisches Beispiel der Repro- 
duktion eines gesellschaftlichen Systems in den 
Strukturen seiner Mitglieder. 

Diese Stellung des Vaters erfordert nämlich 
strengste Sexualeinschränkung der Frauen und 
Kinder. Entwickeln die Frauen unter kleinbür- 
gerlichen Einflüssen eine resignierende Hal- 
tung, die unterbaut ist von verdrängter sexuel- 
^f. r .^ e kellion, so die Söhne neben einer unter- 
tänigen Stellung zur Autorität gleichzeitig 
eine starke Identifizierung mit dem Vater, die 
später zur gefühlsbetonten Identifizierung mit 
jeder Obrigkeit wird. Es wird noch lange ein 
ungelöstes Rätsel bleiben, wie es möglich ist, 
dass Herstellung und Formierung der psychi- 
schen Strukturen der tragenden Schichte einer 
Gesellschaft so genau in das ökonomische Ge- 
fuge und zu den Zwecken der herrschenden 
Klasse passen wie die Teile einer Präzisionsma- 
schine. Was wir als massenpsychologische Re- 
produktion des ökonomischen Systems einer Ge- 
sellschaft beschreiben scheint jedenfalls der 
Kernmechanismus des ideologischen Prozesses 
zu sein. 

Zur Entwicklung der individualistischen 
Struktur des Kleinbürgertums trägt die wirt- 

85 









D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

schaftliche und soziale Konkurrenzeinstellung 
erst sehr spät bei, und was hier an reaktionä- 
ren Ideologien gebildet wird, baut sich sekun- 
där auf psychischen Prozessen auf, die sich 
schon in der Psyche des Kleinkindes abspielen, 
das im Familienmilieu aufwächst. Da ist zu- 
nächst die Konkurrenz zwischen den Kindern 
und den Erwachsenen, ferner die weittragen- 
dere zwischen den Kindern ein und derselben 
Familie in ihrer Beziehung zu den Eltern. Diese 
Konkurrenz, die später in der Erwachsenheit 
und im ausserfamiliären Leben eine überwie- 
gend wirtschaftliche ist, spielt sich in der Kind- 
heit hauptsächlich an den stark gefühlsbeton- 
ten Hass-Liebesbeziehungen der Familienmit- 
glieder ab. Hier ist nicht der Ort, diese Zu- 
sammenhänge weiter in ihre Details zu ver- 
folgen. Das muss Spezialuntersuchungen vor- 
behalten bleiben. Hier genügt die Feststellung, 
dass die sexuellen Hemmungen und Schwächun- 
gen, die die wichtigsten Voraussetzungen des 
Bestehens der bürgerlichen Familie bilden und 
die wesentlichsten Grundlagen der Struktur- 
bildung des kleinbürgerlichen Menschen sind, 
ausschlaggebend mit Hilfe der religiösen Angst 
durchgesetzt werden, die sich derart mit sexu- 
ellem Schuldgefühl erfüllt und gefühlsmässig 
tief verankert. Von hier zweigt das Problem 
der Beziehung der Religion zur Verneinung der 
sexuellen Lust ab. Die sexuelle Schwäche hat 
eine Herabsetzung des Selbstbewusstseins zur 
Folge, die in dem einen Falle durch Brutali- 
sierung des Geschlechtlichen, im anderen durch 
besondere Charakterzüge wettgemacht wird. Der 
Zwang zur sexuellen Selbstbeherrschung, d. h, 

86 



Familienbindung und nationales Empfinden 

zur Aufrechterhaltung der sexuellen Verdrän- 
gung führt zur Entwicklung krampfhafter, be- 
sonders gefühlsmässig betonter Vorstellungen 
von Ehre und Pflicht, Tapferkeit und Selbst- 
beherrschung. 1 ) Die Krampf haftigkeit und Af- 
fektbetontheit dieser psychischen Haltungen 
steht aber in seltsamem Widerspruch zur Wirk- 
lichkeit der persönlichen Verhaltungsweisen. 
Der genital befriedigte Primitive ist ehrenhaft, 
pflichtbewusst, tapfer und beherrscht, ohne viel 
Aufhebens davon zu machen. Diese Haltungen 
sind in seiner Persönlichkeit organisch einge- 
baut. Der genital Geschwächte, in seiner Sexu- 
alstruktur Widerspruchsvolle, muss sich stän- 
dig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen, 
seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen 
Versuchungen zu sein u. s. f. Den Kampf gegen 
die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos 
jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In 
diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle 
diejenigen Strukturelemente des bürgerlichen 
Menschen, die seinen gefühlsmässigen Kern aus- 
machen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur 
am stärksten ausgebildet und am tiefsten ver- 
wurzelt. Aus diesen Quellen, die die zwangs- 
mässige Unterdrückung des Geschlechtslebens 
schafft, bezieht die Mystik jeder Art ihre 
stärksten Energien und zum Teil auch ihre 
Inhalte. Sofern die proletarischen Schichten 
von den gleichen Einflüssen der bürgerlichen 
Gesellschaft erfasst sind, bilden auch ihre Ange- 



1. Besonders lehrreich für die Erkenntnis dieser Zu- 
sammenhänge ist das Buch des Nationalsozialisten 
Ernst Mann „Die Moral der Kraft". 

87 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

hörigen die entsprechenden Haltungen aus ; doch 
sind im Proletariat infolge seiner speziellen, 
vom Kleinbürgertum unterschiedenen Daseins- 
weise die gegenteiligen sexualbejahenden Kräf- 
te im Individuum weit deutlicher ausgeprägt 
und auch bewusster. Die affektive Verankerung 
dieser Strukturen mit Hilfe unbewusster Angst, 
ihre Verschleierung durch vollkommen asexuell 
aussehende psychische Gebilde und Charakter- 
züge sind dafür verantwortlich, dass man mit 
Argumenten des Verstandes allein an diese tie- 
fen Schichten der Persönlichkeit nicht heran- 
kommt. Welche Bedeutung diese Feststellung 
für die praktische Sexualpolitik hat, werden 
wir im letzten Kapitel besprechen. 

Der bewusste und der weit bedeutsamere un- 
bewusste Kampf gegen die eigenen sexuellen 
Ansprüche kann in seiner Bedeutung für die 
Umsetzung der materiellen Daseinsweise der 
Menschen in die verschiedenen Arten metaphy- 
sischen und mystischen Denkens hier nicht im 
einzelnen behandelt werden. Wir erwähnen nur 
eine solche Art, die für die nationalsozialisti- 
sche Ideologie typisch ist. Immer wieder wird 
eine Reihe aufgezählt: persönliche Ehre, Sip- 
penehre, Stammesehre, Volksehre. Sie ist folge- 
richtig aufgestellt nach der Reihenfolge der 
Stufen in der individuellen Ideologiebildung, sie 
unterlässt es nur, den ökonomisch-soziologi- 
schen Boden einzubeziehen: Kapitalismus bzw. 
Patriarchat — Eheinstitution — Sexualunter- 
drückung — persönlicher Kampf gegen die ei- 
gene Sexualität, persönliches kompensatorisches 
Ehrgefühl etc. Der äusserste Punkt der Reihe 
ist die Ideologie der „Volksehre", Sie ist iden- 

83 



Familienbindung und nationales Empfinden 

tisch mit dem gefühlsmässigen Kern des Na- 
tionalgefühls. Zu seinem Verständnis bedarf es 
aber einer weiteren Ableitung. 

Der Kampf gegen die Sexualität der Kinder 
und Jugendlichen von Seiten der vaterrechtli- 
chen Gesellschaft und der von ihr abhängige 
Kampf im eigenen Ich spielt sich im Rahmen 
der Familie ab, die sich bisher als die beste In- 
stitution erwies, diesen Kampf auch erfolgreich 
durchzufuhren. Die sexuellen Ansprüche drän- 
gen natürlicherweise zu jeder Art Berührung 
mit der Welt, zu innigem Kontakt mit ihr in 
den verschiedensten Formen und Inhalten Wer- 
l* n ,?*! ™ ter ? r t ückt > so bleibt ihnen nur die 
Möglichkeit sich im engen Familienrahmen zu 
betätigen. Sexuelle Hemmung ist ebenso die 
Grundlage der familiären Abkapselung der In- 
dividuen, wie sie die Grundlage des indiviHnn 
listischen Persönlichkeitsbewuitseins is M an " 
muss streng beachten, dass metaphysisches in 
dividuahstisches und familiär sentimentales Ver- 
halten nur verschiedene Seiten ein und dessel- 
ben Grundprozesses der Sexualverneinung sTnd 

™dt matenaliStiSCheS ' der Wirklichkeit zu' 
gewandtes, unmystisches Denken mit lockerer 
Haltung zur Familie und zumindest Gleichgül- 
tigkeit gegenüber bürgerlicher Sexualideologie 
einhergeht. Wichtig ist hier, dass die sexuelle 
Hemmung das Mittel der Bindung an die Fa- 
milie ist, dass die Versperrung des Weges in 
die sexuelle Wirklichkeit der Welt die ur- 
sprüngliche biologische Bindung des Kindes 
an die Mutter und auch der Mutter an die Kin- 
der zur unlösbaren sexuellen Fixierung und zur 
Unfähigkeit, andere Bindungen einzugehen, ge- 

89 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

staltet.!) Im Kern der Familienbindung wirkt 
die Mutterbindung. Die Vorstellung von Heimat 
und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäs- 
sigen Kern Vorstellungen von Mutter und Fa- 
milie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes 
im Bürgertum, wie die Familie seine „Nation 
im kleinen" ist. So wird verständlich, aus wel- 
chem Grunde der Nationalsozialist Goebbels als 
Motto zu seinen zehn Geboten im nationalsozia- 
listischen Volkskalender 1932 folgende Worte 
wählte, zweifellos ohne Kenntnis der tieferen 
Zusammenhänge: „Die Heimat ist die Mutter 
Deines Lebens, vergiss das nie." Zum „Mutter- 
tag" 1933 hiess es im „Angriff": 

„Muttertag. Die nationale Revolution hat alles 
Kleinliche weggefegt! Ideen führen wieder und führen 
zusammen — Familie, Gesellschaft, Volk. Die Idee 
des Muttertages ist dazu angetan, das zu ehren, was 
die deutsche Idee versinnbildlicht: Die deutsche Mut- 
ter! Nirgendwo fällt der Frau und Mutter diese Be- 
deutung zu. als im neuen Deutschland. Sie ist die 
Wanrenn eines Familienlebens, aus dem die Kräfte 
spriessen, die unser Volk wieder aufwärts führen sol- 
len, bie — die deutsche Mutter — ist die alleinitre 
Trägerin deutschen Volksgedankens. Mit dem Begriff 
„Mutter ist „Deutschsein" ewig verbunden — kann 
uns etwas enger zusammenführen, als der Gedanke ge- 
meinsamer Mutterehrung?" vrcaanse ge 

So unwahr diese Sätze wirtschaftlich und so- 
zial sind, so sehr treffen sie ideologisch zu. 
Das nationale Empfinden ist demnach die di- 

1. Der „Ödipuskomplex", deu -Freuet entdeckt hat, 
ist also nicht so sehr Ursache, als vielmehr Folge der 
gesellschaftlichen Sexualeinschränkung des Kleinkin- 
des. Doch setzen die Eltern ganz unbewusst die Ab- 
sichten der herrschenden Klasse und Kirche durch. 

9Q 



Familienbindung und nationales Empfinden 

rekte Fortsetzung der familiären Bindung und 
wurzelt wie diese zuletzt in der fixierten 1 ) Mut- 
terbindung. Das ist nicht biologisch auszulegen. 
Denn diese Mutterbindung ist selbst, soweit sie 
sich zu familiärer und nationaler Bindung fort- 
entwickelt, gesellschaftliches Produkt. Sie wür- 
de in der Pubertät anderen Bindungen — etwa 
erwachsenen Sexualbeziehungen — Platz ma- 
chen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen 
des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in 
dieser gesellschaftlich begründeten Verewigung 
wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des 
erwachsenen Menschen, erst hier wird sie zu 
einer reaktionären gesellschaftlichen Kraft. 
Wenn das Proletariat weit geringere nationale 
Einstellungen entwickelt als das Kleinbürger- 
tum, so ist das seiner verschiedenen sozialen 
und dementsprechend lockereren familiären 
Daseinsweise zuzuschreiben. 

Man komme jetzt nicht ängstlich mit dem 
Vorwurf, dass wir die Soziologie biologisieren, 
denn wir haben keinen Augenblick vergessen, 
dass diese verschiedene familiäre Daseins- 
weise des Proletariats selbst durch seine 
Stellung im Produktionsprozess des Kapi- 
tals bedingt ist. Man muss sich doch die 
Frage vorlegen, warum das Proletariat dem In- 
ternationalismus spezifisch zugänglich ist, das 
Kleinbürgertum dagegen so stark dem Nationa- 
lismus zuneigt. In der objektiven ökonomischen 
Lage lässt sich der unterschiedliche Faktor erst 
dann feststellen, wenn man die früher beschrie- 
benen Beziehungen ihrer Ökonomie und ihres 



*) d. h, nie gelösten, unbewusst verankerten. 



91 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

familiären Daseins einbezieht. Anders nicht. Es 
ist nicht überflüssig zu sagen, dass das merk- 
würdige Sträuben mancher marxistischer Theo- 
retiker, das familiäre Dasein als gleichwertigen, 
was die Verankerung des Gesellschaftssystems 
anlangt, sogar entscheidenden Faktor der Ideo- 
ogiebildung anzusehen, auf die eigenen fami- 
liären Bindungen zurückzuführen ist. Man kann 
die Tatsache, dass die familiäre Bindung an die 
Klassengesellschaft die intensivste und affekt- 
vollste ist, nicht hoch genug einschätzen.i) 

Die wesenhafte Einheit von familiärer und 
nationaler Ideologie lässt sich weiter verfolgen. 
Die Familien sind ebenso gegeneinander abge- 
grenzt wie die Nationen im Kapitalismus. Die 
Grundlagen hierfür sind in beiden Fällen letzten 

»iJ^iÄ* scin « ci ecne Bindung an Familie und Mutter 
nicht überwunden hat, oder sie zumindest durch i Klar 
52* SS lV- nC u Urtei ! c ? ausschaltet, der unterlasse es 
die dialektisch-materialistische Methode auf dem Gel 
biete der Ideologiebildung anzuwenden. Wer diese 
Dinge als „Freudismus" abtun wollte, würde damit 
nur seinen wissenschaftlichen Kretinismus beweisen 
Man soll argumentieren und nicht schwätzen, ohne 
Sachkenntnis zu besitzen. Freud hat den ödiniUw«" 
plex entdeckt. Ohne diese Entdeckung Twärerevom" 
tionare Familienpolitik unmöglich. Aber Freud ist Z 
einer derartigen Auswertung und soziologischen T« 
terpretation der Familienbindung ebenso weit enT 
fernt, wie der mechanische Ökonomist vom Versta«,* 
nis der Sexualität als geschichtlichen Faktors M an 
weise etwaige falsche Anwendung des dialektischen 
Materialismus nach, aber man leugne nicht Tatsachen 
die jeder klassenbewusste Arbeiter genau k^ntt l' 
Freud den Ödipuskomplex entdecktl Und C 'erk 
üige die nationalsozialistische Kulturfront nicht mit 
Schlagworten, sondern mit Wissen. Irrtümer sind mög 
lieh und korrigierbar, aber wissenschaftliche Borniert- 
heit ist konterrevolutionär. 
92 






Familienbindung und nationales Empfinden 

Endes wirtschaftliche Motive. Die Familie des 
Kleinbürgers (Beamten, kleinen Angestellten 
usw.) steht unter dem ständigen Druck von 
Nahrungs- und sonstigen materiellen Sorgen. 
Die wirtschaftliche Expansionstendenz der kin- 
derreichen Kleinbürgerfamilie reproduziert so- 
mit gleichzeitig die imperialistische Ideologie: 
„Nation braucht Raum und Nahrung". Deshalb 
muss der Kleinbürger der imperialistischen Ide- 
ologie besonders leicht zugänglich sein. Er ver- 
mag sich mit der personifiziert gedachten Na- 
tion voll zu identifizieren. Derart reproduziert 
sich der objektive staatliche Imperialismus ide- 
ologisch im subjektiven familiären Imperia- 
lismus. 

In diesem Zusammenhang interessant sind 
Sätze von Goebbels aus der Broschüre „Die ver- 
fluchten Hakenkreuzler" (Eher-Verlag, Mün- 
chen, S. 18 u. S. 16), die er als Antwort auf 
die Frage, ob der Jude ein Mensch sei, schrieb: 

„Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mit- 
ten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch: Danke 
schön! Er ist auch ein Mensch I? Das ist kein Mensch, 
das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmeres hat der 
Jude unserer Mutter Deutschland (v. Ref. gesp.) an- 
getan und tut es ihr heute noch an! Er (der Jude) 
hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault, 
unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen ... 
Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls ... 
beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den 
Völkern." 

Man muss die Bedeutung der Vorstellung von 
der Kastration als der Strafe für sexuelle Ver- 
gehen und sexuelles Begehren kennen, man 
muss den sexual-psychologischen Hintergrund 
der Ritualmordphantasien wie des Antisemitis- 

93 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 



} 



t 



> v 



" 






mus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle 
Schuldgefühl und die sexuelle Angst des klein- 
bürgerlichen Menschen richtig einschätzen, um 
beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber 
unbewusst abgefassten Sätze auf das unbewusste 
Gemütsleben der Leser aus den Massen ein- 
wirken. Hier liegt die psychologische Wurzel 
des Antisemitismus der Nationalsozialisten. Das 
sollten nur Vernebelungsaktionen sein? Gewiss, 
auch Vernebelung. Aber daneben übersah man 
leicht, dass der Faschismus ideologisch das Auf- 
bäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich 
totkranken Gesellschaft gegen die schmerzhaf- 
ten, aber entschiedenen Tendenzen des Bolsche- 
wismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen 
Freiheit ist, einer Freiheit, bei deren blossen 
Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todes- 
angst überkommt. Das heisst: mit der Herstel- 
lung der ökonomischen Freiheit durch den 
Kommunismus geht eine Auflösung der alten 
ideologischen und kulturellen sowie insbeson- 
dere sexuellen Einrichtungen einher, der der 
bürgerliche Mensch und auch der Proletarier 
soweit er bürgerlich fühlt, nicht ohne weiteres 
gewachsen ist. Insbesondere die Angst vor der 
„sexuellen Freiheit", die sich in der Vorstel- 
lung des bürgerlichen Denkens als sexuelles 
Chaos und sexuelle Verlotterung darstellt, wirkt 
sich hemmend gegenüber der Sehnsucht nach 
Freiheit vom Joch der wirtschaftlichen Aus- 
beutung aus. Das gilt nur so lange, als eben 
diese Vorstellung vom sexuellen Chaos bestehen 
kann. Und sie kann nur bestehen infolge der 
Ungeklärtheit dieser so sehr entscheidenden 
Fragen in den Massen. Daher gehört die Se- 

: .94 



Familienbindung und nationales Empfinden 

xualpolitik in das Zentrum der Politik über- 
haupt. Und je höher die Stufe des Kapitalismus, 
je weiter und tiefer die ideologische Verbürger- 
lichung des Proletariats somit gegriffen hat, de- 
sto entscheidendere Bedeutung gewinnt die re- 
volutionäre Arbeit an der kulturellen Front, als 
deren Kernelement wir die sexualpolitische Ar- 
beit erkennen. 

In diesem Zusammenspiel der wirtschaftlichen 
und ideologischen Tatbestände stellt sich die 
bürgerliche Familie als erste und wesentlichste 
Reproduktionsstätte des kapitalistischen bzw. 
privatwirtschaftlichen Systems, als seine Ideo- 
logie und Strukturfabrik dar. Der „Schutz der 
Familie" ist daher das erste Gebot der reaktio- 
nären Kulturpolitik. Wesentlich verbirgt sich 
dies ideologisch hinter der Phrase des „Schut- 
zes des Staates, der Kultur und der Zivilisation." 

In einem Wahlaufruf der NSDAP zu den Prä- 
sidentenwahlen 1932 (Adolf Hitler: „Mein Pro- 
gramm") hiess es: 

„Die Frau ist von Natur und Schicksal die Lebens- 
gefährtin des Mannes. Beide sind dadurch aber nicht 
nur Lebens-, sondern auch Arbeitsgenossen. So wie 
die wirtschaftliche Entwicklung der Jahrtausende die 
Arbeitsbereiche des Mannes veränderte, veränderte 
sie logisch auch die Arbeitsgebiete der Frau. Über 
dem Zwang zur gemeinsamen Arbeit steht über Mann 
und Frau noch die Pflicht, den Menschen selbst zu 
erhalten. In dieser edelsten Mission der Geschlechter 
liegen auch ihre besonderen Veranlagungen begründet, 
die die Vorsehung in ihrer urewigen Weisheit als un- 
veränderlich den beiden gab. Es ist daher die höch- 
ste Aufgabe, den beiden Lebensgefährten und Arbeits- 
genossen auf der Welt die Bildung der Familie zu er- 
möglichen. Ihre endgültige Zerstörung würde das 
Ende jedes höheren Menschentums bedeuten. So gross 
die Tätigkeitsbereiche der Frau gezogen werden kön- 

95 



■ ■II 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

nen, so muss doch das letzte Ziel einer wahrhaft or- 
ganischen und logischen Entwicklung immer wieder in 
der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste, 
aber wertvollste Einheit im Aufbau des ganzen Staats- 
gefüges. Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann. Das 
Kind aber adelt die Mutter." 

In dem gleichen Aufruf hiess es unter der 
Überschrift „Rettung des Bauernstandes heisst 
Rettung der deutschen Nation": 

„Ich sehe weiter in der Erhaltung und Förderung 
eines gesunden Bauerntums den besten Schutz gegen 
soziale Erkrankungen sowohl als gegen das rassische 
Verkommen unseres Volkes." 

Man darf hier an die traditionelle Familien- 
bindung des Bauerntums keinen Augenblick 
vergessen, wenn man nicht fehlgehen will. Wei- 
ter: 

„Ich glaube, dass ein Volk zur Erhöhung seines 
Widerstandes nicht nur nach vernunftmässigen Grün- 
den leben soll, sondern dass es auch eines geistigen 
und religiösen Haltes bedarf. Die Vergiftung und 
Zersetzung des Volkskörpers durch die Erscheinungen 
unseres Kulturbolschewismus sind fast noch verhee- 
render, als die Wirkung des politischen und wirt- 
schaftlichen Kommunismus." 

Als eine Partei, die sich ebenso wie der italie- 
nische Faschismus als die Vertreterin des Gross- 
agrariertums betätigt, muss die NSDAP die 
Massen der Klein- und Mittelbauern gewinnen, 
sich in ihnen eine soziale Basis schaffen. Dabei 
kann sie natürlich nicht die Interessen des 
Grossagrariertums zur Propaganda herausstrei- 
chen, sondern sie kann nichts anderes, als an die 
Strukturen der Kleinbauern appellieren, wie sie 
durch Zusammenfallen der familiären und wirt- 

96 






Familienbindung und nationales Empfinden 

schaftlichen Daseinsweise erzeugt wurden. Nur 
vom Standpunkt dieser Schichte des Kleinbür- 
gertums gilt der Satz, dass Mann und Frau Ar- 
beitgenossen sind. Das gilt nicht für das Prole- 
tariat. Es gilt auch für den Bauern nur formal, 
denn die Bauernfrau ist in Wirklichkeit die 
Magd des Bauern. Doch entscheidend ist, dass 
die faschistische Ideologie vom hierarchischen 
Aufbau des Staates in dem hierarchischen Auf- 
bau der Bauernfamilie vorgebildet und verwirk- 
licht ist. Die Bauernfamilie ist eine Nation im 
kleinen und jedes Milglied dieser Familie ist 
mit dieser kleinen Nation identifiziert. Der Bo- 
den für die Aufnahme der ganz anders, näm- 
lich in den Gesetzen des Kapitalismus begrün- 
deten grossimperialistischen Ideologie ist somit 
in der Bauernschaft und überall dort im Klein- 
bürgertum, wo wirtschaftlicher Kleinbetrieb und 
Familie zusammenfallen, geschaffen. Dabei fällt 
aber die Idealisierung der Mutterschaft auf. Wie 
hängt diese Idealisierung mit der politischen 
Sexualreaktion zusammen? 



5. DAS NATIONALISTISCHE SELBST- 
GEFÜHL 

In der massenindividuellen Struktur des 
Kleinbürgers fallen nationale und familiäre Bin- 
dung zusammen. Diese Bindung wird besonders 
intensiviert durch einen Prozess, der ihr nicht 
nur parallel läuft, sondern sich vielmehr aus ihr 
ableitet. Der nationalistische Führer bedeutet 
massenpsychologisch die Verkörperung der Na- 
tion. Nur insofern dieser Führer die Nation ent- 

7 97 



I 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

sprechend dem nationalen Fühlen der Massen 
verkörpert, entsteht auch eine persönliche Bin- 
dung an ihn. Sofern er in den Massenindividuen 
die historisch ausschlaggebenden familiären Ge- 
fühlsbindungen zu erwecken versteht, ist er 
gleichzeitig eine Vatergestalt, d. h. er konzen- 
triert auf sich alle die affektiven Einstellungen, 
die seinerzeit dem strengen, aber auch schützen- 
den und repräsentativen Vater (repräsentativ 
zumindest in der Vorstellung des Kindes) gal- 
ten. Man hörte oft von nationalsozialistischen 
Parteigängern, mit denen man über die Unnah- 
barkeit des so widerspruchsvollen Programms 
der NSDAP sprach, Hitler verstünde das alles 
so viel besser, er würde schon alles schaffen. 
Hier kommt die kindliche Schutzeinstellung zum 
Vater deutlich zum Ausdruck. Noch wesentli- 
cher ist aber die Identifizierung der Massenin- 
dividuen mit dem Führer. Sie ist von entschei- 
dender Bedeutung bei der Taktik der revolutio- 
nären Partei, die die Loslösung der Anhänger 
einer anderen Partei von ihren Führern zum Zie- 
le hat. Je hilfloser das Massenindividuum auf- 
grund seiner Erziehung in Wirklichkeit ist, de- 
sto stärker prägt sich dann die Identifizierung 
mit dem Führer aus, desto mehr verkleidet sich 
das kindliche Anlehnungsbedürfnis in die Form 
des Sich-mit-dem-Führer-eins-Fühlens. Diese 
Identifizierungsneigung des kleinbürgerlichen 
Menschen ist die psychologische Grundlage sei- 
nes nationalen Narzissmus, d. h. seines der „Grös- 
se der Nation" entliehenen Selbstgefühls. Der 
Kleinbürger entdeckt sich selbst im Führer, im 
autoritären Staat, er fühlt sich aufgrund dieser 
Identifizierung als Verteidiger des „Volkstums", 

98 






l 



Das nationalistische Selbstgefühl 

der „Nation", was nicht hindert, dass er gleich- 
zeitig, ebenfalls aufgrund dieser Identifizierung, 
die Masse verachtet und sich ihr individuell ge- 
genüberstellt. Seine materielle und sexuelle 
Elendslage erstickt psychologisch in der ihn er- 
höhenden Idee des Herrentums und genialen 
Führertums, so sehr, dass er in geeigneten Au- 
genblicken sein völliges Herabsinken und Her- 
abgedrücktwerden zur bedeutungslosen, kritik- 
losen Gefolgschaft nicht wahrnimmt. Im Gegen- 
satze dazu ist der klassenbewusste Arbeiter, also 
derjenige, der die kleinbürgerliche Struktur in 
sich ausser Funktion gesetzt oder durch Schu- 
lung und anderes vertilgt hat, mit seiner Klasse 
statt mit dem Führer, mit der internationalen 
werktätigen Masse statt mit der nationalen Hei- 
mat identifiziert. Er fühlt sich selbst als Führer, 
nicht aufgrund einer Identifizierung, sondern 
aufgrund dieses Bewusstseins, der notwendiger- 
weise aufsteigenden Klasse anzugehören. Welche 
psychologischen Kräfte entscheiden dabei? Das 
ist nicht schwer zu beantworten. Die Affekte, 
die diesem so verschiedenen massenpsychologi- 
schen Typ zugrundeliegen, sind die gleichen 
wie die bei Nationalisten. Nur der Inhalt der 
Gefühlserregung ist verschieden. Der Drang zur 
Identifikation ist der gleiche, aber ihr Objekt 
sind der Klassengenosse anstelle des Führers, 
die eigene Klasse anstelle der herrschenden, die 
unterdrückten Völker der Erde anstelle der Fa- 
milie. Hier steht Kollektivismus gegen Indivi- 
dualismus, was keineswegs bedeutet, dass der 
Arbeiter dadurch aufhört, sein Persönlichkeits- 
bewusstsein zu nähren, wie ja auch der indivi- 
dualistische Kleinbürger in der Krise vom 

99 






r 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 



„Dienst an der Gemeinschaft", von „Gemeinnutz 
geht vor Eigennutz" zu schwärmen beginnt. 

WAber der verschiedene Inhalt dieses Persönlich- 
keitsbewusstseins macht es möglich, dass das 
kollektivistische Fühlen beim Arbeiter nicht in 
Gegensatz zum individualistischen tritt, son- 
dern sich gerade aus diesem Kollektivbewusst- 
sein ableitet. Es ist also falsch, wenn in manchen 
kommunistischen Theorien die Meinung zum 
Ausdruck kommt, als ob das kollektivistische 
Fühlen mit dem individualistischen in absolutem 
Gegensatz stünde. Das ist auch von Marx nie 
derart verstanden worden. 

Wir müssen nun noch fragen, welcher Tatbe- 
stand der Energie der Identifizierung und Bin- 
dung eine so gänzlich verschiedene Richtung 
beim klassenbewussten Arbeiter gibt. Klassen- 
massig, im grossen Masstabe betrachtet, ist es in 
erster Linie die kollektive Produktionsweise in 
der Fabrik, die in krassem Gegensatz steht zur 
individuellen Arbeitsweise beim Bauer oder 
kleinen Kaufmann. Aber, wie immer, müssen wir 
auch hier fragen, mit welchen Mitteln sich die- 
se verschiedene Daseinsweise verschieden um- 
setzt. Die soziale Lage ist ja nur die äussere 
Bedingung, allerdings die zuerst entscheidende, 
die den ideologischen Prozess im Massenindivi- 
duum bestimmt. Die Triebkräfte sind zu erfor- 
schen, mit deren Hilfe die verschiedenen Inhalte 
der politischen Welt zu ausschliesslicher Herr- 
schaft im Gefühlsleben gelangen. Da steht nun 
zunächst fest: Der Hunger ist es nicht, er ist 
zumindest nicht der ausschlaggebende Faktor 
sonst wäre die internationale Revolution längst 
da. So sehr diese Feststellung althergebrachte 
100 






■■ 



Das nationalistische Selbstgefühl 

vulgäre Vorstellungen zu stürzen geeignet ist, 
an ihr ist nicht zu rütteln. 

Wenn soziologisch bornierte Psychoanalytiker 
die Revolution aus der infantilen Revolte gegen 
den Vater erklären, so haben sie den Revolutio- 
när aus intellektuellen Kreisen im Auge, bei 
dem dieser Faktor in der Tat entscheidend ist. 
Das trifft aber nicht für die Arbeiterklasse zu. 
Die Unterdrückung der Kinder durch die Väter 
ist in der Arbeiterschaft nicht geringer, ja 
manchmal brutaler, als im Kleinbürgertum. Das 
kommt also nicht in Frage. Wollen wir diese 
Frage beantworten, so müssen wir nach dem spe- 
zifisch Unterscheidenden suchen, und das fin- 
den wir in der Produktionsweise dieser Schich- 
ten und in der von ihr abhängigen Einstellung 
zur Sexualität. Um keinem Misverständnis zu 
verfallen: Die Sexualität wird auch im Proleta- 
riat von den Eltern unterdrückt. Aber die Wi- 
dersprüche, denen die Arbeiterkinder ausge- 
setzt sind, sind im Kleinbürgertum nicht vorhan- 
den. Im Kleinbürgertum sehen wir nur Unter- 
drückung des Geschlechtslebens. Was in dieser 
Schichte als der Moral widersprechende Sexual- 
betätigung zum Vorschein kommt, ist reiner 
Ausdruck des Widerspruches zwischen sexuel- 
lem Drang und sexueller Hemmung. Beim Pro- 
letariat ist das anders. Neben der kleinbürgerli- 
chen Ideologie enthält es hier mehr, dort weni- 
ger ausgesprochen seine eigenen sexuellen An- 
schauungen, die jenen gerade entgegengesetzt 
sind. Dazu kommt der Widerspruch aus der 
Wohnungsweise und dem kollektivistischen Da- 
sein im Betrieb. Das alles wirkt der kleinbür- 
gerlichen Sexualideologie entgegen. 

101 



TW 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

Der Durchschnittstypus des Proletariers un- 
terscheidet sich demnach vom Durchschnittstyp 
des Kleinbürgers durch seine offene und selbst- 
verständliche Haltung zur Sexualfrage, mag er 
ausserdem noch so unklar und verbürgerlicht 
sein. Er erweist sich immer sexualökonomischer 
Anschauung als unvergleichlich zugänglicher, 
als der typische Kleinbürger. Und das, was ihn 
zugänglicher macht, ist das Fehlen gerade der- 
jenigen Haltungen, die wir in der nationalsozia- 
listischen und kirchlichen Ideologie zentral fin- 
den: der Identifizierung mit der Staatsmacht, 
dem „obersten Führer", der Nation. Auch dies 
beweist, dass die Kernelemente der nationalso- 
zialistischen Ideologie sexualökonomischen Ur- 
sprungs sind. Beide, sowohl nationalistische Ide- 
ologie, als auch die Art der Sexualökonomie, 
sind natürlich letzten Endes durch die verschie- 
dene Klassenlage bedingt. 

Dass das Kleinbauerntum infolge seiner in- 
dividualistischen Wirtschaft und der so grossen 
Abhängigkeit von der familiären Isolierung zum 
Bewusstsein seiner Klassenlage so schwer ge- 
langen kann, dagegen der Ideologie der politi- 
schen Reaktion so leicht zugänglich ist, dass 
dies der Grund der Schere zwischen sozialer 
Lage und Ideologie ist, haben wir bereits aus- 
geführt. Gekennzeichnet durch strengstes Pa- 
triarchat und dementsprechende Moral entwic- 
kelt es aber doch proletarische — wenn auch 
total verzerrte — Formen in seinem Sexualle- 
ben. Wie im Proletariat — im Gegensatz zum 
Kleinbürgertum — beginnt auch in der Bauern- 
schaft die Jugend früh mit dem Geschlechtsver- 
kehr; sie ist aber infolge der strengen patriar- 
102 






, 



1 



Das nationalistische Selbstgefühl 

chalischen Erziehung sehr gestört oder aber 
brutal, das Geschlechtsleben spielt sich heimlich 
ab, die Geschlechtskälte der Mädchen ist Regel, 
Sexualmorde und brutale Eifersucht sowie 
Knechtung der Frauen sind typische bäuerliche 
Sexualerscheinungen. Die Hysterie wütet nir- 
gends so sehr wie auf dem Lande. Die Ehe ist 
das wirtschaftlich streng diktierte Endziel der 

Erziehung. 

In der Industriearbeiterschaft hat sich in den 
letzten Jahrzehnten ein ideologischer Prozess 
abgespielt, den man in der sogenannten Arbei- 
teraristokratie in Reinkultur sehen kann, der 
aber auch die durchschnittliche Industriearbei- 
terschaft nicht verschont hat. Es handelt sich 
um die sogenannte Verbürgerlichung des Prole- 
tariats in der Epoche der bürgerlichen Demo- 
kratie. Um zu begreifen, auf welchem Wege der 
Faschismus in die Arbeiterschaft, wenn auch 
sehr spät, gewöhnlich dann, wenn das Kleinbür- 
gertum bereits die Massenbasis gebildet hat, 
eindringen kann, muss man den ideologischen 
Prozess im Proletariat im Übergang von der bür- 
gerlichen Demokratie zu den vorbereitenden 
Phasen der Diktatur der Notverordnungen, der 
Ausschaltung des Parlaments bis zur offenen 
faschistischen Diktatur verfolgen. 



ob 



6. IDEOLOGISCHE VERBÜRGERLI- 
CHUNG DES PROLETARIATS 

Der Faschismus dringt in die Arbeiterkreise 
von zwei Seiten ein: durch das sogenannte 
„Lumpenproletariat" (ein Ausdruck, gegen den 

103 



i 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 



<F* 



sich alles sträubt) mithilfe direkter materieller 
Korrumpierung und durch die „Arbeiteraristo- 
kratie" sowohl mithilfe von materieller Korrup- 
tion, als auch ideologischer Beeinflussung. 
Wenn von Irreführung des Proletariats gespro- 
chen wird, so bleibt doch eine Reihe von Fra- 
gen ungelöst. Es ist zwar richtig, der Faschis- 
mus verspricht in seiner politischen Skrupello- 
sigkeit jedem jedes: so zum Beispiel hiess es in 
einem Artikel von Dr. Jarmer „Kapitalismus" 
(„Angriff", 24.-9.-31.): 

„Hugenberg hat sich auf dem deutschnationalen Par- 
teitag in Stettin mit erfreulicher Deutlichkeit gegen 
den internationalen Kapitalismus gewandt. Er hat aber 
gleichzeitig betont, dass ein nationaler Kapitalismus 
notwendig wäre." 

„Damit hat er zugleich erneut die Trennungslinie 
zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten 
gezogen; denn diese sind sich darüber klar, dass die 
jetzt auf der ganzen Welt zusammenbrechende kapi- 
talistische Wirtschaftsordnung durch eine andere er- 
setzt werden muss, weil selbst beim nationalen Kapi- 
talismus keine Gerechtigkeit herrschen kann." 

Das klingt fast kommunistisch. Hier appel- 
liert der faschistische Propagandist direkt und 
mit bewusst betrügerischer Absicht an das revo- 
lutionäre Klassenbewusstsein des Industriear- 
beiters. Die grosse Frage ist aber, warum die 
nationalsozialistische Industriearbeiterschaft 
nicht bald erkennt, dass der Faschismus jedem 
jedes verspricht. Es ist ebenso bekannt gewor- 
den, dass Hitler mit Grossindustriellen verhan- 
delte, von ihnen Geld bekam und Streikverbot 
versprach. Es muss an der psychologischen Struk- 
tur des durchschnittlichen Arbeiters liegen, 
dass sich ein solcher Widerspruch in ihm nicht 
auswirkt, trotz intensiver kommunistischer Auf- 

104 



Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats 

deckungsarbeit. Im Gespräch mit dem amerika- 
nischen Journalisten Knickerbocker sagte Hit- 
ler zur Frage der Anerkennung der ausländi- 
schen Privatschulden: 

„Ich bin überzeugt davon, dass die internationalen 
Bankiers bald einsehen werden, dass Deutschland un- 
ter einer nationalsozialistischen Regierung ein siche- 
rer Anlageort ist, dass ein Zinsfuss von rund 3 % für 
Kredite bereitwilligst zugestanden werden wird. ) 

Wenn die revolutionäre Propaganda die kar- 
dinale Aufgabe hat, das Prolatariat zu „entne- 
beln", so kann das nicht einfach dadurch ge- 
schehen, dass man an sein notabene unentwickel- 
tes bzw. unreines Klassenbewusstsein appelliert, 
auch nicht allein dadurch, dass man ihm die 
objektive ökonomische und politische Lage 
ständig vor Augen führt, gewiss nicht allein 
dadurch, dass man den an ihm geübten Betrug 
ständig entlarvt. Die allererste Aufgabe der re- 
volutionären Propaganda ist die verständnis- 
vollste Rücksichtnahme auf die Widersprüche 
im Arbeiter, auf die Tatsache, dass nicht etwa 
ein klares Klassenbewusstsein überdeckt oder 
vernebelt ist, sondern dass die das Klassenbe- 
wusstsein bildenden Elemente der psychischen 
Struktur teils unentwickelt, teil durchsetzt mit 
gegenteiligen kleinbürgerlichen Strukturbe- 
standteilen sind. Das Herausdestillieren des 
Klassenbewusstseins der breiten Massen ist 
wohl die Grundaufgabe der Propaganda. 

In Zeiten der „ruhigen" bürgerlichen Demo- 
kratie stehen dem beschäftigten Industriearbei- 
ter zwei grundsätzliche Möglichkeiten offen: 
die Identifizierung mit dem ideologisch gesehen 

l ) „Deutschland so oder so", S. 211. 

105 




'* 



Iß 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

über ihm stehenden Kleinbürgertum oder die 
Identifizierung mit seiner Klasse, die schon im 
Kapitalismus eigene Lebensformen entwickelt, 
welche konträr sind zu den bürgerlichen. Das er- 
ste bedeutet den Kleinbürger beneiden, ihn nach- 
ahmen und, venn die materielle Möglichkeit sich 
ergibt, seine Lebensgewohnheiten ganz aufneh- 
men. Das zweite bedeutet, diese Ideologien und 
Lebensgewohnheiten des Kleinbürgers ablehnen, 
sich von ihm abgrenzen, ihn verneinen und die 
eigene Lebensart betonen und zur Schau tra- 
gen. Infolge der gleichzeitig einwirkenden ge- 
sellschaftlichen und der klassenmässigen Daseins- 
weise sind beide Möglichkeiten gleich stark, 
jedenfalls stehen beide offen. Die revolutionäre 
Bewegung hat auch die Bedeutung der dem An- 
scheine nach nebensächlichen kleinen Gewohn- 
heiten des Alltags nicht richtig eingeschätzt, ja 
sehr oft sie in falscher Weise ausgenützt. Das 
kleinbürgerliche Schlafzimmer, das sich der 
Prolet anschafft, sobald er Möglichkeiten dazu 
hat, auch wenn er sonst klassenbewusst ist, die 
dazugehörige Unterdrückung der Frau, auch 
wenn er Kommunist ist, die „anständige" Klei- 
dung am Sonntag, der kleinbürgerliche Tanz 
und tausend andere „Kleinigkeiten" haben bei 
chronischer Wirkung unvergleichlich mehr kon- 
terrevolutionären Einfluss, als tausende von 
Versammlungsreden und Flugzetteln gutma- 
chen können. Das kleinbürgerliche Leben wirkt 
unausgesetzt, dringt in jede Ritze des Alltags 
ein, die Fabriksarbeit und der Flugzettel wir- 
ken dagegen nur stundenweise. Es ist daher ein 
schwerer Fehler, wenn man den kleinbürgerli- 
chen Instinkten der Arbeiterschaft Rechnung 

,06 



_- 



Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats 

trägt, indem man, „um an die Massen heranzu- 
kommen", kleinbürgerliche Feste veranstaltet, 
ohne gleichzeitig das Kleinbürgerliche ausser 
Funktion zu setzen und die keimenden proleta- 
rischen Lebensformen mit allen Mitteln hervor- 
zutreiben. Mit allen Mitteln der Propaganda. In 
dem „Abendkleid", das sich eine Arbeiterfrau zu 
einem solchen „Fest" anlegt, liegt mehr Wahr- 
heit über die Psychologie des Arbeiters im Ka- 
pitalismus als in hundert Artikeln. Das Abend- 
kleid oder das familiäre Biertrinken sind ja nur 
äusserer Ausdruck eines Vorganges in dem be- 
treffenden Arbeiter, ein Zeichen dafür, dass die 
Anlage zum Empfang sozialdemokratischer oder 
nationalsozialistischer Propaganda bereits vor- 
handen ist. Wenn dann der Faschist noch dazu 
Abschaffung des Proletariats verspricht und da- 
mit Erfolg hat, so hat in 90 von 100 Fällen nicht 
sein Wirtschaftsprogramm, sondern das Abend- 
kleid gewirkt. Wir müssen mehr, viel mehr, auf 
diese Dinge des Alltagslebens achten. An ihnen 
formiert sich das Klassenbewusstsein oder das 
Gegenteil konkret, nicht an den Phrasen und 
Worten, die nur augenblickliche Begeisterung 
wecken. Hier wartet wichtige und fruchtbare 
Arbeit. Die revolutionäre Massenarbeit in 
Deutschland beschränkte sich fast ausschliess- 
lich auf die Propaganda gegen den Hunger. Wie 
es sich zeigte, war das eine zu schmale Basis, wenn 
auch das wichtigste Argument. Das Leben der 
Massenindividuen spielt sich in tausendfältigen 
Dingen hinter der Kulisse ab. Der jugendliche 
Arbeiter etwa hat tausend Sorgen sexueller und 
kultureller Natur, die ihn beherrschen, sobald 
er seinen Hunger nur ein wenig gestillt hat. Der 



•# 



107 






; 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

Kampf gegen Hunger steht in erster Front, aber 
er darf nicht allein dastehen, die Kulissenvor- 
gange des menschlichen Lebens müssen in das 
grellste Licht der Bühne des Affenteaters, in 
dem wir Zuschauer und Mitwirkende gleichzei- 
tig sind, energisch, ohne Rückhalt und beden- 
kenlos gerückt werden. 

Es würde sich zeigen, dass das Proletariat 
schon im Kapitalismus unendlich schöpferisch 
wäre in den Versuchen, seine Lebensformen 
und Anschauungsweisen zu demonstrieren. Ein 
Eindringen der Politik in die feinsten Ritzen 
des Alltags würde jene Affekte und Gefühle in 
die kleinbürgerlich durchseuchten Massen tra- 
gen, die den trockenen politischen Tatbestän- 
den unüberwindlichen Schwung verleihen wür- 
den. Eine detaillierte, konkrete, sachgemässe 
Durcharbeitung dieser Fragen ist unerlässlich. 
Sie wird den Sieg der Revolution sichern und 
beschleunigen. Man komme nicht mit dem öden 
Einwand, solche Vorschläge seien nur Mittel, 
Illusionen zu wecken, als ob sich der Mensch im 
Kapitalismus verändern könnte. Dieser Kampf 
um Hervorkehrung aller Ansätze proletarischer 
Lebensart bedeutet nicht Sich-bequem-machen 
im Kapitalismus, sondern kämpferische Ab- 
grenzung gegen das Bürgerliche, bedeutet 
kämpferische Bejahung der Keime proletari- 
scher Lebenskultur zu dem Zweck, dass der 
Scham, Proletarier zu sein, entgegengewirkt 
werde. Denn so lange im Arbeiter das klein- 
bürgerliche Element gegenüber dem klassen- 
mässigen überwiegt, wird er auch zum revolu- 
tionären Bekenntnis und dementsprechenden 
Verhalten schwer zu haben sein. Auf diese 
108 












Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats 

massenpsychologische Arbeit und Propaganda 
kann auch noch aus einem anderen Grunde 
nicht verzichtet werden. 

Die proletarische Scham, die das genaue Ge- 
genteil des proletarischen Selbstbewusstseins 
und ein Kernelement der Neigung zur Imita- 
tion des Kleinbürgers ist, bildet auch diejenige 
massenpsychologische Grundlage, auf die sich 
der Faschismus stützt, sobald er in die Arbei- 
terschaft einzudringen beginnt. Der Faschismus 
verspricht Abschaffung der Klassen, das heisst 
Abschaffung des Proletarierseins und dadurch 
klingt er an die kleinbürgerlichen Einstellun- 
gen im Arbeiter an. Sofern Proletarier aus dem 
Dorfe der Stadt zugewandert sind, brachten sie 
noch frische bäuerlich-familiäre Ideologie mit, 
die, wie bereits gezeigt wurde, den besten 
Nährboden für die imperialistisch-nationalisti- 
sche Ideologie darstellt. Dazu kommt noch ein 
ideologischer Prozess in der Arbeiterbewegung, 
dem bisher bei der Beurteilung der Chancen der 
revolutionären Bewegung in den Ländern mit 
niederer und solchen mit hoher industrieller 
Entwicklung allzu wenig Beachtung geschenkt 
wurde. 

Als Kautsky noch nicht zum wütenden Has- 
ser der Revolution herabgesunken war, stellte 
er fest, dass der Arbeiter im hochindustriellen 
England politisch tiefer steht, als der Arbeiter 
im industriell niedrigen Russland (Soziale Re- 
volution, 2. Aufl. S. 59—60). Die politischen 
Ereignisse der letzten 15 bis 20 Jahre in den 
verschiedenen Ländern der Welt lassen keinen 
Zweifel darüber, dass in den Ländern mit niede- 
rer industrieller Entwicklung sich revolutionäre 

109 











i 






D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

Erhebungen leichter ergaben, etwa in China 
und Indien, als in England, Amerika und 
Deutschland. Und dies trotz einer geschulteren, 
von Klassenbewusstsein erfüllteren, organisier- 
teren, auf alte Traditionen zurückgreifenden 
Arbeiterbewegung in den zuletzt genannten 
Landern. Zieht man die Bürokratisierung der 
Arbeiterbewegung ab, die selbst ein krankhaf- 
tes Symptom ist, das erst aus der Geschichte zu 
erklären wäre, so ergibt sich die Frage nach 
der ausserordentlich starken Verwurzelung der 
Sozialdemokratie und des Tradeunionismus in 
den westlichen Ländern. Massenpsychologisch 
ist die Sozialdemokratie basiert auf den klein- 
bürgerlichen Strukturen ihrer Anhänger. Zu 
erklären bleibt historisch also die Wandlung, 
die das Proletariat im Hochkapitalismus durch- 
macht, derart durchmacht, dass die sozialdemo- 
kratische Ideologie trotz des Fiaskos der so- 
zialdemokratischen Politik, trotz jahrzehntelan- 
gen, wiederholten und nachgewiesenen Irre- 
führens zunächst nicht zum Wanken zu 
bringen war. Wie beim Faschismus liegt auch 
hier das Problem nicht nur und nicht so sehr 
an der Politik der Parteiführung, als an der 
massenpsychologischen Basis in der Arbeiter- 
schaft. Auf keinen Fall kann hier auf einmal 
eine detaillierte Analyse dieser Beziehungen 
gegeben werden. Dazu fehlen noch alle Vor- 
aussetzungen. Ich will nur auf einige, wie mir 
scheint, sehr bedeutsame Tatbestände hinwei- 
sen, die wahrscheinlich dem Politiker bei ge- 
nauer Durchforschung manches Rätsel lösen 
werden. Und diese Tatbestände sind die: 

Im Frühkapitalismus besteht neben der schar- 
110 






Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats 

fen ökonomischen Grenze zwischen Bourgeoisie 
und Proletariat eine ebenso scharfe ideologi- 
sche, insbesondere moralische Grenze. Der Man- 
gel jeder Art Sozialpolitik, die entnervende 
sechzehn-, achzehn- und mehrstündige Arbeit, 
das niedrige Lebensniveau der Industriearbei- 
terschaft, wie es klassisch in Engels „Lage der 
arbeitenden Klasse in England" geschildert 
ist, lassen keine ideologische Angleichung des 
Proletariats an die Bourgeoisie aufkommen. 
Die bürgerlichen Strukturen sind kaum ange- 
legt, es sei denn in Form von demütiger Erge- 
benheit in das Schicksal. Die massenpsycholo- 
gische Stimmung des Proletariats inklusive der 
Bauernschaft ist durch eine indifferente 
Stumpfheit ausgezeichet. Da aber bürgerli- 
ches Denken fehlt, hindert diese Stumpfheit 
nicht, dass revolutionäre Empfindungen bei 
entsprechenden Anlässen wie unvermittelt her- 
vorbrechen und sich zu einer unerwarteten In- 
tensität und Geschlossenheit entwickeln kön- 
nen. Im Spätkapitalismus hingegen ist es an- 
ders. Hat die organisierte Arbeiterbewegung 
einmal sozialpolitische Errungenschaften ge- 
bracht, wie beschränkte Arbeitszeit, Wahlrecht, 
Sozialversicherung, so wirkt sich dies zwar 
einerseits in einer klassenmässigen Erstar- 
kung aus, gleichzeitig aber setzt auch ein ge- 
genteiliger Prozess ein: mit der Hebung des 
Lebensstandards die Angleichung an die K ein- 
bourgeoisie, mit der Entwicklung des proleta- 
rischen Solidaritätsgefühls der „Blick nach 
oben". In Zeiten der Prosperität intensiviert 
sich diese Verbürgerlichung, um dann wenn 
die Krise hereinbricht, sich nachträglich im 

111 



D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch. 

Sinne einer schweren Behinderung der Weiter- 
entfaltung des klassenmässigen Fühlens zum 
revolutionären Bewusstsein auszuwirken. 

Die rein politisch unverständliche Stärke der 
Sozialdemokratie in den Krisenjahren ist der 
vollendete Ausdruck dieser bürgerlichen 
Durchseuchung des Proletariats. Es kommt 
nun darauf an, sie auch in ihren Grundelemen- 
ten zu begreifen. Hier ragen zwei Tatbestände 
hervor: Die Führerbindung, d. h. die Uner- 
schütterlichkeit des Glaubens an die Unfehl- 
barkeit des politischen Führers 1 ) (trotz aller 
gleichzeitig bestehenden, jedoch nicht zur Ak- 
tion durchdringender Kritik) und die sexual- 
moralische Angleichung an die Kleinbourgeoi- 
sie. Diese Verbürgerlichung wird von der 
Grossbourgeoisie überall energisch gefördert. 






;! 






1 ) Im Sommer 1932 sprach ich nach einer Versamm- 
lung in Leipzig mit einigen sozialdemokratischen Ar- 
beitern, die der Versammlung beigewohnt hatten, über 
die politische Situation. Sie gaben allen Argumenten 
gegen den von der Sozialdemokratie propagierten de- 
mokratischen Weg zum Sozialismus Recht und unter- 
schieden sich auch sonst kaum von kommunistisch ge- 
sinnten. Ich fragte den einen, warum sie nicht die 
Konsequenzen zögen und sich von ihren Führern lös- 
ten. Die Antwort verblüffte mich, so sehr stand sie 
im Widerspruch zur bisher geäusserten Meinung: „Un- 
sere Führer werden ja doch wissen, was sie tun". Hier 
war der Widerspruch, in dem der sozialdemokratische 
Arbeiter steckt, fast handgreiflich zu fassen: Bindung 
an den Führer, die die gleichzeitig bestehende Kritik 
seiner Politik nicht zur Aktion kommen lässt. Man be- 
griff besser den schweren Fehler, den man beging, 
wenn man den sozialdemokratischen Arbeiter durch Be- 
schimpfen .seines Führers zu gewinnen versuchte. Da 
er mit dem Führer identifiziert war, konnte er dadurch 
nur abgestossen werden. 

112 










ideologische Verbürgerlichung des Proletariats 

Hatte sie in ihren Anfängen den Knüppel 
buchstäblich geschwungen, so hält sie ihn jetzt 
— wo der Faschismus noch nicht den Sieg er- 
rang — in der Reserve, bringt ihn nur dem 
klassenbewussten Arbeiter gegenüber zur An- 
wendung; für die Masse der sozialdemokrati- 
schen Arbeiterschaft hat sie dagegen ein ge- 
fährlicheres Mittel: die kleinbürgerliche Ide- 
ologie auf allen Gebieten. 

Gelangt nun der sozialdemokratische Arbei- 
ter in die Krise, die ihn zum Kuli degradiert, 
so leidet die Entwicklung seines Klassenbe- 
wusstseins unter der Verbürgerlichung. Er 
bleibt entweder trotz aller Kritik und Aufleh- 
nung im Lager der Sozialdemokratie, oder er 
geht, unentschlossen und schwankend infolge 
der schweren Widersprüche von revolutionärer 
und kleinbürgerlicher Gesinnung, enttäuscht 
von seiner Führung zur NSDAP, dort besseren 
Ersatz suchend, der Linie des geringsten Wi- 
derstandes folgend. Es liegt dann nur mehr an 
der richtigen oder falschen Taktik der revolu- 
tionären Partei, ob er diese seine Neigung auf- 
gibt und zur vollen Bewusstheit seiner wirkli- 
chen Stellung im kapitalistischen Produktions- 
prozess kommt. Die kommunistische Behaup- 
tung, dass die sozialdemokratische Politik den 
Faschismus in den Sattel hebe, trifft also nicht 
nur politisch, sondern, was wesentlich ist, auch 
massenpsychologisch zu. Enttäuschung an der 
Sozialdemokratie bei gleichzeitig wirkendem 
Widerspruch zwischen Verelendung und bür- 
gerlichem Denken muss ins Lager des Faschis- 
mus führen, wenn die revolutionäre Partei 
schwere Fehler begeht. So begann etwa in Eng- 

s H3 



,11* 



- I ' ■ 
















D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Pasch. 

land nach dem Fiasko der Politik der Labour- 
Party 1930—31 eine Faschisierung der Arbei- 
terschaft, die dann bei den Wahlen 1931 statt 
zum Kommunismus zur Rechten abschwenkte. 
Auch das demokratische Skandinavien ist von 
solcher Entwicklung aufs schwerste bedroht. 

Wenn Rosa Luxemburg die Auffassung ver- 
trat, dass revolutionärer Kampf mit „Kulis" 
nicht möglich sei (Ges. W., Bd. 4, S. 647), so 
fragte sich, was für ein Kuli gemeint ist: der 
Kuli vor der Verbürgerlichung oder der nach 
erfolgter Verbürgerlichung. Vorher besteht ei- 
ne schwer zu durchbrechende Stumpfheit, aber 
auch eine grosse Fähigkeit zu revolutionären 
Aktionen; nach der Verbürgerlichung haben 
wir einen enttäuschten Kuli vor uns. Wird er 
nicht schwerer zur Revolution zu haben sein? 
Wie lange kann der Faschismus seine Ent- 
täuschung an der Sozialdemokratie plus seiner 
„Rebellion gegen das System" für seine eigenen 
Zwecke ausmützen? So wenig wir diese folgen- 
schweren Fragen jetzt entscheiden können, so 
sicher ist, dass die internationale revolutionäre 
Strategie dies berücksichtigen muss, wenn sie 
die Hauptangriffspunkte bestimmen will. 



114 



III. KAPITEL 

Die Rassetheorie 

1. IHR INHALT 

Die theoretische Achse des deutschen Fa- 
schismus ist seine Rassetheorie. Das Wirt- 
schaftsprogramm der sogenannten 25 Punkte 
erscheint in der faschistischen Ideologie nur 
als ein Mittel zur Höherzüchtung der germani- 
schen Rasse und ihres Schutzes vor Rassenver- 
mischung, die nach Ansicht der Nationalsozia- 
listen immer den Niedergang der „höheren 
Rasse" bedeute. Mehr als das, auch der Nieder- 
gang einer Kultur sei auf Rassenvermischung 
zurückzuführen. Die „Reinhaltung der Rasse 
und des Blutes" sei daher die vornehmste Auf- 
gabe einer Nation, zu deren Erfüllung man je- 
des Opfer bringen müsse. Diese Theorie wird 
gegenwärtig in Deutschland in Form der Ju- 
denverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis 
umgesetzt und wirkt sich solcherweise ge- 
schichtlich aus. 

Die Rassetheorie geht von der Voraussetzung 
aus, dass als „ehernes Gesetz" in der Natur die 
ausschliessliche Paarung jedes Tieres mit sei- 
ner eigenen Art gelte. Nur ausserordentliche 
Umstände wie etwa Gefangenschaft vermögen 
dieses Gesetz zu durchbrechen und zur Rassen- 
mischung zu führen. Die Natur räche sich aber 
und stemme sich mit allen Mitteln dagegen, 
entweder durch Unfruchtbarmachung der Ba- 

115 



H 






■1 






' 






Die Rassetheorie 

starde oder durch Einschränkung der Frucht- 
barkeit der späteren Nachkommen. Bei jeder 
Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener 
„Höhe" müsse die Nachkommenschaft ein Mit- 
telding darstellen. Die Natur erstrebe aber eine 
Höherzüchtung des Lebens, daher widerspre- 
che die Bastardierung dem Willen der Natur. 
Die Auslese der höheren Art erfolge auch im 
Kampf ums tägliche Brot, bei dem die schwä- 
cheren, also rassisch weniger wertigen Wesen 
untergehen. Und das läge folgerichtig im „Wil- 
len der Natur", denn jede Weiterbildung und 
Höherzüchtung würde aufhören, wenn die 
Schwächeren, die zahlenmässig in der Mehrheit 
sind, die zahlenmässig schwächeren hochwerti- 
gen Arten verdrängen würden. Die Natur un- 
terwerfe also die Schwächeren schwereren Le- 
bensbedingungen, die ihre Zahl beschränken, 
den Rest aber lasse sie nicht wahllos zur Ver- 
mehrung zu, sondern treffe eine rücksichtslose 
Wahl nach Kraft und Gesundheit. 

Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften 
übertragen. Die geschichtliche Erfahrung lehre, 
dass bei „Blutsvermengung" des Ariers mit 
„niedrigeren" Völkern als Ergebnis immer der 
Niedergang des Kulturträgers herauskäme. Die 
Folge wären Niedersenkung des Niveaus der 
höheren Rasse und körperlicher und geistiger 
Rückgang, damit aber auch der Beginn eines si- 
cher fortschreitenden „Siechtums". 

Der nordamerikanische Kontinent würde, 
heisst es bei Hitler, so lange stark bleiben, „so- 
lange nicht auch er der Blutschande zum Opfer 
fällt" (S. 314), das heisst, sich mit den nicht- 
germanischen Völkerschaften vermischt. 

116 







Ihr Inhalt 

„Eine solche Entwicklung herbeiführen, 
heisst denn aber doch nichts anderes als Sünde 
treiben wider den Willen des ewigen Schöp- 
fers/ 4 (S. 314). 

Nach Hitler ist die Menschheit einzuteilen 
in kulturbegründende, kulturtragende und kul- 
turzerstörende Rassen. Als Kulturträger komme 
nur der Arier in Betracht, denn von ihm stam- 
men die „Fundamente und Mauern der mensch- 
lichen Schöpfungen". Die asiatischen Völ- 
kerschaften wie etwa die Japaner und Chinesen 
hätten als Kulturträger nur arische Kulturen 
übernommen und in eigene Formen gebracht. 
Die Juden dagegen seien eine kulturzerstören- 
de Rasse. Für die Bildung hoher Kultur sei das 
Vorhandensein „niederer Menschen" erste Vor- 
aussetzung gewesen. Die erste Kultur der Men- 
schen hätte auf dieser Verwendung niederer 
Menschenrassen gefusst. Zuerst hätte der Be- 
siegte und erst viel später das Pferd den Pflug 
gezogen. Der Arier hatte sich als Eroberer die 
niederen Massen unterworfen und dann deren 
Tätigkeit unter seinem Befehl, nach seinem 
Wollen und für seine Ziele geregelt. Sobald 
sich aber die Unterworfenen die Sprache und 
Eigenart der „Herren" anzueignen begannen 
und die scharfe Schranke zwischen Herren und 
Knecht fiel, gab der Arier die Reinheit seines 
Blutes auf und verlor dafür „den Aufenthalt im 
Paradies". Dadurch verlor er auch seine kultu- 
relle Fähigkeit. 

„Die Blutsvermischung und die dadurch bedingte 
Senkung des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache 
des Absterbens alter Kulturen; denn die Menschen 
gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern 

117 






II l 



? 



' 






I ' 









Die Rassetheorie 

am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem rei- 
nen Blute zu eigen ist." (Kampf, S. 324). 

Eine sachgemässige Widerlegung dieser 
Grundauffassung vom fachlichen Standpunkt 
kommt hier nicht in Frage. Diese Auffassung 
entlehnt ein Argument der Darwinschen Hypo- 
these der natürlichen Zuchtwahl, die in man- 
chen Elementen ebenso reaktionär ist, wie der 
Darwinsche Nachweis der Abstammung der Ar- 
ten aus niederen Lebewesen revolutionär war. 
Sie bildet die theoretische Verschleierung der 
imperialistischen Funktion der faschistischen 
Ideologie. Denn wenn die Arier das einzige 
kulturschöpfende Volk sind, so dürfen sie kraft 
göttlicher Berufung Auspruch auf die Welt- 
herrschaft erheben. Und eine der kardinalen 
Forderungen Hitlers ist in der Tat die Erwei- 
terung der Grenzen des deutschen Reiches 
insbesondere „nach Osten", d. h. auf sowjetrus- 
rischem Gebiet. Die Verherrlichung des impe- 
rialistischen Krieges liegt demnach völlig im 
Rahmen dieser Ideologie : 

„Das Ziel, für das im Verlaufe des Krieges aber ge- 
kämpft wurde, war das erhebendste und gewaltigste, 
das sich für Menschen denken lässt: es war die Frei- 
heit und Unabhängigkeit unseres Volkes, die Sicher- 
heit der Ernährung für die Zukunft und — die Ehre 
der Nation." („Mein Kampf", S. 194). 

„Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung 
des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und 
unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Rein- 
haltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit 
des Vaterlandes, auf dass unser Volk zur Erfüllung 
der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewie- 
senen Mission heranzureifen vermag." (S. 234). 

Uns interessiert hier ausschliesslich die sub- 



113 



Ihr Inhalt 

jektive Herkunft und Formierung dieser objek- 
tiv den Interessen des Finanzkapitals gl«cn- 
gerichteten Ideologien, vor allem ^s affektive 
Übersehen von Widersprüchen und Widersin- 
nigkeiten innerhalb der Rassetheorie. So über- 
sehen die Rassetheoretiker, die sich auf ein 
biologisches Gesetz berufen, dass die Rasse- 
züchtung an Tieren ein Kunstprodukt ist. Es 
kommt nicht in Frage, ob Hund und Katze, son- 
dern ob Schäferhund und Windhund eine „in- 
stinktive Abneigung" gegen Vermischung ha- 

C Dic Rassetheoretiker, die so alt sind wie der 
Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen 
bei Völkerschaften, wo die Vermischung infol- 
ge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit 
fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch 
in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung ge- 
winnt. Wir gehen hier nicht auf die andere Un- 
sinnigkeit ein, als ob die rassische Beschran- 
kung und nicht das Gegenteil, die promiskue 
Paarung, in der Natur das Gegebene wäre. Es 
kommt bei der vorliegenden Untersuchung der 
Rassetheorie, die statt von Tatsachen zu Wer- 
tungen von den Wertungen zu den Tatsachen 
gelangt, nicht auf ihren rationalen Gehalt an. 
Wir werden auch keinem Faschisten, der von 
der überragenden Wertigkeit seines Germanen- 
tums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumen- 
ten beikommen, schon deshalb nicht weil er 
nicht mit Argumenten sondern mit gefuhlsmas- 
sigen Wertungen operiert. Es ist also für die 
politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu 
wollen, dass die Neger und Italiener nicht we- 
niger „rassisch" sind als die Germanen. Er 

119 



i 












II 



k 






i 



Die Rassetheorie 

fühlt sich als der „Höhere", und damit ist 
Schluss. Es ist nur möglich, die Rassetheorie 
dadurch zu entkräften, dass man über die sach- 
liche Widerlegung hinaus ihre verschleierten 
Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im We- 
sentlichen zwei: die objektive Funktion, den 
imperialistischen Tendenzen einen biologi- 
schen Mantel umzuhängen, und die subjektive 
Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, 
unbewusster Strömungen im Fühlen des natio- 
nalistischen Menschen zu sein und bestimmte 
osychische Haltungen zu verdecken. Nur die 
letzte Funktion soll hier erörtert werden. Uns 
interessiert hier ganz besonders, dass Hitler 
von „Blutschande" spricht, wenn ein Arier mit 
einem Nichtarier sich vermischt, während man 
unter Blutschande üblicherweise gerade den 
'ieschlechtsverkehr unter Blutsverwandten be- 
zeichnet. Woher diese Dummheiten einer „Theo- 
- ie", die sich anmasst, die Grundlage einer 
neuen Welt, eines „dritten Reiches" zu werden? 
Wenn wir uns mit der Vorstellung vertraut ma- 
chen, dass auch die irrationalen, affektiven 
Grundlagen einer solchen Hypothese letzten 
Endes bestimmten realen Seinsbedingungen ihr 
Dasein verdanken; wenn wir uns von der Idee 
freimachen, dass die Auffindung solcher auf ra- 
tionaler Basis entstandener irrationaler Quellen 
von Weltanschauungen Verschiebung der Frage 
in die Metaphysik bedeuten, so eröffnen wir 
den Weg zur Quelle der Metaphysik selbst, er- 
fassen wir nicht nur ihre historischen Entste- 
hungsbedingungen, sondern auch ihre materiel- 
le Substanz. Die Ergebnisse mögen selbst für 
sich sprechen. 

120 






• 






Objektive und subjektive Funktion der Ideologie 

2. OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE 
FUNKTION DER IDEOLOGIE 

Den häufigsten Anlass zu Misverständnissen 
über die Beziehungen einer Ideologie zu ihrer 
historischen Funktion bietet die Nichtunter- 
scheidung ihrer objektiven und ihrer subjek- 
tiven Funktion. Die Anschauungen der herr- 
schenden Klasse sind zunächst nur zu verste- 
hen aus der ökonomischen Basis, der sie ent- 
stammen. So haben die faschistische Rasse- 
theorie und die nationalistische Ideologie über- 
haupt eine konkrete Beziehung zu den imperi- 
alistischen Zielen einer führenden Schichte, die 
Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur zu lo- 
sen versucht. Der deutsche und der franzosi- 
sche Nationalismus des Weltkrieges appellier- 
ten jeweils an die „Grösse der Nation", hinter 
der wirtschaftliche Expansionstendenzen , des 
deutschen und französischen Grosskapitals 
standen. Aber diese wirtschaftlichen Faktoren 
machen nicht das Substantielle der entspre- 
chenden Ideologie aus, sondern nur den histo- 
rischen und ökonomischen Boden, auf dem 
diese Ideologien sich bilden können, die Be- 
dingungen, deren Vorhandensein für die Ent- 
stehung solcher Ideologien unerlässlich ist. 
Gelegentlich ist der Nationalismus objektiv gar 
nicht gesellschaftlich (seinem Gehalt nach) re- 
präsentiert, noch weniger mit rassischen Ge- 
sichtspunkten in Einklang zu bringen. Im alten 
Oesterreich-Ungarn fiel der Nationalismus 
nicht mit der Rasse, sondern mit der „Heimat" 
Oesterreich-Ungarn zusammen. Als Bethmann- 
Hollweg 1914 das „Germanentum gegen das 
Slawentum" aufrief, hätte er folgerichtig ge- 

121 






« 



I 



Die Rassetheorie 

gen Oesterreich, diesen überwiegend slawischen 
Staat vorgehen müssen. Die ökonomischen Be- 
dingungen einer Ideologie erklären also zwar 
ihre materielle Basis und ihre objektiv- 
geschichtliche Rolle, aber sie sagen umittelbar 
nichts über den subjektiven materiellen Kern 
dieser Ideologien aus. Dieser ist unmittelbar 
gegeben als psychische Apparatur der Men- 
schen, die den betreffenden ökonomischen Be- 
dingungen unterworfen sind und solchermas- 
sen den historisch-ökonomischen Boden in der 
Ideologie reproduzieren. Indem diese Men- 
schen Ideologien bilden, formen sie sich selbst 
um; im Prozess der Ideologiebildung ist ihr 
materieller Kern aufzufinden. Die Ideologie er- 
scheint somit doppelt materiell fundiert: mit- 
telbar durch die ökonomische Struktur der Ge- 
sellschaft, unmittelbar durch die typische 
Struktur der sie produzierenden Menschen, die 
selbst wieder durch die ökonomische Struktur 
der Gesellschaft bedingt ist. 

Die Struktur des Faschisten zeichnet sich 
durch metaphysisches Denken, Gottgläubigkeit, 
Beherrschtheit von abstrakten, ethischen Ide- 
alen und Glauben an die göttliche Bestimmung 
des „Führers" aus. Diese Grundzüge sind ver- 
knüpft mit einer tieferen Schichte, die sich 
kennzeichnet durch starke autoritäre Bindung 
an ein Führerideal oder die Nation. Der Glaube 
an ein „Herrenmenschentum" wird zur stärk- 
sten Triebfeder sowohl der Bindung der na- 
tionalsozialistischen Massen an den „Führer" 
als auch zur psychologischen Grundlage der ei- 
genen freiwilligen Einreihung in die Gefolg- 
schaft. Daneben wirkt aber entscheidend eine 

122 



! 

u 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

intensive Identifizierung mit dem Führer, die 
die eigene Unterwerfung als geführtes Massen- 
mitglied verschleiert. Jeder Nationalsozialist 
fühlt sich in seiner psychischen Abhängigkeit 
als „kleiner Hitler". Auf die materielle Grund- 
lage dieser Grundhaltungen kommt es aber 
nunmehr an. Es müssen die energetischen 
Funktionen aufgesucht werden, die, selbst 
durch Erziehung und gesamte soziale und ge- 
sellschaftliche Atmosphäre bedingt, die 
menschlichen Strukturen derart umbilden, dass 
in ihnen Neigungen derart reaktionären Cha- 
rakters sich bilden können, dass sie, sich vor 
Freiheitseifer heiser schreiend, die Fesseln 
nicht merken, die ihnen angelegt werden, dass 
sie in voller Identifizierung mit dem „Führer 
befangen die Schmach nicht empfinden, die 
ihnen mit der Bezeichnung als „Untermen- 
schen" angetan wird 

Stellt man die Blendung durch die weltan- 
schauliche Phraseologie ab, fixiert man ihren 
affektiven Inhalt und versteht man, sie in 
richtige Beziehung zu den sexualideologischen 
Knotenpunkten des Prozesses der Ideologie- 
bildung zu bringen, so fällt zunächst die ste- 
reotype Gleichsetzung von „Rassenvergiftung" 
und „Blutsvergiftung" auf. Was bedeutet das? 






3. RASSEREINHEIT, BLUTSVERGIFTUNG 
UND MYSTIZISMUS 

„Parallel der politischen, sittlichen und mo- 
ralischen Verseuchung des Volkes lief schon 
seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzli- 

123 





i 






II 

■ 



Die Rassetheorie 

che gesundheitliche Vergiftung des Volkskör- 
pers durch die Syphilis," schreibt Hitler (S. 
269). Die Ursache läge in erster Linie „in un- 
serer Prostituierung der Liebe. Auch wenn 
ihr Ergebnis nicht die fürchterliche Seuche 
wäre, wäre sie dennoch von tiefstem Schaden 
für das Volk, denn es genügen schon die mo- 
ralischen Verheerungen, die die Entartung mit 
sich bringt, um ein Volk langsam, aber sicher 
zugrunde zu richten. Diese Verjudung unseres 
Seelenlebens und Mammonisierung unseres 
Paarungstriebes werden früher oder später un- 
seren gesamten Nachwuchs verderben ..." (S. 
270). „Die Sünde wider Blut und Rasse ist die 
Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich 
ergebenden Menschheit." (S. 272). Rassenver- 
mischung führt also nach dieser Ansicht zur 
Blutsvermischung und derart zur „Blutsver- 
giftung des Volkskörpers". „Die sichtbarsten 
Resultate dieser Massenverseuchung (durch die 
Syphilis) kann man ... finden in unseren — 
Kindern. Besonders diese sind das traurige 
Elendserzeugnis der unaufhaltsam fortschrei- 
tenden Verpestung unseres Sexuallebens; in 
den Krankheiten der Kinder offenbaren sich 
die Laster der Eltern" (S. 271). 

Unter den „Lastern der Eltern" kann hier nur 
gemeint sein, dass diese sich mit fremdrassi- 
gem, also besonders jüdischem Blut vermeng- 
ten, wodurch die jüdische „Weltpest" Ein- 
gang ins „reine" arische Blut fand. Es ist be- 
merkenswert, wie innig diese Vergiftungs- 
theorie mit der politischen These von der Ver- 
giftung des Deutschtums durch den „Weltju- 
den Karl Marx" verknüpft ist. In der so ge- 

124 






< 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

fühlsbetonten Sphäre der Syphilisangst haben 
die politische Weltanschauung und der Anti- 
semitismus des Nationalsozialismus eine ihrer 
stärksten Quellen. Erstrebenswert und mit al- 
len Mitteln erkämpfenswert ist dann folge- 
richtig die Rassenreifl/ze/t, das heist die Rein- 
heit des Blutes. 1 ) 

Hitler betont an vielen Stellen, dass man der 
Masse nicht mit Argumenten, Beweisen und 
Bildung, sondern nur mit Gefühlen und Glau- 
ben kommen dürfe. Aber in der Sprache des 
Nationalsozialismus wie etwa bei Kayserhng 
Driesch, Rosenberg, Stapel usf. fallt das Nebel- 
hafte und Mystische derart auf, dass sich eine 
Analyse dieser Eigenart gewiss lohnt. 

Was verbirgt sich also hinter dem Mystizis- 
mus der Faschisten, der die Massen derart 

faszinierte? 

— 5Ä — Die ^Times" schrieben am 23. August 1933: 
Der Sohn und die Tochter des amerikanischen 
Gesandten in Berlin waren unter den Fremden, die 
sich am Sonntag, den 13. August, in Nürnberg auf- 
hielten und sahen, wie ein Mädchen durch die Strassen 
geführt wurde; der Kopf war kahl geschoren und an 
den abgeschnittenen Zöpfen war ein Plakat befestigt, 
mit der Aufschrift: „Ich habe mich einem Juden hin- 
gegeben." Verschiedene andere Fremde waren ebenfalls 
Augenzeugen dieses Schauspiels. Zu Jeder Zeit sind 
fremde Touristen in Nürnberg, und die .Parade .mit 
dem Mädchen wurde in einer solchen Wege »Mft 
führt, dass wenig Leute im Zentrum der Stadt ver- 
säumt haben können, sie zu sehn Das Madchen, das 
von einigen Fremden als ■chlank.e Arechlich und, 
ungeachtet ihres geschorenen Kopfes und ihres Zu- 
Stands, als ausnehmend hübsch beschrieben wird, 
wurde die Reihe der internationalen Hotels am Bahn- 
hof entlang geführt, durch die Haupstrassen deren 
Verkehr vom Pöbel versperrt war, und von Restau- 
rant zu Restaurant. Sie war eskortiert von Sturm- 

125 









I 



. 



: 



! 



* 




Die Rassetheorie 

Die Antwort darauf gibt die Analyse der von 
Rosenberg im „Mythus des 20. Jahrhunderts" 
geführten „Beweise" für die Gültigheit der fa- 
schistischen Rassetheorie. Rosenberg schreibt 
gleich im Beginne: 

„Die Werte der Rassenseele, die als treibende Mäch- 
te hinter dem neuen Weltbild stehen, sind noch nicht 
lebendiges Bewusstsein geworden. Seele aber bedeu- 
tet Rasse von innen gesehen. Und umgekehrt ist Rasse 
die Aussenwelt der Seele." (Mythus, S. 22). 

Hier haben wir eine der unendlich vielen, ty- 
pisch nationalsozialistischen Phrasen vor uns, 
Sätze, die auf den ersten Blick keinen Sinn ver- 
raten, ja ihn absichtlich zu verhüllen scheinen, 
auch vor dem Schreiber dieser Sätze selbst. 
Man muss aber die massenpsychologische Wir- 
kung gerade solcher mystisch verhüllter Sätze 



truppen, ihr folgte eine Menge, die von einem zuver- 
lässigen Beobachter auf etwa 2000 Leute geschätzt 
wurde. Sie stolperte einige Male und wurde dann von 
den begleitenden starken SA-Leuten wieder auf die 
Füsse gestellt, manchmal auch in die Höhe gehoben, 
damit auch die entfernteren Zuschauer sie sehn konn- 
ten; bei diesen Gelegenheiten wurde sie vom Pöbel 
angebrüllt und verhöhnt und spasshafterweise einge- 
laden, eine Rede zu halten. In Neu-Ruppin, in der 
Nähe von Berlin, wurde ein Mädchen, weil es sich 
nicht erhoben hatte, als das Horst-Wessel-Lied ge- 
spielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen 
durch die Stadt geführt. Sie trug am Rücken und auf 
der Brust je ein Plakat mit der Inschrift: „Ich scham- 
lose Kreatur habe es bewagt, sitzen zu bleiben als das 
Horst-Wessel-Lied gesungen wurde und habe so die 
Opfer der Nationalen Revolution missachtet." Später 
wurde das Mädchen noch einmal durch die Strassen 
geführt. Die Zeit des Schauspiels war vorher in der 
Ortszeitung angegeben worden, sodass grosse Men- 
schenmengen sich versammeln konnten." 

126 






Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

kennen und gebührend einschätzen, um auch 
ihre politische Wirkung zu begreifen. Weiter: 

„Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und 
Seelenmystik zugleich, die Geschichte der Religion 
des Blutes aber ist umgekehrt die grosse Welterzäh- 
lung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer 
Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler." 

Die Anerkennung dieser Tatsache ziehe aber 
sofort die Erkenntnis nach sich, dass das 
Kämpfen des Blutes und die geahnte Mystik 
des Lebensgeschehens nicht zwei verschiedene 
Dinge seien, sondern ein und dasselbe auf ver- 
schiedene Weise darstellen. „Kämpfen des Blu- 
tes" „geahnte Mystik des Lebensgesche- 
hens" „Aufstieg und Untergang der Völ- 
ker" „Blutsvergiftung" „jüdische 

Weltpest" , dies alles liegt auf einer Linie, 

die beim „Kämpfen des Blutes" beginnt und 
weltanschaulich bei blutigem Terror gegen 
den „jüdischen Materialismus" von Marx und 
beim Judenboykott endet. 

Man tut der Sache des historischen Materia- 
lismus nichts Gutes an, wenn man diese Mystik 
nur verlacht, statt sie zu entlarven und auf den 
ihr zugrundeliegenden materiellen Gehalt zu 
reduzieren. Wir nehmen vorweg: das meiste 
und praktisch wichtigste daran ist sexual- 
ökonomischer Energieprozess. Die "*'*** 
schauung von der „Seele" und ihrer „Reinheit 
ist die Weltanschauung der Asexuahtat, der 
„sexuellen Reinheit", also im Grunde eine Er- 
scheinung der durch die patriarchalische und 
privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten 
Sexualverdrängung und Sexualscheu. 

127 






i 

1 



! ; 



Die Rassetheorie 

„Auseinandersetzung zwischen Blut und Um- 
welt, zwischen Blut und Blut ist die letzte uns 
erreichbare Erscheinung, hinter der zu suchen 
und zu forschen, uns nicht mehr gegönnt ist," 
sagt Herr Rosenberg. Er irrt; wir sind unbe- 
scheiden genug, zu forschen und den lebendigen 
Prozess „zwischen Blut und Blut" nicht nur 
unsentimental aufzudecken, sondern sogar 
dadurch der nationalsozialistischen Welt- 
anschauung einen Eckpfeiler zu zertrümmern. 

Wir wollen Rosenberg selbst unsere These 
beweisen lassen, dass der Kern der faschisti- 
schen Rassetheorie Angst und Scheu vor der 
sinnlichen, körperlichen Sexualität ist. 

Rosenberg versucht die Gültigkeit der These, 
dass Auf- und Niedergang von Völkerschaften 
auf Rassenvermischung, das heisst auf Bluts- 
vergiftung zurückzuführen sei, an Hand der al- 
ten Griechen zu beweisen. Die Griechen seien 
ursprünglich die Repräsentanten nordischer 
Rassereinheit gewesen. Die Götter Zeus, Apollo 
und Athene wären „Zeichen echtester grosser 
Frömmigkeit", „Hüter und Schützer des Edlen 
und Frohen", „Wahrer der Ordnung, Lehrer der 
Harmonie der Seelenkräfte, des künstlerischen 
Masses" gewesen. Homer hätte gar kein Inter- 
esse für das „Extatische" gehabt. Athene re- 
präsentiere 

„das Sinnbild des dem Haupt des Zeus entsprunge- 
nen, lebensnagenden Blitzes, die weise besonnene Jung- 
frau, Hüterin des Helenenvolkes und treue Schirmerin 

seines Kampfes." . 

„Diese hochfrommen griechischen Seelenschopfun- 
gen zeigen das geradwachsige innere, noch reine Le- 
ben des nordischen Menschen, sie sind im höchsten 

128 



1=L 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

Sinne religiöse Bekenntnisse und Ausdruck eines Ver- 
trauens in die eigene Art." (Mythus, S. 41 ff.). 

Diesen Göttern des Reinen, Hohen, Religösen 
werden nun die vorderasiatischen Götter ge- 
genübergestellt : 

„Waren die griechischen Götter Heroen des Lichts 
und des Himmels, so trugen die Götter der vorderasia- 
tischen Nichtarier alle erdhafte Züge an sich." 

Demeter und Hermes wären die wesenhaften 
Erzeugnisse dieser „Rassenseelen"; Dionysos 
als der Gott der Extase, der Wollust, des ent- 
fesselten Mänadentums bedeute den „Einbruch 
der fremden Rasse der Etrusker und den Beginn 
des Unterganges des Griechentums" 

Ganz willkürlich greift hier Rosenberg, nur 
um seine These von der Rassenseele zu stützen, 
die Götter heraus, die den einen der gegen- 
sätzlichen Prozesse der Kulturbildung der 
Griechen darstellen, stempelt sie als griechisch 
und die anderen, die ebenso dem Griechentum 
entstammen, werden als fremde Götter darge- 
stellt. Schuld am Misverständnis der grie- 
chischen Geschichte, meint Rosenberg, sei die 
Geschichtsforschung, die „rassisch verflachte" 
und das Griechentum falsch deutete. 

„Mit Schauern der Verehrung erfühlt die grosse 
deutsche Romantik, wie immer dunklere Schleier vor 
die lichten Götter des Himmels gezogen werden und 
taucht tief unter in das Triebhafte, Gestaltlose, Dä- 
monische. Geschlechtliche, Extatische, Chtonische, 
in die Mutterverehrung (v. Ref. gesp.)- Dies alles aber 
noch immer als griechisch bezeichnend." („Mythus", 
S. 43). 

Die idealistische Philosophie aller Schattie- 
9 129 



Die Rassetheorie 

rungen untersucht nicht die Bedingungen die- 
ses Auftauchens des „Extatischen" und „Trieb- 
haften" in bestimmten Kulturepochen; sie ver- 
strickt sich vielmehr in der abstrakten Wer- 
tung dieser Erscheinung vom Standpunkt der- 
selben Kulturbetrachtung, die sich so weit über 
das „Erdhafte" erhob, dass sie an dieser Erhe- 
bung selbst zugrundegeht. Auch wir gelangen 
zu einer Wertung solcher Erscheinungen, aber 
diese Wertungen leiten wir ab aus den Bedin- 
gungen des gesellschaftlichen Prozesse, der als 
„Niedergang" einer Kultur in Erscheinung 
tritt, um die vorwärtsdrängenden und die brem- 
senden Kräfte zu erkennen, die Erscheinung des 
Niedergangs als historisches Ereignis zu be- 
greifen und nicht zuletzt die Keime der neuen 
Kulturformen zu sichten, denen wir dann zur 
Geburt verhelfen. Wenn Rosenberg im Ange- 
sicht des Niedergangs der kapitalistischen Kul- 
tur des 20. Jahrhunderts mit dem Schicksal 
der Griechen mahnt, so stellt er sich auf die 
Seite der konservativen Tendenzen der Ge- 
schichte, trotz seiner Beteuerungen über die 
„Erneuerung" des Deutschtums. Wir gewinnen 
festen Halt bei der Stellungnahme zur Kultur- 
revolution und ihres sexualökonomischen Kerns, 
wenn es uns gelingt, den Standpunkt der poli- 
tischen Reaktion zu erfassen und seinen Zusam- 
menhang mit den Interessen der ihren Unter- 
gang sichtenden herrschenden Klasse zu begrei- 
fen. Für den bürgerlichen Kulturphilosophen, 
der seinen Klassenstandpunkt nicht ändern kann 
oder will, gibt es keine andere Möglichkeit, als 
entweder — trotz grosser wissenschaftlich-revo- 
lutionärer Taten — zu resignieren und skep- 

130 






Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

tisch zu werden oder aber mit „revolutionären" 
Mitteln das Rad der Geschichte rückwärts 
drehen zu wollen. Hat man aber den Standort 
der Kulturbetrachtung gewechselt, im Zusam- 
menbruch der alten Kultur nicht etwa den Un- 
tergang der Civilisation überhaupt, sondern den 
einer bestimmten Civilisation erkannt, die mit 
der neuen Civilisationsform „schwanger geht", 
so ergibt sich selbsttätig auch ein Wechsel in 
der Wertbetrachtung derjenigen Kulturelemen- 
te, die man vorher als kulturpositiv bezw. — 
negativ einschätzte. Es kommt nur darauf an, 
zu begreifen, welche Beziehung die wirtschaft- 
liche Revolution und die Arbeiterbewegung zu 
den Erscheinungen hat, die man vom Stand- 
punkt des Bürgers als Niedergangssymptome 
betrachtete. Es ist zum Beispiel mehr als blos 
eine Frage der Wirtschaftsform, wenn sich die 
politische Reaktion für die Vaterrechtstheorie, 
der Marxismus dagegen für die Mutterrechts- 
theorie in der Ethnologie ausspricht. Abgesehen 
von den sachlichen Aussagen der Geschichts- 
forschung wirken bei dieser Stellungnahme af- 
fektive Interessen in den beiden konträren so- 
ziologischen Strömungen, die objektiven, bisher 
unerkannt gebliebenen Prozessen der Sexual- 
ökonomie entsprechen. Das historisch nachge- 
wiesene Mutterrecht ist nicht nur die Organi- 
sation des wirtschaftlichen Urkommunismus, 
sondern auch die der sexualökonomisch orga- 
nisierten Gesellschaft.!) Das Patriarchat hinge- 



') Vergl. hierzu Morgan („Urgesellschaft") und En- 
gels („Ursprung der Familie"), ferner Malinowski 
(„Das Geschlechtsleben der Wilden") und Reich 
(„Der Einbruch der Sexualmoral"). 



131 



Die Rassetheorie 



\ 



, 



gen ist nicht nur privatwirtschaftlich, sondern 
auch sexualmoralisch negativ organisiert. 

Hatte die Kirche noch lange über die Zeit hin- 
aus, da sie die wissenschaftliche Forschung in 
Händen hatte, die These von der sittlichen Na- 
tur des Menchen, seinem monogamen Wesen u. 
s. f. fest verankert, so drohten Bachofens Funde 
alles über den Haufen rennen. Die sexuelle Or- 
ganisation des Mutterrechts verblüffte nicht we- 
gen der so völlig verschiedenen Blutsverwandt- 
schaftsorganisation, sondern wegen der mit ihr 
verbundenen Freiheit des Geschlechtslebens, 
dessen eigentliche Grundlage, den Mangel des 
Privateigentums an Produktionsmitteln, erst 
Morgan und nach ihm Engels erkannten. Rosen- 
berg als der Ideologe des Faschismus muss kon- 
sequent die Herkunft der altgriechischen Kul- 
tur aus — nachgewiesenen — mutterrechtlichen 
Vorstufen leugnen und statt dessen zur Annah- 
me greifen, dass „die Griechen hierin (im Dio- 
nysischen) physisch und geistig fremdes Wesen 
annahmen". 

Die faschistische Ideologie trennt (wie wir 
später hören werden, im Gegensatz zur christli- 
chen Ideologie) die erotisch-sinnlichen Bedürf- 
nisse von den abwehrenden moralischen Gefüh- 
len der im Patriarchat erzeugten menschlichen 
Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiede- 
nen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend 
mit licht, hehr, himmelhaft, rein, dagegen „vor- 
derasiatisch" gleich triebhaft, dämonisch, ge- 
schlechtlich, extatisch. Daraus erklärt sich dann 
die Ablehnung der „romantisch-intuitiven" For- 
schung etwa Bachofens als der Theorie des nur 
„angeblich" altgriechischen Lebens. In der fa- 

132 



I" 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

schistischen Ideologie und Rassetheorie erscheint 
als deren Zentrum die eine Seite des patriar- 
chalischen „wirklichen Individuums", die pa- 
triarchalisch bedingte Reaktion auf die tiefer- 
strömende und die Ideologie unterbauende „mut- 
terrechtliche Idee", verabsolutiert, verewigt, als 
„reine" Linie der anderen gegenübergestellt. 
Das Griechische, Rassische wird derart zur Ema- 
nation des Reinen, Asexuellen ; das Fremdrassi- 
ge dagegen, das „Etruskische" ist das „Tieri- 
sche" und daher niedriger. Aus diesem Grunde 
muss dass Patriarchat an den Ursprung der 
menschlichen Geschichte des Ariertums gestellt 
werden : 

„Auf dem Boden Griechenlands wurde weltge- 
schichtlich entscheidend der erste grosse Entschei- 
dungskampf zwischen den rassischen Werten zu Gun- 
sten des nordischen Wesens ausgetragen. Vom Tage, 
vom Leben trat nunmehr der Mensch ans Leben her- 
an aus den Gesetzen des Lichts und des Himmels, 
vom Geist und Wesen des Vaters aus entstand alles, 
was wir griechische Kultur als jenes grosste Erbe des 
Altertums für unser Selbst nennen. (Rosenberg.) 

Die patriarchalische Geschlechtsordnung, aus 
den umwälzenden Prozesses des Spätmatriar- 
chats hervorgegangen (ökonomische Verselb- 
ständigung der Familie des Häuptlings gegen- 
über der mütterlichen Gens, anwachsender 
Tauschverkehr zwischen den Stämmen, Entwick- 
lung der Produktionsmittel etc.), wird zur Ur- 
grundlage der patriarchalischen Ideologie in- 
dem sie den Frauen, Kindern und Jugendlichen 
die geschlechtliche Freiheit raubt, die Sexualität 
in eine Ware verwandelt, richtiger die sexuellen 
Interessen in den Dienst der wirtschaftlichen 

133 



K 



i 



Die Rassetheorie 

stellt. Die Geschlechtlichkeit verzerrt sich nun- 
mehr im Sinne des Teuflichen, Dämonischen, 
das zu bändigen ist. Im Lichte der patriarchali- 
schen Forderungen erscheint die keusche Sinn- 
lichkeit des Matriarchats als wollüstige Entfes- 
selung finsterer Mächte, das Dionysische wird 
zum sündigen Begehren, das die patriarchalische 
Kultur nicht anders als chaotisch und schmutzig 
denken kann. Mit dem Eindruck der verzerrten, 
lüstern gewordenen menschlichen Sexualstruk- 
turen in sich und vor sich, wird der patriarcha- 
lische Mensch zum ersten Male in die Fesseln 
einer Ideologie gelegt, für die sexuell und un- 
rein, sexuell und niedrig oder dämonisch un- 
trennbare Vorstellungen werden. 

Diese Wertung bekommt aber auch sekundär 
eine rationale Berechtigung. 

Mit der Einführung der Keuschheit werden 
die Frauen unter dem Drucke ihrer sexuellen 
Ansprüche unkeusch, an die Stelle der natürli- 
chen, zarten Sinnlichkeit tritt die sexuelle Bru- 
talität der Männer und dementsprechend auch 
die Auffassung bei den Frauen, dass der Ge- 
schlechtsakt für sie etwas entehrendes bedeute. 
Der aussereheliche Geschlechtsverkehr wird 
zwar nirgends aus der Welt geschafft, aber mit 
der Veränderung der Wertung und der Abstel- 
lung der Institutionen, die ihn zuvor im Matri- 
archat befürsor^ten, gerät er in Widerspruch 
zur offiziellen Moral und solcherweise auf die 
Hintertreppe. Es verändert sich aber auch mit 
seiner Stellung: in der Gesellschaft die innere 
Erlebnisweise im Geschlechtlichen. Der Wider- 
spruch, der nunmehr geschaffen ist, stört die Be- 
fnedigungsfähigkeit der Individuen, das sexuel- 

134 



■ 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

le Schuldgefühl zersplittert den natürlichen Ab- 
lauf der sexuellen Akte und schafft sexuelle 
Stauungen, die sich auf verschiedene Art und 
Weise Luft machen. Neurosen, Geschlechtsver- 
irrungen und dissoziales sexuelles Verhalten tre- 
ten nunmehr als soziale Dauererscheinungen auf. 
Die kindliche und jugendliche Sexualität die im 
Matriarchat positiv gewertet wurde, verfallt sy- 
stematischer, nur in den Formen je nach der 
Stufe des Patriarchats verschiedener Unterdrüc- 
kung. Diese derart verzerrte, gestörte, brutali- 
sierte und erniedrigte Sexualität stützt^ nun ih- 
rerseits die gleiche Ideologie, der sie ihr Ent- 
stehen verdankt. Die verneinenden Wertungen 
der Sexualität können sich jetzt mit Recht dar- 
auf berufen, dass die Sexualität etwas Un- 
menschliches und Tierisches ist; dabei ist nur 
vergessen, dass diese unmenschliche und tieri- 
sche Sexualität nicht die Sexualität „an sich , 
sondern eben die Sexualität des Patriarchats ist. 
Und die Sexualwissenschaft des spaten Patriar- 
chats im Kapitalismus ist dieser Wertung nicht 
minder unterworfen als die vulgären Anschau- 
ungen, was sie zur völligen Fruchtlosigkeit ver- 
urteilt. _ X7 

Wir werden später hören, auf welchem We- 
ge die Religion zur organisierten Konzentration 
dieser Wertungen und Ideologien wird. Hier 
ist nur festzuhalten: Leugnet die Religion das 
sexualökonomische Prinzip überhaupt vcwrtcilt 
sie das Sexuelle als eine internationale Erschei- 
nungen des Menschentums, von dem nur das 
Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationali- 
stische Faschismus das Sexuellsinnliche in die 
„fremde Rasse", sie so gleichzeitig erniedrigend. 

135 



n 



r 



Die Rassetheorie 

Die Herabwertung der „fremden Rasse", selbst 
aus allgemeinen Gesetzen jeder patriarchali- 
schen Organisation entstanden, klingt nunmehr 
organisch zusammen mit den imperialistischen 
Tendenzen der herrschenden Klasse im Spätpa- 
triarchat, Tendenzen, die besonderen und unmit- 
telbar wirkenden ökonomischen Widersprüchen 
entstammen. 

So wie in der christlichen Mythologie Gott 
nie ohne seinen Widerpart, den Teufel als dem 
„Gott der Unterwelt" erscheint und der Sieg des 
himmlischen über den unterirdischen Gott zum 
Sinnbild menschlicher Erhebung wird, so spie- 
gelt sich im Göttermythus des Griechentums der 
Kampf zwischen den sinnlichen und den Keusch- 
heit fordernden Strebungen wieder. Für den ab- 
strakten Ethiker und den die Tatbestände my- 
stifizierenden Philosophen erscheint dieser 
Kampf als Ringen zweier „Wesenheiten" oder 
„menschlichen Ideen", von denen die eine von 
vorneherein als niedrig, die andere von vorne- 
herein als „eigentlich menschlich" oder über- 
menschlich" gewertet wird. Führt man aber so- 
wohl diesen „Kampf der Wesenheiten" als auch 
die herangetragenen Wertungen auf ihre materi- 
elle Ursprungsquelle zurück, reiht man sie an 
richtiger Stelle in das soziologische Gefüge ein, 
wobei der Sexualität als geschichtlichem Faktor 
der gebührende Platz eingeräumt wird, so ergibt 
sich folgender Tatbestand. Jeder Volksstamm, 
der sich aus der matriarchalischen in die patri- 
archalische Organisation entwickelt, muss, um 
die den privateigentümlichen Grundgesetzen 
entsprechenden Lebensformen im Sexuellen zu 
finden, die sexuelle Struktur seiner Mitglieder 
136 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

verändern. Dies ist deshalb dringend notwendig, 
weil sich die wirtschaftlichen Veränderungen, 
die Verschiebungen der Macht und des Reich- 
tums aus der Gens in die Familie des Häupt- 
lings und die Herausbildung der Klassen vor- 
wiegend mit Hilfe der Unterdrückung der se- 
xuellen Strebungen der Menschen dieser Epoche 
vollziehen. 

Die Eheschliessung und das dabei gültige Hei- 
ratsgut wird zum Knotenpunkt der Verwandlung 
der einen Organisation in die andere. 1 ) In dem 
gleichen Masse, in dem das Heiratsgut der Gens 
der Frau an die Familie des Mannes die Macht- 
stellung der Männer und im besonderen die des 
Häuptlings fördert, wirkt das materielle Inter- 
esse der Männer der ranghöheren Gentes und 
Familien in der Richtung der Festigung der 
ehelichen Bindungen; denn in diesem Stadium 
ist nur der Mann an der Ehe interessiert, nicht 
aber die Frau. Dadurch verwandelt sich aber die 
einfache, jederzeit trennbare Paarungsehe in die 
monogame Ehe des Patriarchats. Die monogame 
Ehe wird zur patriarchalischen Kerninstitution, 
was sie heute noch ist. Zur Sicherung der Ehen 
bedarf es aber einer immer weiter fortschreiten- 
den Einengung und Entwertung der natürlichen 
sinnlich - genitalen Strebungen. Das betrifft 
nicht nur die immer mehr in Ausbeutung gera- 
tende „untere** Klasse, sondern auch gerade die 
Schichten, die bis dahin keine Widersprüche 
zwischen Moral und Sexualität kannten, müssen 
nun einen solchen immer konfliktreicher in sich 



*) Der Nachweis hierfür wurde erbracht in: „Der 
Einbruch der Sexualmoral". (Verl. f. Sex. Pol. 1932). 

137 






Die Rassetheorie 



verspüren. Wirkt doch die Moral nicht nur von 
aussen her, sondern ihre eigentliche Wirksam- 
keit entfaltet sie erst dann, wenn sie verinner- 
licht wurde, zur eigenen sexuellen Hemmung 
geworden ist. In verschiedenen Stadien dieses 
Prozesses werden jeweils verschiedene Seiten 
des Widerspruches dominieren. Im Anfangssta- 
dium wird das sexuelle Bedürfnis, später die 
moralische Hemmung Oberhand gewinnen, si- 
cher aber wird bei politischen Erschütterungen 
der gesamten gesellschaftlichen Organisation 
der Konflikt zwischen Sexualität und Moral 
an die Oberfläche und auf die Spitze getrieben 
werden, was dem einen als moralischer Unter- 
gang, dem anderen als sexuelle Befreiung oder 
„sexuelle Revolution" erscheinen wird, ohne es 
in Wirklichkeit noch zu sein. Jedenfalls ist der 
ideologische Gehalt der Vorstellung vom „Nie- 
dergang der Kultur" die Vorstellung des Durch- 
bruchs der natürlichen sinnlichen Strebungen, 
als „Niedergang" nur deshalb empfunden, weil 
die eigene moralische Haltung dadurch bedroht 
ist. Objektiv geht nur das System der gesell- 
schaftlichen Organisation unter, das im Interes- 
se der Ehe und Familie die moralischen Instan- 
zen in den Individuen aufrechterhielt und nähr- 
te. Bei den alten Griechen, deren geschriebene 
Geschichte ja erst mit dem vollentfalteten Pa- 
triarchat beginnt, finden wir in der sexuellen 
Organisation : Männerherrschaft, Hetärentum 
für die oberen, Prostitution für die mittleren 
und unteren Schichten, und daneben versklavte, 
ei n elendes Leben führende, nur als Gebär- 
maschinen figurierende Ehefrauen. Die Männer- 

138 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

herrschaft des platonischen Zeitalters ist durch- 
aus homosexuell. *) 

Die Widersprüche der sexuellen Ökonomie 
des spaten Griechenland kamen zum Vorschein, 
als das griechische Staatswesen sich politisch 
und wirtschaftlich im Niedergang befand. Für 
den Faschisten Rosenberg erscheint im dionysi- 
schen Zeitalter das „chtonische" mit dem „ap- 
pollinischen" vermischt, um unterzugehen. Der 
Phallus, schreibt Rosenberg, wird zum Symbol 
der spätgriechischen Weltauffassung. Für den 
Faschisten kehrt also das Sexuelle wieder als 
Niedergangserscheinung, als Lüsternheit, Geil- 
heit und sexueller Schmutz der Niedergangs- 
epoche. Dies entspricht aber nicht nur der 
Phantasie des faschistischen Betrachters, son- 
dern auch der realen Situation des brennenden 
Widerspruchs in der Erlebnisweise der Men- 
schen dieser Epoche. Die dionysischen Feste 
entsprechen den verschiedenen Redouten und 
Maskenbällen unserer Bourgeoisie. Man muss 
nur genau wissen, was sich auf solchen Festen 
begibt, um nicht dem Fehler zu verfallen, der 
ganz allgemein begangen wird, in diesem 
„dionysischen" Tun den Gipfel sexuellen Erle- 
bens zu erblicken. Nirgends enthüllen sich die 
im Rahmen dieser Gesellschaft unlösbaren Wi- 
dersprüche zwischen gelockertem sexuellen Be- 
gehren und moralisch zersetzter Erlebnisfähig- 
keit gründlicher als auf solchen Festen. „Diony- 
sos* Gesetz, der endlosen Geschlechtsbefriedi- 
gung bedeutet die hemmungslose Rassenmi- 
schung zw ischen Helenen und Vorderasiaten 

) Das gleiche Prinzip beherrscht unbewusst die fa- 
schistische Ideologie der männlichen Führerschichte. 

139 



Die Rassetheorie 

aller Stämme und Varietäten" (Mythos, S. 52). 
Man stelle sich vor, ein Geschichtsschreiber 
des vierten Jahrtausends würde die sexuellen 
Feste der Bourgeoisie des zwanzigsten Jahr- 
hunderts als hemmungslose Mischung der Deut- 
schen mit den Negern und Juden „aller Stämme 
und Varietäten" darstellen! 

Wir erkennen hier klar die ideologische Rol- 
le der Vorstellung von der Rassenmischung. Sie 
ist die Spiegelung der Abwehr des Diony- 
sischen, die selbst in den wirtschaftlichen In- 
teressen der patriarchalischen Gesellschaft an 
der Ehe wurzelt. Daher tritt auch in der Ge- 
schichte des Jason die Ehe als Bollwerk gegen 
das Hetärentum auf. 

Hetären sind Frauen, die sich dem Joch der 
Ehe nicht mehr beugen wollen und ihren An- 
spruch auf ein selbstbestimmtes Geschlechts- 
leben geltend machen. Dieser Anspruch ge- 
rät aber in Widerspruch zur früher in der Kind- 
heit genossenen Erziehung zur Ehe, die den 
psychischen Apparat sexuell erlebnisunfähig 
machte. 

Daher stürzt sich die Hetäre in Abenteuer, 
um ihrer emporgetriebenen Homosexualität zu 
entgehen, oder sie lebt gestört und zerrissen 
beiden Richtungen zugleich. Das Hetärentum 
wird ergänzt durch die Homosexualität der 
Männer, die infolge des ihnen aufgezwungenen 
Ehelebens zur Hetäre und zum Wollustknaben 
flüchten und dort ihre sexuelle Erlebnisfähig- 
keit zu restaurieren versuchen. Die sexuelle 
Struktur der Faschisten, die das straffste Pa- 
triarchat bejahen und aus ihrer Ideologie und 
familiären Lebensweise das Sexualleben des 

140 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

platonischen Zeitalters tatsächlich reaktivieren, 
d. h. „Reinheit" in der Ideologie, Zerrissenheit 
und Krankhaftigkeit im realen Sexualleben, 
muss begreiflicherweise an die sexuellen Zu- 
stände des platonischen Zeitalters anklingen. 
Rosenberg und Blüher erkennen den Staat nur 
als Männerstaat auf homosexueller Basis an. 
Sehr merkwürdig ist, wie sich aus dieser Ide- 
ologie die Anschauung von dem Unwert der De- 
mokratie herausbildet. Pythagoras wird ver- 
neint, weil er als Prophet der Gleichheit Aller, 
als „Verkünder des demokratischen Tellurismus, 
der Gemeinschaft der Güter und der Weiber" 
auftrat. Die innige Verbindung der Vorstellung 
der Gemeinschaft der „Güter und der Weiber" 
spielt im antibolschewistischen Kampf eine 
zentrale Rolle. Die Demokratisierung der rö- 
mischen Patrizierherrschaft, die bis zum 5. 
Jahrhundert aus 300 Adelsfamilien 300 Senato- 
ren stellte, wird darauf zurückgeführt, dass 
vom 5. Jahrhundert an Mischehen zwischen Pa- 
triziern und Plebejern gestattet waren, was ei- 
nen „rassischen Niedergang" bedeutete. So wird 
auch die Demokratisierung eines politischen 
Systems, die durch Mischehen zustande kommt, 
als Erscheinung des Niedergangs der Ras- 
se gedeutet. An dieser Stelle enthüllt sich der 
politisch reaktionäre Charakter der Rassetheo- 
rie restlos. Denn nunmehr bedeutet der Ge- 
schlechtsverkehr zwischen Griechen oder Rö- 
mern verschiedener Klassen verderbliche Ras- 
senmischung. Angehörige der unterdrückten 
Klasse werden mit Fremdrassigen auf eine Stu- 
fe gestellt. An anderer Stelle spricht Rosenberg 
vom Proletariat und seiner Bewegung als dem 

141 









Die Rassetheorie 

„aufsteigenden Asphaltmenschentum der Welt- 

tunt " Z* t l nen c Abf f ls P^dukten des Asiaten- 
tums (Mythos, S. 66). Hinter der Idee der Mi- 
schung mit fremden Rassen steckt also die Idee 
des Geschlechtsverkehrs mit Angehörigen der 

mass LS? Ih" 6nZ d6r Bour S«°^ie 2 ur klassen- 
massigen Abgrenzung, die rein wirtschaftlich 
TZJ "l s , exualm °«lisch aber durch die 
fr v„ eu \ schankun S ^r die bürgerlichen Frau- 
en vollends verwischt ist. Sexuelle Vermischung 
der herrschenden mit der beherrschten Klasse 
bedeutet aber gleichzeitig eine Erschütterung 
der zentralen ideologischen Stützen der Klas- 
senherrschaft, in der Wirklichkeit die Mög- 
lichkeit einer „Demokratisierung", das heisst 
ideologischer, sexueller Propagierung der 
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend 

SXmf P ^° letariat J ed « gesellschaftlichen 
Ordnung produziert aus seiner Klassenlage her- 
aus sexuelle Vorstellungen und Lebensweisen 
die den Klasseninteressen der Bourgeo^^ener' 
Ordnung durchaus tödlich gefährlich s*nd 
Wenn hinter der Idee der p.cc. • i 
letzten Endes die Idee der Misct~f An^ 
gehörigen der herrschenden mit Angehörigen 
der beherrschten Klassen wirkt, so haben wir 
hier offenbar den Schlüssel zur Frage, welche 
Kolle die Sexualunterdruckung in der Klassen 
gesellschaft spielt. Hier können wir mehrere 
Funktionen unterscheiden und dürfen auf kei- 
nen Fall eine mechanische Zuordnung der Se- 
xualunterdrückung analog der materiellen Aus- 
beutung zur unterdrückten Klasse annehmen. 
^ie Beziehungen der Sexualunterdruckung zur 



« 



Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

Klassengesellschaft sind viel komplizierter. 
Wir wollen hier nur zwei dieser Funktionen 
herausheben : 

1. Da die Sexualunterdrückung ursprünglich 
von den wirtschaftlichen Interessen des Erb- 
rechts und der Heirat ausgeht, beginnt sie in- 
nerhalb der herrschenden Klasse selbst. Die 
Keuschheits- und Treuemoral gilt am schärfsten 
zunächst für die weiblichen Angehörigen der 
herrschenden Klasse. Dadurch soll die Erhal- 
tung des gleichen Besitzes gesichert werden, 
der durch die Ausbeutung der unteren Klassen 
erworben wurde. 

2. Im Frühkapitalismus und in den grossen 
asiatischen Kulturen feudalen Charakters ist 
die herrschende Klasse an einer moralischen 
Unterdrückung der beherrschten Schichten noch 
nicht interessiert. Mit dem Beginn der organi- 
sierten Arbeiterbewegung, der Erkämpfung so- 
zialpolitischer Errungenschaften und der mit 
ihr einhergehenden kulturellen Hebung der 
breiten Volksmassen setzt zugleich ihre sexual- 
moralische Verbürgerlichung ein. Erst jetzt be- 
ginnt die herrschende Klasse, ein Interesse an 
der „Sittlichkeit" der Unterdrückten zu bekom- 
men. Mit dem Aufstieg der organisierten Arbei- 
terschaft setzt also gleichzeitig ein gegenteiliger 
Prozess ein, der in ideologischer Angleichung 
des Proletariats an die Bourgeoisie besteht. 

Dabei gehen aber die der eigenen Klassenlage 
entsprechenden sexuellen Lebensformen nicht 
unter; sie bleiben neben den nunmehr sich im- 
mer mehr verankernden Ideologien der herr- 
schenden Klasse bestehen und bilden den schon 
früher beschriebenen, für das Proletariat spezi- 

143 



- 



Die Rassetheorie 

fischen Widerspruch zwischen bürgerlicher und 
proletarischer Struktur. Historisch fällt die 
Herausbildung dieses massenpsychologischen 
Widerspruchs zusammen mit der Ablösung des 
feudalen Absolutismus durch die bürgerliche 
Demokratie. Die Ausbeutung hat zwar nur ihre 
formen verändert, aber diese Veränderung der 
Ausbeutungsform bringt gleichzeitig eine ide- 
ologische Veränderung des Proletariats mit sich. 
Das ist der Tatbestand, den Rosenberg my- 
stisch betrachtet, wenn er schreibt, dass der 
uralte Erdgott Poseidon von Athene, der Göt- 
tin der Asexualität, zurückgedrängt unter ih- 
rem Tempel im Boden in Schlangengestalt 
herrscht, ebenso wie der „pelasgische Python- 

li-S m Del P hi unter d em Tempel Apollos. 
„Nicht überall aber tötete der nordische The- 
seus die Untiere Vorderasiens; bei der ersten 
Erschlaffung des arischen Blutes entstanden im- 
mer wieder von neuem die fremden Ungeheuer 
das heisst vorderasiatisches Mischlingstum und 
physische Robustheit der ostischen Menschen " 
Aus dem Bisherigen allein geht schon klar 
hervor, was unter „physischer Robustheit" ge- 
meint ist: jenes Stück sexueller Naturwüchsig- 
keit, das den Angehörigen der ausgebeuteten 
Klasse von dem der herrschenden unterscheidet 
und im Laufe der „Demokratisierung" allmäh- 
lich zersetzt wird, ohne sich je ganz zu ver- 
lieren. Psychologisch bedeutet die Schlange 
Poseidon und der Pythondrache die als Phallus 
symbolisierte genitale Sinnlichkeit. Sie ist 
niedergedrückt, unterirdisch geworden in der 
sozialen Struktur der Gesellschaft und ihrer 
Menschen, aber sie ist nicht vernichtet. Die 
144 









Rassereinheit, Blutsvergiftung etc. 

feudale Oberschichte, die ein unmittelbar 
wirtschaftliches Interesse an der Verleugnung 
der phallischen Sinnlichkeit hat, sieht sich um- 
so mehr durch die naturnäheren sexuellen Le- 
bensformen der unterdrückten Schichte gefähr- 
det, als es ja selbst diese Sinnlichkeit nicht nur 
nicht überwunden, sondern im Gegenteil im 
eigenen Kreise in verzerrter und perverser 
Form wieder auftreten sieht. Die sexuellen Sit- 
ten des Proletariats bedeuten somit nicht nur 
eine psychologische, sondern auch eine soziale 
Gefahr für die herrschende Klasse, die sich vor 
allem in ihrer Familieninstitution bedroht sieht. 
Solange das Bürgertum ökonomisch stark ist, 
sich in der aufsteigenden Linie befindet wie 
etwa das Bürgertum Englands um die Mitte des 
19. Jahrhunderts, vermag es auch die sexual- 
moralische Abgrenzung vom Proletariat zur 
Gänze aufrecht zu erhalten. In Zeiten der Er- 
schütterung seiner Herrschaft, besonders aber 
in ausgesprochenen Krisen wie etwa seit Beginn 
des 20. Jahrhunderts in Mittel-Europa und 
England lockern sich die moralischen Fesseln 
der Sexualität innerhalb des Bürgertums selbst. 
Die sexualmoralische Zersetzung beginnt mit 
der Liquidierung der familiären Bindungen in 
der Grossbourgeoisie, während zunächst das 
mittlere und kleinere Bürgertum in voller 
Identifikation mit dem Grossbürger und seiner 
Moral der eigentliche Träger der offiziell noch 
immer von der Grossbourgeoisie vertretenen 
sexuellen Moral wird. Das Geschlechtsleben des 
Proletariats muss gerade dann der Grossbour- 
geoisie als besondere Gefahr für den Bestand 
seiner sexuellen Institutionen erscheinen, wenn 



10 



145 






Die Rassetheorie 

die wirtschaftliche Proletarisierung des Klein- 
bürgertums beginnt. Da es sich zentral auf die 
Kleinbourgeoisie stützt, liegt ihm besonders 
viel an deren Sittlichkeit und Reinhaltung von 
den „Einflüssen des Untermenschentums". Ver- 
löre nämlich die Kleinbourgeoisie seine ide- 
ologische sexualmoralische Haltung im gleichen 
Masse wie seine wirtschaftliche Zwischenstel- 
lung zwischen Proletariat und Grossbourgeoisie, 
so gäbe es für das Kapital kaum eine ernstere 
Bedrohung. Denn auch im Kleinbürgertum 
lauert der „pythische Drache", jederzeit bereit, 
die ihm auferlegten Fesseln und damit auch die 
ideologische Panzerung durch die politische 
Reaktion zu sprengen. Daher verstärkt das Ka- 
pital immer in Zeiten der Krise seine Propa- 
ganda für Sittlichkeit und Festigung der Ehe 
und Familie. Bildet doch die Familie die Brük- 
ke von der elenden ökonomischen Lage der 
Kleinbourgeoisie zur reaktionären Ideologie. 
Wird die Familie durch Wirtschaftskrisen und 
Proletarisierung des Mittelstandes erschüttert, 
so ist dadurch auch die ideologische Veranke- 
rung des herrschenden Systems auf das stärkste 
gefährdet. Mit dieser Frage werden wir uns 
noch eingehend befassen müssen. Wir müssen 
also dem Münchener nationalsozialistischen 
Biologen und Rassenforscher Leng Glauben 
schenken, wenn er auf einer Tagung der natio- 
nalsozialistischen Gesellschaft „Deutscher 
Staat" 1932 behauptete, die Familie sei Kern- 
punkt der Kulturpolitik. Wir dürfen hinzufü- 
gen, der reaktionären ebensowohl wie der re- 
volutionären, denn diese Feststellungen haben 
weittragende politische Konsequenzen. 
146 



IV. KAPITEL 

Die Symbolik des Hakenkreuzes 

Wir haben früher besprochen, warum der 
Faschismus als ein Problem der Massen und 
nicht allein als ein Problem der Persönlichkeit 
Hitlers oder der objektiven Rolle der national- 
sozialistischen Partei zu betrachten ist. Wir ha- 
ben dargelegt, wie es kommen kann, dass die 
proletarisierte Masse sich einer erzreaktionä- 
ren Partei derart stürmisch zuwenden kann. Um 
nun schrittweise und sicher zu den praktischen 
Konsequenzen vorzudringen, die sich daraus 
für die sexualpolitische Arbeit ergeben, ist es 
zunächst notwendig, sich den Mitteln der Sym- 
bolik zuzuwenden, mit denen die Nationalsozia- 
listen die revolutionären Strukturen der Mas- 
sen in die reaktionären Fesseln legen und deren 
Mechanik ihnen nicht bewusst ist. 

In der SA vereinigte der Nationalsozialismus 
sehr bald zu einem grossen Teile dumpf revo- 
lutionär gesinnte, aber gleichzeitig autoritär 
eingestellte Arbeiter, zum grössten Teil Arbeits- 
lose und Jugendliche ohne politische Erfah- 
rung. Aus diesem Grunde ist die Propaganda 
widerspruchsvoll, je nach der Schichte anders. 
Das haben wir zum Teil bereits gezeigt. Nur in 
der Handhabung des mystischen Fühlens der 
Masse ist sie konsequent und eindeutig. 

Aus Gesprächen mit nationalsozialistischen 
Parteigängern und besonders Mitgliedern der 

147 



- 



Die Symbolik des Hakenkreuzes 

n£,> g K h V, i M eUtig J herVOr ' d3SS die "VOlutio- 

SSLfc^^W dCS Nati ° n alsozialismus der 
entscheidende Faktor in der Gewinnung dieser 

Massen war. Man hörte NationalsJalhten 

höT e SA d T SS Hi Ü er d3S Ka P ital vert ^te. Man 
horte SA-Leute Hitler auf das schwerste dro- 
hen, W en n er die Sache der „Revolution" ver- 

se der H % M , a " x hÖrt - e V ° n S A - L ^ten, Hitler 
sei der deutsche Lenin. Was von der Sozial- 
demokratie und den liberalen Mittelparteien 
zum Nat.ona Sozialismus überging, sind durch 
wegs revolutionierte Massen, die früher unpo- 
litisch oder politisch unklar waren. Was von 
der kommunistischen Partei überlief, waren oft 
proletarisch-revolutionär eingestellte Elemen- 
te, die viele der widerspruchsvollen politischen 
Massnahmen der KPD nicht zu erfassen ver- 
mochten, zum Teil solche, denen das äussere 

SarXr h'- *?*, ^ ÜerS ' der m "itärische 
bÄSJ." Kraft ~ "gen u. , f. den 



U " te J.. den symbolischen Mitteln der Prooa- 
ganda fallt zumächst das Fahnensymbol auf 

H^!t £1 *5? Heer vom Hakenkreuz 
Hebt hoch die roten Fahnen, 

Der deutschen Arbeit wollen wir 
Den Weg zur Freiheit bahnen." 

Dieser Text ist seinem Gefühlsgehalt nach 
unzweideutig revolutionär. Die Nationalsozia- 
listen benutzen auch bewusst kommunistische 
Melodien, die sie mit anderen Texten singen 
lassen. Dazu passen politische Formulierungen 
wie man sie in den Zeitungen Hitlers zu hun- 
gerten findet, etwa folgende: 



Die Symbolik des Hakenkreuzes 

a H ^St , politische Bürgertum ist eben im Begriff von 
der Buhne der historischen Gestaltung abzutreten. An 
seine Stelle rückt der bis heute unterdrückte Stand 
des schaffenden Volkes der Faust und der Stirne, des 
Arbeitertums, um seine geschichtliche Mission zu er- 
füllen. 

In der geschickt zusammengesetzten Flagge 
kommt der subjektiv-affektive Charakter der 
Ideologie der nationalsozialistischen Massen 
völlig zur Geltung. Hitler schreibt über die 
Flagge : 

„Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer 
Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozia- 
len Gedanken unserer Bewegung, im Weiss den natio- 
nalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes 
für den Sieg des arischen Menschen und zugleich auch 
mit ihm den Sieg des Gedankes der schaffenden Arbeit, 
die selbst ewig antisemitisch war und ewig antisemi- 
tisch sein wird." („Kampf", S. 557). 

Dass das Rot und das Weiss an die wider- 
sprüchliche Struktur des kleinbürgerlichen Men- 
schen anklingen muss, ergibt sich nach dem 
früheren von selbst. Unklar ist bis jetzt die 
Rolle, die das Hakenkreuz im Gefühlsleben 
spielt. Warum ist dieses Symbol derart zur Pro- 
vokation von dunklen Gefühlen geeignet? Hitler 
sagt, es sei ein Symbol des Antisemitismus. Das 
ist nun das Hakenkreuz erst sehr spät gewor- 
den. Und im Übrigen bleibt die Frage nach dem 
affektiven Gehalt des Antisemitismus bestehen. 
Einen Teil konnten wir aus dem irrationalen 
Gehalt der Rassetheorie als einer affektiv ab- 
lehnenden Bewertung des Schmutzig-sexuell- 
sinnlichen bereits erklären. Hier steht der Jude 

149 



Die Symbolik des Hakenkreuzes 

und der Neger auf einer Stufe in der Vorstel- 
lung des Nationalisten, des deutschen ebenso 
wie des amerikanischen. Nach authentischen 
Berichten spielt sich der Rassekampf in Ame- 
rika gegen den Neger überwiegend auf dem 
Boden der sexuellen Abwehr ab: der Neger ist 
als das sinnliche Schwein aufgefasst, das weisse 
Frauen vergewaltigt. Und Hitler schreibt über 
die farbige Besatzung des Rheinlandes: 

„Nur in Frankreich besteht heute mehr denn je eine 
innige Übereinstimmung zwischen den Absichten der 
Börse, den sie tragenden Juden und den Wünschen ei- 
ner chauvinistisch eingestellten nationalen Staatskunst. 
Allem gerade in dieser Tatsache liegt eine immense 
Gefahr für Deutschland. Gerade aus diesem Grunde 

» - j w * Frankreich d er weitaus furchtbarste 
Feind. Dieses an sich immer mehr der Vernegerung 
anheimfallende Volk bedeutet in seiner Bindung an die 
Ziele der jüdischen Weltbeherrschung eine lauernde 
Gefahr für den Bestand der weissen Rasse Europas. 
Denn die Verpestung durch Negerblut am Rhein im 
Herzen Europas entspricht ebenso sehr der sadistisch- 
perversen Rachsucht dieses chauvinistischen Erbfein 
des unseres Volkes, wie der eisig-kalten Überlegung 
des Juden, auf diesem Wege die Bastardierung des 
europaischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen 
und der weissen Rasse durch Infizierung mit niederem 
Menschentum die Grundlagen zu einer selbstherrli 
chen Existenz zu entziehen." (1. c . S. 704 705) 

Wir müssen uns energisch darin üben, auf 
das, was der Gegner sagt, genau zu hören und 
es nicht als Blödsinn oder Schwindel abzutun. 
Wir verstehen jetzt besser den Gefühlsgehalt 
dieser Theorie, die wie ein Verfolgungswahn 
anmutet, wenn man sie zusammen mit der Theo- 
rie von der Vergiftung des Volkskörpers be- 
trachtet. Auch das Hakenkreuz hat einen Ge- 
150 



Die Symbolik des Hakenkreuzes 

fühlsgehalt, der an das tiefste Gefühlsleben zu 
rühren geeignet ist, allerdings tragikomisch 
ganz anders, als sichs Hitler träumen lässt. 

Zunächst wurde das Hakenkreuz auch bei Se- 
miten gefunden und zwar im Myrtenhof der Al- 
hambra zu Granada. Herta Heinrich fand es an 
der Synagogenruine von Edd-Dikke in Ost- 
Jordanland am Genezarethsee. Hier hatte es 
folgende Form: 1 ) 




un 



Das Hakenkreuz wird oft mit einer Raute zu- 
sammen gefunden, jenes als Symbol des männ- 
lichen, dieses des weiblichen Prinzips. Percy 
Gardner fand es bei den Griechen unter der Be- 
zeichnung Hemera als Sonnensymbol, was wie- 
der männliches Prinzip bedeutet? Löwenthal 
beschreibt ein Hakenkreuz aus den 14. Jahrhun- 
dert im Altartuch in Maria zur Wiese in Soest, 
und zwar ist hier das Hakenkreuz mit Volva 
und Doppelkreuz ausgestattet. Hier erscheint 
das Hakenkreuz als Symbol des Gewitterhim- 
mels, die Raute als Symbol der fruchtbaren 
Erde. Smigorski fand das Hakenkreuz in Form 
des indischen Svasri&a-Kreuzes als viergerich- 

1 ) Herta Heinrich: Hakenkreuz, Vierklee und Gra- 
natapfel. (Zschr. f. Sexualwissenschaft, 1930. S. 43). 

2 ) Sämtliche Angaben nach Löwenthal, John: Zur 
Hakenkreuzsymbolik. (Ztschrft. f. Sexualwissenschaft 
1930, S. 44). 

151 









Die Symbolik des Hakenkreuzes 

teter Blitz mit drei Punkten an jedem Schenkel 
wie iolgt: 



4 
» 4 * 






Lichtenberg fand Hakenkreuze mit einem 
Kopf an der Stelle der drei Punkte. Das Haken- 
kreuz ist also ursprünglich ein Sexualsymbol, 
das im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutun- 
gen annahm, unter anderem später auch das ei- 
nes Mühlrades, also als Symbol der Arbeit. Da 
Arbeit und Geschlechtlichkeit ursprünglich ge- 
lunlsmassig dasselbe waren, erklärt sich der 
*und von Bilmans und Pengerots auf der Mitra 
des heiligen Thomas Beckett aus indogermani- 
BcJrlf? '' dn Hakenkreuz mit folgender In- 

„Heil dir Erde, der Menschen Mutter, sei du 
wachsend in Gottes Umarmung, Frucht gefül- 
let den Menschen zum Nutzen." 

Hier ist die Fruchtbarkeit geschlechtlich 
dargestellt als Geschlechtsakt der Mutter-Erde 
mit Gott- Vater Altindische Lexikographen 
nennen nach Zelemn sowohl Hahn wie auch 
Wollüstling svastikas, d. h. Hakenkreuz, nach 
dem Geschlechtstrieb. 

Betrachten wir jetzt noch einmal die Haken- 
kreuze auf voriger Seite, so enthüllen sie sich uns 
als die Darstellung zweier ineinander geschlun- 
gener menschlicher Gestalten, schematisiert 
aber in der ursprünglichen Form deutlich als 
152 












Die Symbolik des Hakenkreuzes 

- 

solche zu erkennen. Das linke Hakenkreuz 
stellt einen Geschlechtsakt in liegender, das an- 
dere in stehender Stellung dar. 

Diese Wirkung des Hakenkreuzes auf das 
unbewusste Gefühlsleben ist natürlich nicht Ur- 
sache, sondern blos mächtiges Hilfsmittel des 
Erfolges der faschistischen Massenpropaganda. 
Stichprobenhafte Versuche mit Personen ver- 
schiedenen Alters, Geschlechts und sozialer 
Stellung haben ergeben, dass nur wenige den 
Sinn des Hakenkreuzes nicht erkennen; die 
meisten erraten ihn bei längerer Betrachtung 
früher oder später. Es ist also anzunehmen, dass 
dieses Symbol, das zwei ineinandergeschlungene 
Gestalten darstellt, auf tiefe, umbewusste 
Schichten des Seelischen einen grossen Reiz 
ausübt, der umso stärker ausfallen muss, je un- 
befriedigter, unbewusst oder bewusst sexuell 
sehnsüchtiger der Betreffende ist. Wird das Sym- 
bol noch dazu als Sinnbild von Ehrenhaftigkeit 
und Treue präsentiert, so trägt es auch den ab- 
wehrenden Strebungen des moralischen Ich 
Rechnung und kann umso leichter akzeptiert 
werden. Er wäre durchaus falsch, aus diesen 
Tatsachen etwa die Praxis abzuleiten, die Wir- 
kung des Symbols durch laute, massenmässige 
Enthüllung seines sexuellen Sinnes zu entwer- 
ten, denn erstens wollen wir ja den Ge- 
schlechtsakt nicht entwerten, zweitens aber 
würden wir wahrscheinlich vorwiegend Ableh- 
nung erfahren, weil sich die moralische Ver- 
hüllung als Widerstand gegen die Annahme un- 
serer Versuche auswirken würde. Der Weg der 
sexualpolitischen Arbeit ist ein anderer. 



153 



V. KAPITEL 

Die sexualökonomischen Voraus- 
setzungen der bürgerlichen Familie 

Da sich die privatwirtschaftliche Klassenge- 
sellschaft mit entscheidender Hilfe der Familie 
in Gestalt bestimmter massenindividueller 
Strukturen reproduziert, muss die Familie von 
der politischen Reaktion als die Grundlage des 
„Staates, der Kultur und der Zivilisation" ange- 
sprochen und verteidigt werden. Sie kann sich 
m dieser Propaganda auf tiefe gefühlsmässige 
Faktoren bei den Massen stützen. Dass die letzte 
Grundlage jeder Gesellschaft die ihr zugrunde- 
liegende Produktionsform, die der bürgerlichen 
also der Privatbesitz an den Produktionsmitteln 
ist, kann der reaktionäre Politiker weder aner- 
kennen noch für seine Zwecke verwenden Denn 
in der politischen Propaganda, bei der es sich 
um massenpsychologische Wirkung handelt hat 
man es nicht unmittelbar mit den ökonomischen 
Grundlagen und Prozessen zu tun, sondern mit 
ihrer psychischen Repräsentanz in den „Köpfen 
der Menschen", das heisst mit den von den Pro- 
duktionsverhältnissen bestimmten menschlichen 
Strukturen. Dieser Gesichtspunkt diktiert be- 
stimmte Verhaltungsweisen in der politischen 
Propaganda und seine Vernachlässigung kann 
zu massenpsychologischen Fehlern führen. Die 
reolutionäre Sexualpolitik kann sich demnach 
154 






D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

nicht mit dem Herausstellen der objektiven 
Grundlagen der bürgerlichen Familie begnügen, 
sie muss darüber hinaus, wenn sie massenpsy- 
chologisch richtig vorgehen will, sich auf die 
Grundlage einer genauen Kenntnis derjenigen 
psychischen Prozesse stellen, mit deren Hilfe 
sich der Produktionsprozess des Kapitals ver- 
wirklicht, ideologisch reproduziert und konser- 
viert. 

Vom Standpunkt des historischen Materialis- 
mus kann die Familie nicht als die Grundlage 
des bürgerlichen Staates angesehen werden, son- 
dern nur als eine seiner wichtigsten stützenden 
Institutionen. Wohl aber müssen wir sie als die 
zentrale ideologische Keimzelle ansprechen, das 
heisst als die wichtigste Produktionsstätte des 
bürgerlichen Menschen. Selbst aufgrund be- 
stimmter Produktionsverhältnisse entstehend 
und sich wandelnd, wird sie zur wesentlichsten 
Institution der Konservierung des sie bedingen- 
den Systems. Hier sind heute wie ehedem die 
Aufstellungen von Morgan und Engels voll gül- 
tig. Doch interessiert uns in diesem Zusammen- 
hange nicht die Geschichte der Familie, sondern 
die aktuelle sexualpolitisch wichtige Frage, wel- 
che Gesichtspunkte sich die proletarische Sexu- 
alpolitik zu eigen zu machen hat, um der reak- 
tionären Sexual- und Kulturpolitik, in deren 
Zentrum die Frage der Familie mit so viel Er- 
folg gestellt ist, fruchtbar entgegenzutreten. Ei- 
ne genaue Erörterung der subjektiven Auswir- 
kungen und Grundlagen der bürgerlichen Fami- 
lie ist umso notwendiger, als in dieser Frage 
auch in revolutionären Kreisen grosse Unklar- 
heit herrscht, 

155 






D. Sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

snr^ c e h b ^ gerHChe Fami " e enthält einen Wider- 
El ' f S % en ge 1 " aUe Kenntni « für eine durch- 
deut a u g n g n t t SeXUalp ° litik V ° n -leidender Be- 

niflS 1 Erh ^. tun g der Familieninstitution gehört 
nicht nur die wirtschaftliche Abhängigkeit der 
Frau und der Kinder vom Mann und Vater Di" 
i*f*** *« nur unter der Bedingung tt 
die Unterdruckten erträglich, dass das Bewusst- 
sem, ein geschlechtliches Wesen zu sein bei 
Frauen UI?d Kindern so gründlich wie möglich 

ÄS, 1 *" w i rd - Die Frau dar{ nicht ä 

«Äff™ " Ur a/s G 'M""» «wiei- 
Verhim^.1 3 ^ r " ng der M ««erschaft, ihre 
Verhimmelung, die in so krassem Widerspruch 

werktäX v ta ,u tät '. mit der die Mütt " d « 
werden g H" °* eS *" Wirkl ^eit behandelt 
werden, dienen im wesentlichen als Mittel in 
den Frauen das geschlechtliche Bewüsstse n 
nicht aufkommen, die gesetzte SexuaTverdrän" 
gung nicht durchbrechen, die sexuelle T Antst 
und das sexuelle Schuldgefühl nicht untergehen 
zu lassen Die Frau als Sexualwesen, dazu „och 
bejaht und anerkannt, würde den V7,t; 
bruch der gesamten familiären IdTolo'gTeTedeT 
ten. Die proletarische Sexualpolitik hat bisher" 
den Fehler begangen, dass sie die Parole vom 
„Recht der Frau auf den eigenen Körper" nicht 
genügend konkretisiert, dass sie nicht eindeutig 
und unmissverständlich die Frau als sexuelles 
Wesen nannte und verteidigte, zumindest eben 
so wie als Mutter. Sie hat fernerhin die Sexual- 
politik überwiegend auf die Fortpflanzungs- 
tunktion gestützt, statt die bürgerliche Einheit 
von Sexualität und Fortpflanzung aufzuheben 
156 






D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

Dadurch konnte sie der Sexualreaktion nicht 
kräftig genug gegenübertreten. 

Zur Stütze der Familie gehört die Ideologie 
des „Segens des Kinderreichtums" nicht nur aus 
den objektiven Zwecken des kriegerischen Im- 
perialismus, sondern auch ganz wesenlich aus 
der Notwendigkeit, die Sexualfunktion der Frau 
gegenüber ihrer Gebärfunktion in den Schatten 
zustellen. Die bürgerliche Gegenüberstellung 
von „Mutter" und „Dirne", wie etwa beim bür- 
gerlichen Philosophen Weininger, entspricht der 
realen Gegensätzlichkeit von Geschlechtslust 
und Fortpflanzung im bürgerlichen Menschen. 
Der Geschlechtsakt um der Lust willen entwür- 
digt nach dieser Auffassung die Frau und Mut- 
ter, und Dirne ist, wer sie bejaht und danach 
lebt. Die biologische Auffassung des Ge- 
schlechtslebens in dem Sinne, Geschlechtlich- 
keit und Fortpflanzung wären identisch, jen- 
seits der Fortpflanzung gäbe es nichts, das zu 
bejahen wäre, ist der wichtigste Grundzug der 
bürgerlichen Sexualpolitik. Diese Auffassung 
ist nicht weniger bürgerlich, wenn sie von Kom- 
munisten, wie etwa Salkind und Stoliaiow, ver- 
treten wird. 

Damit die objektiven kriegsimperialistischen 
Ziele des monopolistischen Kapitals mit Sicher- 
heit erfüllt werden, ist eine Veränderung der 
Frauen in dem Sinne unerlässlich, dass in ihnen 
keinerlei Auflehnung gegen die ihnen aufgehals- 
te Funktion, Gebärmaschine zu sein, aufkom- 
men kann. Das heisst, die Funktion der Sexual- 
befriedigung darf die der Fortpflanzung nicht 
stören, und zudem würde eine sexualbewusste 
Frau niemals willig den reaktionären Parolen 

157 









D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie 

folgen, die ihre Versklavung beabsichtigen Die- 
ser Gegensatz von Sexualbef riedfgung und Fort- 
pflanzung gilt nur für das kapitalistische Wirt- 
schaftssystem nicht für den Sozialismus; es 
kommt derauf an, unter welchen gesellschaftli- 
chen Bedingungen sich die Frauen zum Gebären 
bekennen sollen, unter günstigen, von der Ge- 
sellschaft betreuten Verhältnissen oder unter 
den Bedingungen des Kapitals, das keinen zu- 
reichenden Mutterschutz und Säuglingsschutz 
kennt Wenn also die Frauen ohne irgendwel- 
chen Schutz der Gesellschaft, ohne selbst mit- 
bestimmen zu können, ohne Gewähr für die Si- 
cherheit der Aufzucht ihrer Kinder willig ge- 
baren sollen, ohne selbst die Zahl der zu ge- 

u ren A en n K / nder bestimmen ™ dürfen, willig, 
ohne Auflehnung gebären sollen, muss die Mut- 
terschaft im Gegensatz zur sexuellen Funktion 
der Frau idealisiert werden 

Wenn wir also die Tatsache begreifen wollen 
dass die Partei Hitlers sich vorwiegend auf 
Frauenstimmen stützte, ebenso wie das Zentrum 
müssen wir ausser der objektiven Funktion fe 
Frauenversklavung auch ihren psychologischen 
Mechanismus begreifen. Und dieser Mechanis 
mus ist die Gegenüberstellung von Frau als Ge 
bärerin und Frau als Sexualwesen. Wir verste" 
hen dann gründlicher Stellungnahmen des Fa- 
schismus, wie etwa die folgender Art: 

„Die Erhaltung der schon vorhandenen kinderrei- 
chen Familie ist eine Angelegenheit des Sozialgefühls" 
die Erhaltung der kinderreichen Familienform eine 
solche biologischer Auffassung und völkischer Gesin 
nung . Dle kinderreiche Familie ist nicht zu erhalten 
wen sie hungert, sondern sie ist zu erhalten als hoch- 

"tiger, unentbehrlicher Bestandteil des deutschen 
158 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

Volkes. Hochwertig und unentbehrlich nicht nur, weil 
sie allein die Erhaltung der Volkszahlen in der Zu- 
kunft gewährleistet (objektive imperialistische Funk- 
tion. — D. Autor), sondern weil Volkssittlichkeit und 
Volkskultur in ihr die stärkste Stütze finden ... Die 
Erhaltung der lebenden kinderreichen Familien ist mit 
der Erhaltung des Typs der kinderreichen Familie ver- 
quickt, weil diese beiden Probleme tatsächlich nicht 
voneinander zu trennen sind ... Die Erhaltung der 
kinderreichen Familienform ist eine Forderung staats- 
und kulturpolitischer Notwendigkeit ... Diese Gesin- 
nung widerspricht auch strikte der Aufhebung des § 218 
und betrachtet empfangenes Leben als unantastbar. 
Denn die Freigabe der Schwagerschaftsunterbrechung 
widerspricht dem Sinn der Familie, deren Aufgabe 
ja gerade die Erziehung des Nachwuchses ist und die- 
se Freigabe würde endgültige Vernichtung der kinder- 
reichen Familie überhaupt sein." 

So schrieb der „Völkische Beobachter" am 14. 
-10.-1931. Also auch in der Frage des Abtrei- 
bungsparagraphen ist die bürgerliche* Familien- 
politik der Schlüsselpunkt, weit wesentlicher als 
die bisher von der proletarischen Sexualpolitik 
in den Vordergrund geschobenen Faktoren des 
Interesses an industrieller Reservearmee und 
Kanonenfutter für den imperialistischen Krieg. 
Das Argument der Reservearmee hat in den Jah- 
ren der Wirtschaftskrise mit Erwerbslosenar- 
meen von vielen Millionen in Deutschland, 1932 
etwa 40 Millionen in der ganzen kapitalistischen 
Welt, an Bedeutung fast völlig verloren. Wenn 
die politische Reaktion uns immer wieder sagt, 
die Aufrechterhaltung des Abtreibungsparagra- 
phen sei notwendig im Interesse der Familie 
und der sittlichen Ordnung, wenn der sozialde- 
mokratische Sozialhygieniker Grothjan hier die 
gleiche Linie bezog wie die Nationalsozialisten, 
so müssen wir ihnen Glauben schenken, dass Fa- 

159 



1 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie 

milie und Sittlichkeit entscheidend wichtige 
Kräfte sind. Wir dürfen sie nicht als „ideell" 
beiseiteschieben. Es geht um die Bindung der 
Frauen an die Familie mithilfe der Unterdrü- 
ckung ihrer sexuellen Bedürfnisse, es geht um 
den Einfluss, den diese Frauen auf ihre Männer 
im reaktionären Sinne ausüben, es geht um die 
Sicherstellung der Wirkung, die die antibol- 
schewistische Sexualpropaganda auf die Millio- 
nen sexuell Unterdrückter und diese Unterdrük- 
kung duldender Frauen hat. Man tut vom revo- 
lutionären Standpunkt aus unrecht, der Reak- 
tion nicht überall dorthin zu folgen, wo sie ihre 
konterrevolutionäre Wirkung entfaltet. Man 
muss sie dort schlagen, wo sie ihr System vertei- 
digt. Das Interesse an der Familie als staatser- 
haltender Institution steht also an erster Stelle 
in allen Fragen der reaktionären Sexualpolitik. 
Und es trifft zusammen mit dem gleichgerichte- 
t en Interesse aller Schichten des Kleinbürger- 

mZhJ%u ? X ! d A *u amilie die wirtschaftliche 
Einheit bildet, oder besser, vor der Krise gebil- 
det hat Von diesem Standpunkt sieht die fa- 
schistische Ideologie Staat und Gesellschaft 

^"^Ü? w P0litik * V ° n diesem durch die 
alte Wirtschaftsweise des Kleinbürgertums be 

stimmten Standpunkt ist auch die reaktionäre 
Sexualwissenschaft beherrscht, wenn sie an den 
Staat mit der Vorstellung, er sei ein „organi- 
sches Ganzes" herantritt. Das Proletariat, für 
das Familie und soziale Daseinsweise ausein- 
anderfallen, in dem also die Familie nicht orga- 
nisch wirtschaftlich verwurzelt ist, ist daher in 
der Lage, das Wesen des Staates als einer Zwei- 
neit von Klassen zu sehen, für seine Sexualwis- 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

senschaft und seine Sexualpolitik gilt nicht der 
„biogolische" Standpunkt, der Staat sei ein or- 
ganisches Ganzes. Sofern das Proletariat sich 
dieser reaktionären Anschauung zugänglich er- 
weist, beruht das auf dem Eindringen der klein- 
bürgerlichen familiären Daseinsweise in die 
Schichten der Industriearbeiterschaft. Und das 
Kleinbauerntum und Kleinbürgertum wäre der 
Einsicht seiner Zugehörigkeit zur Klasse der 
Ausgebeuteten zugänglicher, .wenn nicht seine 
familiäre Situation bis zu einem bestimmten 
Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsord- 
nung organisch mit seiner wirtschaftlichen ver- 
flochten wäre. 

Wir sagen, bis zu einem bestimmten Stadium, 
denn in der Weltkrise zeigte sich, dass sich mit 
dem wirtschaftlichen Ruin der kleinen Wirt- 
schaften dieser Zusammenhang von Familie und 
Wirtschaft lockerte. Aber das Wesen der viel- 
genannten Tradition des Kleinbürgertums, näm- 
lich ihre familiäre Gebundenheit, wirkte sich 
nachträglich noch aus. Es musste daher der fa- 
schistischen Ideologie von der „kinderreichen 
Familie" viel zugänglicher sein, als der kommu- 
nistischen von der Geburtenregelung, vor allem 
deshalb, weil die kommunistische Propaganda 
keine Klarheit in diesen Fragen schuf und sie 
nicht in vorderste Front stellte. 

So eindeutig dieser Tatbestand ist, wir wür- 
den fehlgehen, wenn wir ihn nicht im Zusam- 
menhange mit anderen ihm widersprechenden 
Tatbeständen beurteilen würden. Und wir wür- 
den unausweichlich zu gar keiner oder zu einer 
falschen sexualpolitischen Perspektive gelangen, 
wenn wir diese Widersprüche im Leben des 

161 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie 

Kleinbürgers (und des Proletariats, soweit es 
kleinbürgerlich ist) übersehen würden. Zunächst 
ist der Widerspruch entscheidend zwischen dem 
sexualmoralischen Denken und Fühlen des 
Kleinburgers und seiner konkreten sexuellen 
Daseinsweise. Ein Beispiel: Im Westen 
Deutschlands gab es eine grosse Anzahl von 
proletarischen Geburtenregelungsvereinen vor- 
«5 e fr^. " sozialisti schen" Charakters. In der 
Wolf-Kienle-Kampagne 1931 gab es Abstimmun- 
gen über den Abtreibungsparagraphen, wobei 
die gleichen Frauen, die Zentrum oder NSDAP 
wählten, für die Abschaffung des Paragraphen 
waren, während ihre Parteien dagegen Sturm 
liefen. Diese Frauen stimmten für die sozialisti- 
sche Parole, weil sie sich ihren Geschlechtsver- 
kehr sichern wollten, aber gleichzeitig stimmten 
sie für ihre Parteien, nicht weil sie ohne Kennt- 
nis von deren bevölkerungspolitischen Absichten 
waren sondern weil sie gleichzeitig, ohne sich 
des Widerspruchs bewusst zu sein, erfüllt waren 
von der reaktionären Ideologie der „reinen Mut- 
terschaft des Gegensatzes von Mutterschaft 
und Geschichtlichkeit, vor allem von der fami- 
liären Ideologie. Diese Frauen wussten zwar 
nichts von der soziologischen Rolle der Familie 
im Kapitalismus, aber sie standen unter dem 
Einfluss der antibolschewistischen Sexualpoli- 
tik der politischen Reaktion; sie bejahten die 
Geburtenregelung, aber sie wollten nicht das 
System, das diese Geburtenregelung praktisch 
für die Massen durchführen und auch ihre wirt- 
schaftlichen Voraussetzungen schaffen kann. 

Die Sexuelreaktion bediente sich ja auch aller 
Mittel, die familiäre Bindung insbesondere der 
162 



D. sexualökonom; Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

Frauen für ihre Zwecke auszunützen. Ist einer 
durchschnittlichen christlichen oder national- 
gesinnten Arbeiter- oder Kleinbürgerfrau die 
proletarische Familienpolitik unverständlich 
um wieviel grösser musste dieses Unverständnis 
werden wenn Propaganda folgender Art betrie- 
ben wird, ohne dass eine entsprechende sexual- 
politische Gegenpropaganda von revolutionärer 
beite einsetzte. 

Schon im Jahre 1918 gab die „Vereinigung zur 
Bekämpfung des Bolschewismus" ein Plakat 
heraus, das folgendermassen lautete: 
„Deutsche Frauen I 
Ahnt Ihr, womit Euch der Bolschewismus bedroht? 
Der Bolschewismus will die Sozialisierung der Frauen- 
ü aS T Eigentumsrecht auf Frauen zwischen 17 und 
32 Jahren wird aufgehoben. 

2. Alle Frauen sind Eigentum des Volkes 

3. Die bisherigen Eigentümer behalten ausser der Rei- 
he das Recht auf ihre Frauen. 

4. Jeder Mann der ein Exemplar des Volkseigentums 
tSSSäü' bSdarf dner ^"heinigun^'vCr 

5. Der Mann hat kein Recht, eine Frau öfter als drei 
mal wöchentlich und länger als drei Stunden fü" 
sich in Anspruch zu nehmen. 

k£L.! ver P flichte *, die sich widersetzenden 
*rauen anzuzeigen. 

7 ' flftf n ü ht u ZU I Arb eiterklasse gehörende Mann hat 
rur das Kecht der Benutzung dieses Volkseigentums 
monatlich 100 Rubel zu zahlen." 

Die erste Regung der durchschnittlichen un- 
politischen Frau ist eindeutig entsetzte Ableh- 
nung, die Regung nahestehender Frauen aber 
etwa folgender Art : 

(** rief aus einer Arbeiterkorrespondenz): 
„Ich gebe zu, da es nur einen Ausweg aus dem heu- 
tigen Elend gibt für uns Werktätige, und das ist der 
Sozialismus. Aber er muss in gewissen massigen Gren- 

163 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

zen bleiben und nicht alles, was war, als schlecht und 
unnötig verwerfen. Sonst wird das zu einer Verwilde- 
rung der Sitten führen, die noch viel schrecklicher ist 
als die heutige traurige materielle Lage. Und leider 
wird vom Sozialismus ein sehr wichtiges, hohes Ideal 
angegriffen: die Ehe. Man will da volle Freiheit, volle 
Zugellosigkeit fordern, gewissermassen den Sexual- 
bolschewismus. Jeder Mensch soll sich dann frei und 
ohne Hemmung ausleben, austoben. Es soll nicht mehr 
die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau geben 
sondern man ist eben heute mit dem beisammen, mor- 
gen mit jenem, wie es einem gerade die Laune eingibt 
Das nennt man Freiheit, freie Liebe, neue Sexualmo- 
ral. Aber diese schönen Namen können mich nicht 
darüber hinwegtäuschen, dass hier grosse Gefahren 
lauern Es werden die höchsten, edelsten Gefühle des 
Menschen dadurch beschmutzt: die Liebe, die Treue, 
die Aufopferung. Es ist ganz unmöglich, es ist natur- 
widrig, dass ein Mann oder eine Frau zur gleichen Zeit 
mehrere andere lieben kann. Die Folge davon würde 
nur eine unabsehbare Verrohung sein, die die Kultur 
vernichtet. Ich weiss ja nicht, wie diese Dinge in der 
Sowjetunion aussehen, aber entweder sind die Russen 
besondere Menschen oder sie haben diese absolute 
Freiheit doch nicht erlaubt und es gibt dort auch ge- 
wisse Zwangsmassnahmen. So schön also die so- 
zialistischen Theorien sind, und so sehr ich in allen 
wirtschaftlichen Fragen mit euch übereinstimme, in 
der Sexualfrage komme ich nicht mit und dadurch 
zweifle ich oft an der ganzen Sache." 

Die revolutionäre Bewegung hatte bisher mit 
ihrer Sexualpolitik deshalb keinen Erfolg, im 
Verhältnis zu den Möglichkeiten einer konse- 
quenten revolutionären Sexualpolitik, weil sie 
gegen die erfolgreichen Versuche der Reaktion, 
sich auf die sexualverdrängenden Mächte im 
Bürgertum zu stützen, nicht mit den gleichen 
Waffen reagierte. Hätte die Sexualreaktion 
ebenso wie die proletarische Sexualreformbewe- 
gung einzig und allein ihre bevölkerungspoliti- 
164 












D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie 

sehen Thesen propagiert, sie hätte keine Katze 
hinter dem Ofen hervorgelockt. Sie arbeitete je- 
doch erfolgreich mit der Sexualangst insbeson- 
dere der Frauen und weiblichen Jugendlichen, 
sie verband geschickt die Durchsetzung der ob- 
jektiven bevölkerungspolitischen Ziele des Ka- 
pitals mit den affektiven familiären und sonsti- 
gen moralischen Hemmungen der Bevölkerung, 
und dies nicht nur in reinen Kleinbürgerkreisen. 
Die Hunderttausende christlich organisierter 
Arbeiter beweisen das. 

Hier noch ein Beispiel für die Propaganda- 
methode der Reaktion. 1 ) 

„In ihrem zerstörenden Feldzuge gegen die 
ganze bürgerliche Welt hatten die Bolschewi- 
ken von Anfang an ihr besonderes Augenmerk 
auf die Familie, „diesen besonders starken Über- 
rest des verfluchten, alten Regimes" gerichtet. 
Die Vollversammlung des Komintern vom 10. 
Juni 1924 erklärte schon: „Die Revolution ist 
machtlos, so lange der Begriff Familie und Fa- 
milienbeziehung bestehen." Infolge dieser Ein- 
stellung entbrannte auch sofort ein heftiger Kampf 
gegen die Familie. Bigamie und Polygamie sind 
nicht verboten und somit erlaubt. Das Verhalten 
der Bolschewiken zur Ehe wird durch folgende 
Definition des Ehebündnisses gekennzeichnet, 
die Professor Goichbarg vorgeschlagen hatte: 
„Die Ehe ist ein Institut für bequemere und we- 
niger gefährliche Befriedigung der sexuellen 
Bedürfnisse." Wie weit der Zerfall der Familie 
und E he unter den gegebenen Bedingungen 

') („Welt vor dem Abgrund", „Der Einfluss des rus- 
sischen Kulturbolschewismus auf die anderen Völker" 
Deutscher Volkskalender, S. 47). 

165 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

geht, beweist die Statistik der allgemeinen 
Volkszählung 1927. Die „Istwestija" schreibt: 
„In Moskau hat die Volkszählung zahlreiche 
Fälle der Vielweiberei und Vielmännerei fest- 
gestellt. Fälle, wo zwei, ja sogar drei Frauen 
denselben Mann als ihren Ehegatten bezeichnen, 
können als eine alltägliche Erscheinung angese- 
hen werden." Man darf sich nicht wundern, 
wenn der deutsche Professor Sellheim die Fa- 
milienverhältnisse in Russland folgendermassen 
schildert: „Es ist ein vollkommener Rückfall in 
die Sexualordnung der grauen Vorzeit, aus der 
sich die Ehe und eine brauchbare Sexualord- 
nung im Laufe der Jahrtausende entwickelt 
hat." 

Das Ehe- und Familienleben wird auch durch 
Verkündigungen der völligen Freiheit des ge- 
schlechtlichen Verkehrs angegriffen. Die be- 
kannte Kommunistin Smidowitsch stellte ein 
Schema der sexuellen Moral auf,*) nach dem 
sich besonders die Jugend beider Geschlechter 
betätigt. Das Schema enthält etwa folgendes: 

1. Jeder Student der Arbeiterfakultät, wenn 
auch minderjährig, ist berechtigt und verpflich- 
tet, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. 

2. Wenn ein Mann ein junges Mädchen be- 
gehrt, sei es eine Studentin, eine Arbeiterin oder 
sogar ein Mädchen im schulpflichtigen Alter, so 
ist dieses Mädchen verpflichtet, sich dieser Be- 
gierde zu fügen, da sie sonst als Bürgerstochter 
angesehen wird, die nicht als echte Kommunis- 
tin gelten kann. 

J) Diese Bemerkungen der S. waren in Wirklich- 
keit ironisch gemeint und wollten das Sexualleben der 
Jugendlichen kritisieren. 

166 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürge rl. Familie 

Die,, Prawda" schreibt offen : „Zwischen Mann 
und Frau gibt es bei uns nur sexuelle Beziehun- 
gen, wir erkennen keine Liebe an, die Liebe ist 
als etwas Psychologisches zu verachten, bei uns 
ist nur die Physiologie existenzberechtigt". In- 
folge dieser kommunistischen Einstellung ist je- 
de Frau oder jedes Mädchen verpflichtet, den 
sexuellen Trieb des Mannes zu befriedigen. Da 
das ja nun doch nicht immer ganz freiwillig ge- 
schieht, ist die Vergewaltigung von Frauen in 
Sowjetrussland geradezu zu einer Plage gewor- 
den." 

Diese Lügen der Reaktion können nicht da- 
durch ausser Funktion gesetzt werden, dass man 
sie als Lügen entlarvt, gewiss auch nicht da- 
durch, dass man sich ihrer durch Beteuerungen 
erwehrt, man sei ebenso „sittlich" wie das Bür- 
gertum, der Kommunismus zerstöre die Familie 
und die Sitlichkeit nicht etc. Tatsache ist, dass 
sich das Geschlechtsleben im Kommunismus ver- 
ändert, dass sich die alte Sexualordnung auflöst. 
Diese Tatsache darf man nicht ableugnen und 
man kann auch die richtige politische Linie 
nicht finden, wenn man im eigenen Lager aske- 
tische Einstellungen zu diesen Fragen duldet 
und sich auswirken lässt. Wir werden später 
noch genau darauf einzugehen haben. 

Die proletarische Sexualpolitik unterliess es, 
die wirkliche Ordnung des Geschlechtslebens im 
Sowjet-Staat dauernd zu erklären und zu be- 
gründen, die Sexualangst der Frauen vor der 
geschlechtlichen Freiheit zu begreifen und zu 
bewältigen, vor allem aber in den eigenen Rei- 
hen Klarheit zu schaffen durch konsequente und 
dauernde Scheidung der bürgerlichen von den 

167 



D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie 

proletarischen Moralauffassungen. Die Praxis 
lehrt, dass jeder durchschnittliche Kleinbürger 
der proletarischen Ordnung des Geschlechts- 
lebens zustimmt, wenn man sie ihm genügend 
gründlich erklärt. 

Von den familiären Weltanschauungen der po- 
litischen Reaktion, die ökonomisch durch die 
wirtschaftliche Daseinsweise des Kleinbürger- 
tums und ideologisch durch die kirchliche und 
sonstige metaphysische Ideologie gehalten wird, 
strahlt die antibolschewistische Bewegung aus. 
Der Kern der Kulturpolitik der politischen Re- 
aktion ist die Sexualfrage. Dementsprechend 
muss der Kern der revolutionären Kulturpolitik 
ebenfalls die Sexualfrage werden. 









168 



7 



VI. KAPITEL 

Die Kirche als internationale sexual- 
politische Organisation des Kapitals 

1. DAS INTERESSE AN DER KIRCHE 

Wollen wir uns über die Aufgaben im sexual- 
politischen Kampf jeweils klar werden, so müs- 
sen wir genau die Angriffs- und Verteidigungs- 
positionen der Bourgeoisie an der kulturpoliti- 
schen Front beachten. Wir lehnen es ab, die my- 
stischen Redensarten der Reaktion als ein poli- 
tisches „Ablenkungsmanöver" abzutun. Wir sag- 
ten: Wenn die Bourgeoisie mit einer bestimm- 
ten ideellen Propaganda Erfolg hat, so kann es 
nicht bloss eine Vernebelung sein, sondern in je- 
dem Falle muss ein massenpsychologisches Pro- 
blem vorliegen, muss etwas von uns noch Uner- 
kanntes in den Massen vorgehen, das sie befä- 
higt, entgegen ihren eigenen Interessen zu den- 
ken und zu handeln. Die Frage ist entscheidend, 
denn ohne dieses Verhalten der Massen wäre die 
herrschende Klasse völlig machtlos; nur die Be- 
reitschaft der Massen, diese Ideen aufzunehmen, 
was wir den „massenpsychologischen Boden" der 
Klassenherrschaft nennen könnten, macht die 
Stärke der Bourgeoisie aus. Es ist daher drin- 
gende Aufgabe, hier volles Verständnis zu er- 
zielen. 

Mit den Steigerungen des materiellen Drucks 
auf die beherrschte Klasse pflegt sich immer 

169 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

auch der moralische zu verstärken. Das kann 
nur die Funktion haben, einer eventuellen Re- 
bellion der Massen gegen den ökonomischen 
Druck durch eine Steigerung ihrer ideologi- 
schen und moralischen Abhängigkeit von der 
herrschenden Ordnung vorzubeugen. Auf wel- 
che Weise geschieht das? 

Da die religiöse Verseuchung die wichtigste 
massenpsychologische Massnahme ist, die den 
Grund zur Aufnahme faschistischer Ideologie 
in der Krise legt, kann eine Untersuchung der 
faschistischen Ideologie auf das Verständnis 
der psychologischen Wirkung der Religion nicht 
verzichten. 

Als im Frühjahr 1932 die Papenregierung nach 
dem Sturze Brünings ans Ruder kam, war eine 
ihrer ersten Massnahmen die Ankündigung der 
Durchführung einer strengeren sittlich-christli- 
chen Erziehung der Nation. Die Hitlerregie- 
rung setzt heute dieses Programm verschärft 
fort.i) 

In einem Erlass, der die Erziehung der Ju- 
gend betraf, hiess es: 



i) Z. B. (Meldung aus Hamburg in August 
1933): 

„Konzentrationslager für „unmoralische" Wasser- 
sportler. Hamburg. Die Hamburger Polizeibehörde hat 
ihre Organe angewiesen, ein besonderes Auerenmerk 
auf das Verhalten der Wassersportler zu richten, die 
in vielen Fällen „die selbstverständlichen Grundsätze 
der öffentlichen Moral unbeachtet Hessen". Die Poli- 
zeibehörde gibt öffentlich bekannt, dass sie rücksichts- 
los einschreiten und Kanoefahrer, die ihren Vorschrif- 
ten zuwider handeln, in ein Konzentrationslager brin- 
gen werde, damit sie dort Unterricht über Anstand 
"nd Sitte erhalten." 

170 






i 



Das Interesse an der Kirche 

„Die Jugend wird ihrem schweren Schicksal und den 
hohen Anforderungen der Zukunft nur dann gewachsen 
sein, wenn sie beherrscht wird vom Volks- und Staats- 
gedanken . . . das heisst aber Erziehung zur Verantwor- 
tung und Opferfähigkeit gegenüber dem Ganzen. 
Weichlichkeit und zu weit getriebene Rücksicht auf je- 
de individuelle Neigung sind unangebracht gegenüber 
einer Jugend, die vom Leben einmal hart angepackt 
wird. Nur dann aber ist die Jugend für ihren Dienst 
an Volk und Staat recht vorbereitet, wenn sie gelernt 
hat, sachlich zu arbeiten, klar zu denken, ihre Pflicht 
zu erfüllen und wenn sie auch daran gewöhnt worden 
ist, sich in Zucht und Gehorsam den Ordnungen der 
Erziehungsgemeinschaft einzufügen und sich willig ih- 
rer Autorität unterzuordnen ... Die Erziehung zu ech- 
ter Staatsgesinnung muss ergänzt und vertieft werden 
durch eine deutsche Bildung, die sich auf die geschicht- 
lich kulturelle Wertgemeinschaft des deutschen Vol- 
kes gründet ... durch Versenkung in unser geschicht- 
lich gewordenes Volkstum Die Erziehung zur 

Staatsgesinnung und zum Volksbürgertum empfängt 
ihre stärkste innerliche Kraft aus den Wahrheiten des 
Christentums ... Treue und Verantwortung gegenüber 
Volk und Vaterland haben ihre tiefste Verankerung im 
christlichen Glauben. Deshalb wird es stets meine be- 
sondere Pflicht sein, das Recht und die freie Entfal- 
tung der christlichen Schule und die christliche Grund- 
lage aller Erziehung zu sichern." 

Wir müssen nun fragen, worin diese vom 
Standpunkt des Kapitals mit Recht gepriesene 
Stärke des christlichen Glaubens beruht. Wenn 
die politische Reaktion der Ansicht ist, dass die 
Erziehung zur „Staatsgesinnung" ihre stärkste 
innere Kraft aus den „Wahrheiten des Chri- 
stentums" bezieht, so hat sie hundertprozentig 
recht. Ehe wir jedoch dies nachweisen, müssen 
wir die Differenzen innerhalb des reaktionären 
Lagers hinsichtlich der Auffassung des Chri- 
stentums kurz zusammenfassen. 

Der nationalsozialistische und der wilhelmini- 



, 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

sehe Imperialismus unterscheiden sich in ihrer 
massenpsychologischen Basis dadurch, dass der 
Nationalsozialismus einen proletarisierten oder 
in der Proletarisierung begriffenen Mittelstand, 
das deutsche Imperium dagegen einen blühen- 
den Mittelstand zur Massenbasis hatte. Das 
Christentum des wilhelminischen Imperialismus 
musste daher ein anderes sein als das Chri- 
stentum des Nationalsozialismus; doch rütteln 
die Abänderungen der Ideologie an den Grund- 
lagen der christlichen Weltanschauung nicht im 
mindesten, sie verschärfen vielmehr ihre Funk- 
tion. 

Der Nationalsozialismus lehnte zunächst, zu- 
mindest in Gestalt seines bekannten Vertre- 
ters Rosenberg, der dem rechten Flügel ange- 
hört, das alte Testament als „jüdisch" ab. Eben- 
so gilt der Internationalismus der römischen 
Kirche als jüdisch. An die Stelle der interna- 
tionalen Kirche soll die „deutsche nationale Kir- 
che" treten. Nach der Machtergreifung erfolg- 
te tatsächlich die Gleichschaltung der Kirche, 
die ihren politischen Machtbereich einengte, ih- 
ren ideologisch-moralischen dagegen sehr' er- 
weiterte. 

„Gewiss wird dereinst auch das deutsche Volk eine 
Form finden für seine Gotteserkenntnis, sein Gotter- 
leben, wie es sein nordischer Blutsteil verlangt. Ge- 
wiss wird erst dann die Dreieinigkeit des Blutes, des 
Glaubens und des Staates vollkommen sein. (Gottfried 
Feder: Das Programm der NSDAP und seine welt- 
anschaulichen Grundlagen, S. 49). 

Eine Identifizierung des jüdischen Gottes mit 
der heiligen Dreieinigkeit dürfe auf keinen Fall 
erfolgen. Eine Verlegenheit ergab dabei nur der 
172 






i 









Das Interesse an der Kirche 

Tatbestand, dass Jesus selbst ein Jude war; 
Stapel wusste rasch Rat: Da Jesus ein Gottes- 
sohn sei, könne er nicht als Jude angesehen wer- 
den. An die Stelle der Dogmen als jüdischer 
Überlieferung sollte das „Erlebnis des eigenen 
Gewissens" treten an die Stelle des Ablasses 
der „Gedanke des persönlichen Ehrgefühls." 

Der Glaube an eine christliche Begleitung 
der Seelen nach dem Sterben wird als „Medizin- 
mannentum der Südseevölker" abgelehnt. Eben- 
so die jungfräuliche Empfängnis Marias. Dazu 
meint Scharnagel: 

„Er (Rosenberg) verwechselt das Dogma von der 
unbefleckten Empfängnis der allerseligsten Jungfrau, 
d. h. ihre Freiheit von der Erbsünde ... mit dem Dog- 
ma von der jungfräulichen Geburt Jesu (,der empfan- 
gen ist vom heiligen Geist') ..." 

Wir werden noch sehr eingehend zu erörtern 
haben, warum der Erfolg der Kirche so gross 
werden musste, wenn sie sich zentral auf die 
Lehre von der Erbsünde als einem Geschlechts- 
akt um der Lust willen stützte (und nicht wie 
angenommen wird auf eine Erbsünde im Sinne 
eines Urvatermordes). Der Nationalsozialismus 
behält das Motiv bei, wertet es nur mit Hilfe 
einer anderen, seinen Zwecken entsprechenderen 
Ideologie aus: 

„Das Kruzifix ist das Gleichnis der Lehre vom ge- 
opferten Lamm, ein Bild, welches uns den Nieder- 
bruch aller Kräfte vors Gemüt führt und durch die 
grauenhafte Darstellung des Schmerzes innerlich 
gleichfalls niederdrückt, demütig macht, wie es die 
herrschsüchtigen Kirchen bezwecken ...... Bitte deut- 
sche Kirche wird nach und nach in den ihr überwiese- 
nen Kirchen an Stelle der Kreuzigung den lehrenden 
Feuergeist, den Helden im höchsten Sinne darstellen. 
(Rosenberg: Mythus etc., S. 577). 

173 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

Es handelt sich nur um einen Austausch der 
Fesseln: An die Stelle des masochistischen, in- 
ternationalen Christentums soll das sadistisch- 
narzistische des Nationalismus treten. Nunmehr 
geht es darum 

„...die deutsche Nationalehre als obersten Masstab 
des Wandeins anzuerkennen, um für sie zu leben (Hit- 
ler: Kampf, S. 512) ... Er (der Staat) wird jeder reli- 
giösen Überzeugung ungehindert Raum geben, er wird 
bittenlehren verschiedener Form frei predigen lassen 
unter der Bedingung, dass sie alle der Behauptung der 
Wationalehre nicht hindernd im Wege stehen (Kampf, 
o. 566). 

Wir haben bereits gehört, dass sich die Ideo- K 

logie der Nationalehre aus der familiären und 
diese aus der sexualvereinenden Sexualordnung 
ableitet. An der Eheinstitution rütteln weder 
Christentum noch Nationalsozialismus; für je- 
nes ist die Ehe, von der Zeugung abgesehen, 
eine „volle, lebenslängliche Lebensgemein- 
schaft", für den Nationalsozialisten eine biolo- 
gische Rassenschutzinstitution. Ausserhalb der 
Ehe gibt es für beide kein Geschlechtsleben. 

Der Nationalsozialismus will ferner die Reli- 
gion nicht auf historischer, sondern auf „aktuel- 
ler" Basis erhalten. Diese Änderung lässt sich 
aus dem Zerfall der christlichen Sexualmoral 
erklären, dem die Berufung auf historische For- 
derungen allein nicht mehr standhält. 

„Der völkische Rassestaat muss einst seine tiefste 
Verankerung noch in der Religion finden. Erst dann, 
wenn der Gottesglaube nicht mehr mit einem bestimm- 
ten Ereignis der Vergangenheit, sondern mit dem art- 
gemässen Tun und Sein des Volkes und Staates, wie 
auch des Einzelnen in immerwährendem Erleben im- 
mer wieder aufs innigste verwoben sein wird, steht un- 
174 



Das Interesse an der Kirche 

sere Welt aufs neue fest gegründet da." (Ludwig Haa- 
se: Natsoz. Monatshefte, Jg. I., H. 5, S. 213). 

Wir vergessen nicht: „Artgemässes Tun und 
Sein" bedeutet „sittliches" Sein, d. h. praktische 
Sexualverneinung. 

Gerade an dem, was die Nationalsozialisten 
sich von der Kirche zu unterscheiden bewog und 
was sie mit ihr gemeinsam vertreten, lässt sich 
das für die reaktionäre Funktion der Religion 
Unwesentliche von dem eigentlich Wirksamen 
unterscheiden. 1 ) 



*) Die Nationalsozialisten lehnten zwar das bayrische 
Konkordat (15.-7.-1930) und das preussische Konkor- 
dat (1.-7.-1929) ab. Es handelte sich bei der Ablehnung 
jedoch nur um die Dotation 1931 im Betrag von 
4,122,370 RM. Nicht angegriffen wurde die Steigerung 
der Seelsorgeeinkommenergänzung in Bayern von 5,87 
Mill. RM im Jahre 1914 auf 19,7 Mill. RM im Jahre 
1931 (schweres Krisenjahr!). Die folgenden Angaben 
über das bayrische Konkordat entnehmen wir einem 
Artikel von Robert Boeck „Konkordate sehen dich 
an": Laut Konkordat vom 25.-1.-1925 wurde der Kir- 
che zugestanden: 

1. Die Geistlichen sind Staatsbeamte. 

2. Der Staat gibt zu, dass durch die Säkularisation 
von 1817 (Enteignung von Kirchengütern) der Kirche 
ein schweres Unrecht zugefügt wurde und stellt der 
Kirche anheim, die Güter bzw. ihren Geldwert von 60 
Millionen Goldmark zurückzufordern. 

3. Der Staat muss fast 50 % der Erträgnisse der bay- 
rischen Staatsforste aufwenden, um einen Teil der 
Abgaben an die Kirche bezahlen zu können, hat also 
die Forsteinnahmen gleichsam an die Kirche verpfän- 

4. Die Kirche ist berechtigt, auf Grundlage der bür- 
gerlichen Steuerlisten, Steuern (Kirchensteuer) für 
sich zu erheben. 

5. Die Kirche hat das Recht, neues Besitztum zu 

175 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

Das Historische, die Dogmen, mancher hef- 
tigst verteidigte Glaubenssatz wird, wie es sich 
zeigt, bedeutungslos, wenn es gelingt, ihn in 
seiner Funktion durch etwas anderes, ebenso 
wirksames zu ersetzen. Der Nationalsozialismus 
will ebenfalls das „religiöse Erleben", worauf 

erwerben und als Eigentum zu haben, das unverletz- 
lich ist und vom Staat geschützt wird. 

6. Der Staat verpflichtet sich, den hohen kirchlichen 
Würdenträgern „eine ihrer Würde und ihrem Stande 
entsprechende Wohnung" anzuweisen und zu bezahlen. 

7. Die Kirche, ihre Geistlichen und 28000 Mönche 
geniessen unbeschränkte Freiheit in der Ausübung ih- 
rer religiösen und industriellen (Bücher-, Bier- und 
Schnapsfabrikation) Tätigkeiten. 

8. An den Universitäten München und Würzburg 
müssen je ein Professor der Philosophie und Geschich- 
te angestellt werden, die Vertrauensleute der Kirche 
sind und nur im kirchlichen Sinne lehren. 

9. Der Staat garantiert den Religionsunterricht in 
den Volksschulen, und dem Bischof oder seinen Beauf- 
tragten steht das Recht zu, Misstände im religiös-öf- 
fentlichen Leben der katholischen Schüler und ihre 
nachteilige oder ungehörige (!) Beeinflussung bei den 
staatlichen Behörden zu beanstanden und Abhilfe zu 
verlangen. 

Nach vorsichtiger Schätzung wurden der katholi- 
schen Kirche in Bayern durch das Konkordat Werte: 
d. h. bare Geldzuwendungen, Güterwerte, Grund- und 
Gewerbesteuerfreiheit und eigene Einnahmen in der 
Höhe von einer Milliarde Mark garantiert. 

Der bayrische Staat zahlte an die katholische Kir- 
che im Jahre 1916 13 Millionen Mark, 1929 28,468,400 
Mark, 1931 26,050,250 Mark. 

Der Dienst der Kirche für den Staat muss sich of- 
fenbar lohnen. — Der Abschluss des Konkordats zwi- 
schen dem deutschen Reich und dem Vatikan im Juli 
1933 brachte keine grundsätzlich neuen, für die Mas- 
senpsychologie entscheidenden Beziehungen zwischen 
Kirche und Staat. Die privatv/irtschaftlichen Grund- 
funktionen der Kirche blieben unangetastet. 

176 



Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 

allein es ihm ankommt; er will es nur anders 
basieren. Was ist dieses „immerwährende Er- 
leben"? 



2. DER KAMPF GEGEN DEN „KULTUR- 
BOLSCHEWISMUS" 

Das nationalistische und familiäre Empfinden 
ist auf das innigste verknüpft mit mehr oder min- 
der dumpfen, mehr oder minder varstandesmäs- 
sig eingekleideten religiösen Gefühlen. Die Lite- 
ratur darüber ist grenzenlos. Eine akademische, 
ins Detail gehende Kritik dieses Gebietes 
kommt — vorläufig wenigstens — nicht in Frage. 
Wir knüpfen an unser Hauptproblem an: Wenn 
sich Nationalsozialismus und Kirche auf das my- 
stische Denken und Empfinden der Massen 
stützen, und zwar erfolgreich, so ist ein Kampf 
dagegen nur dann aussichtsreich, wenn man das 
Tempo der antireligiösen Propaganda derart zu 
beschleunigen und zu intensivieren vermag, dass 
diese die mystische Verseuchung der Massen, 
um eine gute Parole der Revolution zu ge- 
brauchen, „einholt und überholt". Es genügt 
nicht, wenn die atheistische Bewegung in den 
kapitalistischen Ländern zwar fortschreitet, 
aber derart langsam, dass sie immer mehr hinter 
der religiösen Verseuchung zurückbleibt. Und 
dies ist leider der Fall. Der Grund hiefür kann 
nur in einer unvollkommenen theoretischen Er- 
fassung der Religion liegen. Die atheistische 
Propaganda stützt sich vorwiegend darauf, die 
objektive kapitalistische Funktion der Kirche 
und die Missetaten der Kirchenfürsten und 
-beamten zu enthüllen. Damit ist der Erfolg 

12 177 









. 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

nur bei einem relativ geringen und bereits von 
selbst in die Nähe der revolutionären Front ge- 
rückten Teil der Massen gegeben. Die überwie- 
gende Mehrheit bleibt unangetastet. Das hat 
seinen Grund darin, dass die atheistische Pro- 
paganda nur an den Verstand der Massen, nicht 
aber an ihr Gefühl appelliert. Wenn aber ir- 
gendeiner religiös fühlt, prallt jede noch so 
kunstvolle Entlarvung eines Kirchenfürsten an 
ihm ab, macht ihm die genaueste Darlegung der 
finanziellen Unterstützung der Kirche durch 
den Ausbeuterstaat mit den Mitteln der Arbei- 
tergroschen ebensowenig Eindruck wie die 
Marx-Engelssche historische Analyse der Re- 
ligion. 

Die atheistische Bewegung versucht zwar 
auch affektive Mittel anzuwenden. So standen 
etwa die Jugendweihefeste der deutschen prole- 
tarischen Freidenker im Dienste dieser Arbeit 
Trotz alledem verfügten die christlichen Tu- 
gendverbände etwa über 30 mal so viel Jugend- 
liche wie die der kommunistischen Partei und 
der Sozialdemokratie. Etwa \y 2 Millionen 
christlicher Jugendlicher standen in den Tahren 
1930—1932 etwa 50,000 kommunistische und 
60,000 sozialistische gegenüber. Der National- 
sozialismus verfügte seinen Angaben nach 1931 
über etwa 40,000 Jugendliche. Detaillierte Zah- 
len entnehmen wir der „Proletarischen Freiden- 
kerstimme" von April 1932. Danach zählten: 

Der kathol. Jungmännerbund Deutsch- 
lands 386,879 

Der Zentralverband kathol. Jungfrauen- 
vereinigungen Deutschlands 800,000 

178 



Der kampi gegen den Kuitufbolsch 



ewismüs 



Der Verband kathol. Junggesellenvereine 93,000 
Der Verband süddeutscher kath. weibl. 
Jugendvereine ' 25 000 

Der Verband kathol. Büchervereine 
Bayerns 35220 

Der Verband kath. Schüler d. höheren 

Lehranst. „Neudeutschland'* 15,290 

Kath. Jugendbund werktät. Mädchen 

Deutschlands 80QQ 

Keichsverband deutscher Windhorst- 

bül } de 10,000 

(Die Zahlen entstammen dem kleinen „Hand- 
buch der Jugendverbände" 1931). 

Wichtig ist die soziale Zusammensetzung 
Beim katholischen Jungmännerverband Deutsch- 
lands bestand folgendes Verhältnis: 

Arbeiter 45,6% 

Handwerker 21,6% 

Landjugend 18*7% 

Kaufleute 5,9% 

Studierende 4,8% 

Beamte 3^3% 

Das proletarische Element bildet die über- 
wiegende Mehrzahl. Die Alterszusammenset- 
zung ergab 1929: 

14—17 Jahre 51,0% 

!7— 21 , 28,3% 

21—25 , 13,5% 

über 25 „ 7,1% 

Also 4/ 5 d er Mitglieder im Alter der Ge- 
schlechtsreife bzw. in der Nachpubertät. 

Während nun die kommunistische Stellung- 
nahme im Kampf um die Gesinnung dieser Ju- 
gendlichen die Klassenzugehörigkeit gegen- 

l 179 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

f*l de " Weltanschauungsfragen in den Vor- 
dergrund rucken wollte, bezo| die katholische 
Organisation ihre Stellung gerade in der kultu- 
rellen und weltanschaulichen Front Dfc Kom 
mumsten schieben: m " 

„Die Klassenzugehörigkeit wird -sich k.: • . . 

Die Führung der katholischen Jugend dage- 
gen (in „Jungarbeiter- Nr. 17, 1931)7 g 

tJ&Sü! . Erf ? s ?.Pff der Jungarbeiter und der Arbei 

Partei. Wir begrls^s^ 

der kommunistischen Umsturzpartei schärfsten« g i' 
gegentritt. Vor allem aber erwarten wir ** C ?- t_ 
deutsche Regierung dem Kam de KoIÄ dle 

b g e e g n e g K net^ "* ■** S ^ «BWÄ 

In den Berliner Prüf stellen zur Bewah 
rung r der Jugend vor Schmutz und Schund 
fungierten Vertreter aus 8 katholischen Oreani 
sationen. In einem Autruf der Zentrumsjulend 
vom Jahre 1932 hiess es: J"gena 

„Wir verlangen, dass der Staat das christliche K«l 
turgut mit allen Mitteln schützt gegen eine volksverl 
giftende Schmutzpresse, Schundliteratur, gegen eine 

SffiSÄ t? Nationale entwürdigende oder ver! 
fälschende Filmproduktion ..." 

Die Kirche verteidigt somit ihre kapitalisti- 
180 






Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 

sehe Funktion an einer anderen Stelle, als die 
kommunistische Bewegung angreift. 

Notverordnungen und Sparmaßnahme™ ' ' "^ fUf 

zu zeigen, hiess es in der früher genannten 
„Freidenkerstimme". Warum erwiesen sich, wie 
die Erfahrung lehrt, die Massen der christli- 
chen Jungarbeiter gegen diesen Angriff resi- 
stent? Warum sahen sie nicht selbst die kapita- 
listische Funktion der Kirche? Offenbar des- 
halb, weil ihnen diese Funktion verhüllt ist, und 
weil sie derart strukturiert wurden, dass sie 
gläubig und kritikunfähig wurden. Es darf auch 
nicht übersehen werden, dass die Kirchenver- 
treter in den Organisationen gegen das Kapital 
auftreten, sodass ein Gegensatz zwischen Kom- 
munisten und Priestern in der Stellungnahme 
dem Jugendlichen nicht unmittelbar zugänglich 
ist Bloss auf einem Gebiete ist die Grenze 
«™£ ^ 20ge " : , a . u/ dem d " Sexualität. Aber 

fevoSfti SeS £ Cblet Hegt VÖIlig brach ' was die 
revolutionäre Gegenarbeit anlangt. 

^s genügt nicht, wenn festgestellt wird, dass 
der kapitalistische Staat über Elternhaus, Kir- 
cne und Schule zur Bindung der Jugend an sein 
öystem und seine Ideenwelt nach Belieben ver- 
fugen kann. Wir können im Kapitalismus an 
diesen Institutionen nicht rütteln, weil sie mit 
allen Machtmitteln des Staates geschützt sind- 
ihre Aufhebung setzt die soziale Revolution vor- 
aus. Andererseits ist eine Erschütterung ihrer 

181 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

reaktionären Wirkungen eine der wesentlich- 
sten Voraussetzungen der sozialen Revolution 
also der Voraussetzung ihrer Aufhebung. Das 
ist die Hauptaufgabe der roten Kulturfront. Um 
sie zu erfüllen, ist die Kenntnis der Mittel und 
Wege, mit deren Hilfe Elternhaus, Schule und 
Kirche derart wirken können, ist die Auffin- 
dung des psychologischen Prozesses, der in den 
proletarischen Jugendlichen infolge dieser Ein- 
wirkung platzgreift, von entscheidender Bedeu- 
tung. Weder der allgemeine Begriff der 
„Knechtung", noch der der „Verdummung" rei- 
chen hier aus. Verdummung und Knechtung 
sind ja bereits der Erfolg; es kommt aber auf 
die Vorgänge an, die dazu führen, dass das ka- 
pitalistische Interesse die gewünschten Erfolge 
hat. 6 

Welche Rolle dabei die Unterdrückung des 
Sexuallebens der Jugend spielt, wurde in der 
Schrift „Der sexuelle Kampf der Jugend" zu 
zeigen versucht. Im Zusammenhang dieser 
Schrift ist zu untersuchen, welches die Kern- 
elemente des antibolschewistischen Kultur" 
kampfes sind und auf welche gefühlsmässigen 
Tatsachen sich die bolschewistische Kulturfront 
im Gegensatz dazu zu stützen hat. Auch hier 
müssen wir den Grundsatz verfolgen, ganz 
nau auf das zu hören, was die Kulturreaktion 
in den Vordergrund rückt, denn sie tut es nicht 
beiläufig, auch nicht um abzulenken, sondern 
weil es sich offenbar um zentrale Kampfgebiete 
der marxistischen und der antimarxistischen 
Weltanschauung und Politik handelt. 

Wir müssen notgedrungen dem Kampf auf 
weltanschaulichem und kulturellem Gebiet, des- 
182 



Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 

sen Zentrum die Sexualfrage ist, ausweichen, 
solange wir nicht über die notwendigen Kennt- 
nisse, die erforderliche Schulung verfügen, 
diesen Kampf siegreich zu führen. Gelingt es 
uns aber, einen festen Standort in der Kultur- 
front zu gewinnen, so bekommen wir alle Mit- 
tel in die Hand, dem wirtschaftspolitischen 
Kampf die Wege zu ebnen. Denn es sei noch 
einmal gesagt: Die Sexualhemmung versperrt 
dem durchschnittlichen Jugendlichen den Weg 
zur roten Front. Wir müssen es zuwege brin- 
gen, der christlichen Front der moralischen 
Bindung ihrer Anhänger mit entsprechenden 
Mitteln zu begegnen. Dazu ist die Kenntnis ih- 
rer weltanschaulichen Position dringend not- 
wendig. 

Wir greifen willkürlich eine der typischen 
antibolschewistischen Schriften heraus, die vom 
nationalsozialistischen Pfarrer Braumann „Der 
Bolschewismus als Todfeind und Wegbereiter 
der Religion" (1931). Wir könnten uns eben- 
sogut an eine beliebige andere Schrift halten. 
Die Argumente sind überall in der Hauptsache 
die gleichen und auf abweichende Detailauffas- 
sungen kommt es hierbei nicht an. 

„Jede Religion ist die Befreiung von der Welt und 
ihren Mächten durch die Verbindung mit der Gott- 
heit. Deshalb wird der Bolschewismus die Menschen 
nie ganz in Ketten schlagen können, solange etwas von 
Religion in ihnen ist." (Braumann, S. 12). 

Hier wird zwar die Funktion der Religion, 
von den Nöten des Tages abzulenken, „von der 
Welt zu befreien", also eine Auflehnung gegen 
die wahren Verursachungen des Elends zu ver- 

183 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

hindern, ganz klar ausgesprochen, aber mit 
wissenschaftlichen Ergebnissen über die sozio- 
logische Funktion der Religion kommen wir 
in der propagandistischen Praxis nicht allzu 
weit. Für die praktische antireligiöse Arbeit 
kommen vor allem die eindrucksvollen Erfahrun- 
gen in Frage, die man bei Diskussionen zwi- 
schen atheistischen und gottgläubigen Jugend- 
lichen macht. Sie weisen uns auch den Weg zum 
Verständnis der psychologischen Auswirkung 
der objektiven Funktion der Religion, also zu 
ihrer subjektiven Seite, zur Ideologie und zum 
religiösen Fühlen der Massenindividuen. 

Eine kommunistische Jugendgruppe hatte ei- 
nen protestantischen Pfarrer zu einer Diskus- 
sion über die Wirtschaftskrise eingeladen. Er 
erschien, gefolgt und beschützt von etwa 20 
christlichen Jugendlichen im Alter zwischen 18 
und 25 Jahren. Sein Referat enthielt im we- 
sentlichen folgende Stellungnahmen, wobei der 
Sprung von zum Teil richtiger Tatsachenfest- 
stellung in die Mystik das für uns wichtigste 
Ergebnis war. Die Ursachen der Not, so führte 
er aus, seien der Krieg und der Youngplan. Der 
Weltkrieg wäre ein Ausdruck der Verderbtheit 
der Menschen und ihrer Niedertracht, ein Un- 
recht und eine Sünde gewesen. Auch die Aus- 
beutung durch die Kapitalisten sei eine grosse 
Sünde. Wir sehen schon an dieser typischen 
Stellungnahme, wie schwer es die antireligiöse 
Propaganda hat, den Einfluss eines Pfarrers 
ausser Funktion zusetzen, wenn er selbst sich 
antikapitalistisch einstellt und derart dem anti- 
kapitalistischen Fühlen der christlichen Jugend 
entgegenkommt. Kapitalismus und Sozialismus 
184 






Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 

seien in wesentlichen dasselbe, auch der Sozia- 
lismus in der Sowjetunion sei eine Art Kapita- 
lismus, der sozialistische Aufbau bringe Nach- 
teile für die einen Klassen ebenso wie der Ka- 
pitalismus für die anderen.. Man müsse jedem 
Kapitalismus „in die Fresse hauen" ; der Kampf 
des Bolschewismus gegen die Religion sei ein 
Verbrechen, die Religion sei nicht schuld am 
Elend, sondern nur die Tatsache, das der Ka- 
pitalismus die Religion falsch benütze. (Der 
Pfarrer war entschieden fortschrittlich). 
Welche Konsequenzen folgen daraus? Da die 
Menschen schlecht und sündhaft seien, lasse 
sich die Not überhaupt nicht beseitigen, man 
müsse sie ertragen, sich dreinfinden. Auch der 
Kapitalist fühle sich nicht wohl. Die innere 
Not, die die wesentlichste Not sei, werde auch 
nach dem dritten Fünfjahresplan der Sowjet- 
union nicht verschwinden. 

Einige kommunistische Jugendliche versuch- 
ten, ihren Standpunkt zu vertreten: Es komme 
nicht auf den einzelnen Kapitalisten, sondern 
auf das System an. Es komme darauf an, ob die 
Mehrheit oder eine früher gutlebende ver- 
schwindende Minderheit unterdrückt werde. Die 
Auskunft, die Not zu ertragen, bedeute nur eine 
Verlängerung des Elends und eine Hilfe für 
das Kapital. Und so weiter. Am Schluss einigte 
man sich darüber, dass eine Überbrückung der 
Gegensätze nicht möglich sei, dass niemand 
mit anderer Überzeugung wegginge, als er ge- 
kommen war. Die jugendlichen Begleiter des 
Pfarrers hingen an den Lippen ihres Führers; 
sie schienen ebenso materiell niedergedrückt, 
proletarisch zu leben wie die kommunistischen, 

185 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis, d.' Kapitals 

und doch pflichtete jeder einzelne dem Stand- 
punkt bei, dass gegen die Not kein Kraut ge- 
wachsen sei, dass man sich damit abfinden und 
auf Gott vertrauen müsse. 

Nach Schluss der Aussprache fragte ich einige 
kommunistische Jugendliche, warum sie denn 
nicht auf die Hauptfrage der Kirche, die ju- 
gendliche Enthaltsamkeit und den Kulturbol- 
schewismus eingegangen wären. Das wäre zu 
gefährlich und zu schwer, meinten sie, aber das 
würde wie eine Bombe wirken und es sei nicht 
üblich, in politischen Diskussionen darüber zu 
sprechen. 

Einige Zeit vorher fand in einem westlichen 
Bezirk Berlins eine Massenversammlung statt, an 
der Vertreter der Kirche und solche der kom- 
munistischen Partei ihren Standpunkt darleg- 
ten. Gut die Hälfte von den 1800 Besuchern wa- 
ren Christen und Kleinbürger. Als Hauptrefe- 
rent fasste ich die kommunistische Stellung 
zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen 
zusammen : 

1. Die Kirche behauptet, dass die Anwendung 
von Empfängnisverhütungsmitteln gegen die 
Natur sei wie jede Behinderung der natürlichen 
Fortpflanzung. Wenn die Natur so streng und 
weise ist, warum hat sie dann einen Sexualappa- 
rat geschaffen, der nicht nur so oft zum Ge- 
schlechtsverkehr drängt, wie man Kinder zeu- 
gen will, sondern durchschnittlich 2 — 3000 mal 
im Leben? 

2. Die anwesenden Vertreter der Kirche soll- 
ten offen zugeben, ob sie Geschlechtsbefriedi- 
gung nur dann herbeiführen, wenn sie Kinder 
186 



Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 

zeugen wollen. (Es waren protestantische 
Priester). 

3. Warum hat Gott im Geschlechtsapparat 
zweierlei Drüsen geschaffen, eine für die 
Sexualerregung und eine für die Fortpflan- 
zung? 

4. Warum entwickeln schon die Kleinkinder 
eine Sexualität, lange bevor die Fortpflan- 
zungsfunktion einsetzt? 

Die verlegenen Antworten der kirchlichen 
Vertreter lösten Stürme von Gelächter aus. Als 
ich dann klarzumachen versuchte, welche Rolle 
die Verleugnung der Lustfunktion durch die 
Kirche und die bürgerliche Wissenschaft im 
Rahmen des kapitalistischen Systems spielt, 
dass die Unterdrückung der sexuellen Befriedi- 
gung eben zur Demut und allgemeinen Ent- 
sagung auch auf materiellem Gebiet führen soll, 
hatte ich den ganzen Saal auf meiner Seite. Die 
Kirchenvertreter waren geschlagen. 

Reichliche Erfahrung in Massenversammlungen 
lehrt, dass die Gewinnung der ungeschulten Zu- 
hörer in dem Masse steigt, in dem man die po- 
litisch-reaktionäre Rolle der Religion im Zu- 
sammenhang mit der Unterdrückung des sexu- 
ellen Lebens behandelt, je eindeutiger und di- 
rekter man das Recht auf sexuelle Befriedigung 
medizinisch und politisch darlegt. Dieser Tat- 
bestand erfordert eine ausführliche Begrün- 
dung. 



187 



: 



i 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

3) DER APPELL AN DAS RELIGIÖSE 

GEFÜHL 

Der Bolschewismus sei, so heisst es in der an- 
tibolschewistischen Propaganda, „konsequenter 
Hasser jeder Religion", besonders der „inner- 
lich wertvollen". Infolge seines Materialismus 
kenne der Bolschewismus nur materielle Güter, 
er habe daher nur Interesse, materielle Güter zu 
erzeugen. Für geistige Werte und seelische Gü- 
ter habe er nicht das geringste Verständnis. 

Was sind nun diese geistigen Werte und see- 
lischen Güter? Treue und Glauben werden oft 
genannt, im übrigen verschwimmt aber die 
Phraseologie in einem unbestimmten Begriff 
der „Individualität". 

„Weil der Bolschewismus alles Individuelle ertöten 
will, zerstört er die Familie, die dem Menschen im- 
mer ein individuelles Gepräge gibt. Deshalb hasst er 
alles nationale Streben. Alle Völker sollen möglichst 
gleichartig werden und ihm gefügig sein ... Alle Be- 
mühungen, das persönliche Eigenleben zu ertöten 
würden aber vergeblich sein, solange in dem Menschen 
noch etwas von Religion lebt, weil in der Religion 
die personliche Freiheit von der äusseren Welt immer 
wieder durchbricht." 

Der politische Reaktionär setzt also eine in- 
nige Verbindung von Familie, Nation und Reli- 
gion voraus, den Tatbestand also, der bisher von 
der marxistischen Forschung völlig vernachläs- 
sigt wurde. Zunächst bestätigt sich in der For- 
mulierung, dass die Religion die Freiheit von 
der äusseren Welt bedeute, die psychoanalyti- 
sche Feststellung, dass die Religion eine phanta- 
sierte Ersatzbefriedigung für wirkliche Befrie- 
digungen biete; das passt völlig zur Marxschen 
188 



Der Appell an das religiöse Gefühl 

These, dass Religion auf die Massen wie Opium 
wirke. Es handelt sich hier um mehr als um ein 
blosses Gleichnis. Wir werden nachzuweisen ha- 
ben, dass das religiösen Erleben wirklich die 
gleichen Prozesse im psychischen Apparat in 
Gang setzt wie eine entsprechende Dosis Opi- 
um, dass es sich um Vorgänge im Sexualapparat 
handelt, die rauschähnliche Zustände bedingen. 
Doch zunächst müssen wir uns über die Bezie- 
hungen von religiösem und familiärem Empfin- 
den genauer unterrichten. Braumann schreibt in 
der für die reaktionäre Ideologie typischen 
Weise : 

„Der Bolschewismus hat aber noch einen andern 
Weg zur Vernichtung der Religion, nämlich durch sy- 
stematische Zerstörung des Ehe- und Familienlebens. 
Er weiss sehr gut, dass gerade aus der Familie die 
grossen Kräfte des religiösen Lebens hervorquellen. 
Deshalb wird Eheschliessung und Ehescheidung in ei- 
nem Masse erleichtert, dass die russische Ehe an freie 
Liebe heranreicht." 

Im Hinweis auf die kulturzerstörende Wir- 
kung der sowjetrussischen Fünftagewoche heisst 
es: 

„Das dient sowohl zur Zerstörung des Familien- 
lebens wie der Religion ... Am bedenklichsten sind 
die Verwüstungen, die der Bolschewismus auf sexuel- 
lem Gebiete anrichtet. Durch seine Zerstörung des 
Ehe- und Familienlebens fördert er zuchtlose Aus- 
schweifung jeglicher Art bis zum widernatürlichen 
Verkehr von Geschwistern, Eltern und Kindern. (Das 
bezieht sich auf die Aufhebung der Bestrafung des 
Inzests in der S. U.). Der Bolschewismus kennt über- 
haupt keine sittlichen Hemmungen." 

In der sowjetistischen Literatur wird oft ver- 
sucht, statt solchen Stellungnahmen der politi- 

189 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

sehen Reaktion mit genauer Analyse der histori- 
schen Prozesse auf dem Gebiete der Sexualkul- 
tur zu begegnen, sich dahin zu verteidigen, dass 
es gar nicht wahr sei, dass das sexuelle Leben 
in der SU unsittlich sei, dass sich die Ehen doch 
wieder festigen und ähnliches mehr. Solche Ver- 
teidigungsversuche sind nicht nur politisch un- 
wirksam, sie entsprechen auch nicht den Tatbe- 
ständen. Das sexuelle Leben in der SU ist vom 
christlichen Standpunkt in der Tat unsittlich, 
und von einer Festigung der Ehen kann nicht 
gesprochen werden, weil die Eheinstitution im 
Sinne der bürgerlichen und christlichen Auffas- 
sung in der Tat aufgelöst ist. In der Sowjetuni- 
on herrscht gegenwärtig formal-rechtlich und 
praktisch die Paarungsehe. Der Bolschewismus 
zerstört also die bürgerliche Ehe und Familie 
und er vernichtet die bürgerliche Sittlichkeit. 
Es kommt nur darauf an, nicht nur die Notwen- 
digkeit dieses Prozesses auf das genauste nach- 
zuweisen, sondern insbesondere den Massen der 
Bevölkerung ihren Widerspruch zu Bewusst- 
sein zu bringen, dass sie nämlich im geheimen 
genau das gleiche mit allen Kräften herbeiseh- 
nen, was der Bolschewismus in Wirklichkeit 
durchsetzt, während sie gleichzeitig der christ- 
lichen Ideologie zustimmen. Um aber diese Auf- 
gabe zu erfüllen, ist theoretische Klarheit über 
die Zusammenhänge zwischen Familie, Religion 
und Sexualität notwendig. 

Wir haben früher gezeigt, dass das nationali- 
stische Empfinden eine direkte Fortsetzung des 
familiären ist. Jetzt müssen wir noch nachwei- 
sen, dass auch das religiöse Fühlen eine Quelle 
nationalistischer Ideologie ist, dass also fami- 
190 



■ 



Der Appell an das religiöse Gefühl 

liäre und religiöse Einstellungen die massen- 
psychologischen Grundelemente des Nationalis- 
mus sind. So bestätigt sich massenpsychologisch, 
dass die christliche Erziehung die Wegbereite- 
rin des Faschismus wird, wenn eine wirtschaftli- 
che Erschütterung die Massen in Bewegung 
bringt. 

Leitet sich das Nationalgefühl aus der Mut- 
terbindung (Heimatgefühl) ab, so das religiöse 
Empfinden aus der sexuellen Atmosphäre, die 
mit dieser familiären Bindung untrennbar ver- 
bunden ist. Die familiäre Bindung setzt die 
Hemmung der sexuellen Sinnlichkeit voraus. 
Dieser sinnlichen Hemmung sind ausnahmslos 
sämtliche Kinder der privatwirtschaftlichen Ge- 
sellschaft, insbesondere die Mädchen ausgesetzt. 
Keine noch so laute und „frei" scheinende se- 
xuelle Betätigung kann den Kundigen über diese 
tief sitzende Hemmung hinwegtäuschen; mehr, 
viele krankhafte Äusserungen im späteren Ge- 
schlechtsleben, wie wahllose Partnerwahl, se- 
xuelle Unrast, Neigung zu Ausschweifungen etc. 
leiten sich gerade aus der Hemmung der sinn- 
lichen Erlebnisfähigkeit her. Das selbstver- 
ständliche Resultat dieser zu jeder bürgerlichen 
Erziehung spezifisch gehörenden Hemmung des 
sinnlichen Erlebens („orgastische Impotenz") 
durch unbewusste Schuldgefühle und sexuelle 
Angst, ist eine unaustilgbare, chronisch und in 
den meisten Fällen unbewusst wirkende se- 
xuelle Sehnsucht, die regelmässig mit körper- 
lichen Spannungsgefühlen in der Herz- und 
Zwerchfellgegend, dem Hauptsitz gehemmter 
sexueller Erregung, einhergeht. Dass der Volks- 
mund das Empfinden der Sehnsucht in der 

191 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

Brust lokalisiert, hat seinen berechtigten phy- 
siologischen Sinn. 

Die ständige Spannung im psychophysischen 
Apparat bildet die Grundlage zunächst von 
Tagträumerei beim Kleinkind und Puberilen, 
die sich besonders leicht in mystisches, senti- 
mentales und religiöses Empfinden umsetzen 
und fortsetzen kann, weil die Atmosphäre des 
bürgerlichen Menschen davon durchtränkt ist. 
Beim durchschnittlichen Kinde jeder gesell- 
schaftlichen Schichte wird so eine Struktur 
hergestellt, die mystische Einflüsse des Natio- 
nalismus, der Religion, des Aberglaubens jeder 
Art geradezu aufsaugen muss. Das Schauer- 
märchen in früher Kindheit, die Detektivro- 
mane später, die mysteriöse kirchliche Atmos- 
phäre sind nur Stufen zur Entfaltung des 
Anklingens der psychischen Apparatur bei mi- 
litärischen und vaterländischen Weihen. Es ist 
für die Beurteilung der Wirkung des gesell- 
schaftlich produzierten Mystizismus und der 
Aufnahmefähigkeit der psychischen Apparatur 
nicht wesentlich, ob die Persönlichkeit an der 
Oberfläche unmystisch, rauh oder sogar brutal 
erscheint. Auf die Prozesse in der Tiefe der 
Person kommt es an. Die Sentimentalität und 
Gottesfürchtigkeit eines Matuschka, Haarmann, 
Kürten steht nicht nur in einem Widerspruch, 
sondern auch in einer engen Beziehung zu ihrer 
tierischen Grausamkeit. Dem Kenner der Tie- 
fenstruktur erscheinen diese Gegensätze nur als 
zusammengehörige Elemente, die ein und der- 
selben Quelle ihren Ursprung verdanken: Der 
durch die sexuelle Hemmung erzeugten vegeta- 
tiven Sehnsucht, der der naturgemäss vorge- 

192 






Der Appell an das religiöse Gefühl 

zeichnete Weg zur Erfüllung versperrt ist und 
die daher so leicht einerseits der muskulären 
Entladung fähig wird, andererseits entsprechend 
dem gleichzeitig entstehenden Schuldgefühl in 
mystisch-religiöses Erleben ausstrahlen kann. 
Dass der Kindermörder Kürten sexualgestört 
war, wurde zwar durch die Aussagen seiner 
Frau klar,ohne aber unsern klinisch-psychiatri- 
schen „Sachverständigen" aufzufallen. Die Ge- 
paartheit von Brutalität und religiösem Emp- 
finden ist durchschnittlich überall dort anzu- 
treffen, wo die normale sinnliche Erlebnisfähig- 
keit gestört ist. Bei den Inquisitoren des Mittel- 
alters, beim grausamen und religiösen Philipp 
II. von Spanien nicht minder als bei irgend 
einem Massenmörder unserer Zeit. Wo nicht 
eine hysterische Erkrankung die unausgegliche- 
ne Erregung in ängstlicher Ohnmacht des psy- 
chischen Apparats, oder eine Zwangsneurose 
die gleiche Erregung in sinnlosen und grotesken 
psychischen Symptomen erstickt, bietet die Rea- 
lität der patriarchalischen und christlichen Ord- 
nung genügend Gelegenheit zu einer Abfuhr, 
die wegen der sozialen Rationalisierung solcher 
Verhaltungsweisen das pathologische verwischt. 1 ) 
Es würde sich lohnen auf die Soziologie der 
verschiedenen religiösen Sekten in Amerika, 
die buddhistische Ideologie in Indien, die ver- 
schiedenen theosophischen und anthroposophi- 

l ) Morphinisten sind regelmässig in normaler Weise 
befriedigungsunfähig; ihre Erregungen versuchen sie 
daher künstlich zu bannen, was nie dauernd gelingt. 
Gewöhnlich sind sie sadistisch, mystisch, eitel, homo- 
sexuell und von verzehrender Angst gequält, die sie 
durch brutales Verhalten abzubauen versuchen. 

13 193 






D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

sehen Strömungen sowie die mystischen Kreise 
aller Art als gesellschaftlich bedeutsamer Er- 
scheinungen patriarchalischer Sexualökonomie 
genau einzugehn. Hier genüge die Feststellung, 
dass diese gesellschaftlichen Gruppierungen 
mystischer Kreise bloss Konzentrationen von 
Tatbeständen sind, die wir in mehr diffuser, 
weniger greifbarer, aber deshalb nicht weniger 
deutlicher Art in allen Schichten der Bevölke- 
rung finden. Zwischen dem Grade des mystisch- 
sentimental-religiösen Empfindens und dem 
Grade der durchschnittlichen Störung des sinn- 
lichen Erlebens gibt es eine bestimmte Bezie- 
hung. Bei Beobachtung des Verhaltens der 
vorwiegend proletarischen und kleinbürgerli- 
chen Zuhörer einer kitschigen Operette lernt 
man für diese Probleme mehr als in hundert 
Handbüchern der Sexualwissenschaft, selbst sol- 
chen von Scheinsozialisten. So verschieden die 
Inhalte und Richtungen dieses religiös-mysti- 
schen Erlebens und so mannigfaltig sie sind, so 
allgemeingültig, unvariabel und typisch ist 
ihre sexualökonomische Grundlage. Man ver- 
gleiche zur Probe der Richtigkeit dieser Fest- 
stellung das wirklichkeitsnahe, unsentimentale, 
lebenskräftige Erleben der Mitglieder proleta- 
rischer Nacktkulturvereine mit dem sentimen- 
talen, künstlich-naturschwärmerischen, mysti- 
schen der bürgerlichen und man wird leicht 
feststellen, dass diese die sexuelle Sinnlichkeit 
in Gegensatz zur Nacktheit bringen, jene dage- 
gen den wirklichen Sinn der Nacktkultur er- 
fassen und oft danach leben, weshalb sie ja 
auch von der politischen Reaktion verfolgt wer- 
den. Die proletarischen Nacktkulturvereine 
194 






Das Ziel des KulturbolschewLsmus etc. 

begingen nur den schweren Fehler, für die ge- 
sunde sexuelle Sinnlichkeit nicht offen und 
unumwunden einzutreten und zu kämpfen, son- 
dern an dessen Stelle wie Koch 1932 an die 
kapitalistischen Richter zu appellieren. Sie ver- 
hüllten verschämt den eigentlichen Sinn der 
Nacktkultur, die eine Rebellion der unterdrück- 
ten sexuellen Bedürfnisse gegen die heutige 
Sexualordnung darstellt, und brachen damit dem 
Ganzen die Spitze ab, nicht zu reden von der 
kleinbürgerlichen Prüderie, die sich darin aus- 
druckt. 

Wir können hier noch nicht auf den nahelie- 
genden Einwand eingehen, dass ja auch der 
sexualokonomisch lebende mutterrechtliche Pri- 
mitive mystisch fühle. Es bedarf eines sehr aus- 
führlichen Nachweises, dass es sich beim mut- 
terrechtlichen und beim vaterrechtlichen Men- 
schen um Grundverschiedenes handelt. Dieser 
Nachweis kann vor allem daran geführt wer- 
den, dass sich die Stellung der Religion zur 
Sexualität im Patriarchat veränderte, dass sie 
nachher ebenso zentral sexualfeindlich ist, wie 
sie ursprünglich im wesentlichen eine Religion 
der Sexualität war. 

4) DAS ZIEL DES KULTURBOLSCHE- 
WISMUS IM LICHTE DER REAKTION. 

Der Kommunismus konzentriert gegenwärtig 
alle seine Kräfte auf die Beseitigung der wirt- 
schaftlichen Grundlagen des menschlichen Lei- 
dens. Indem er von diesen Leiden ausgeht und 
ihren Urgrund, die ökonomischen Widersprüche 

195 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

des kapitalistischen Wirtschaftssystems erfasst, 
verdunkelt die erstrangige Notwendigkeit der 
ökonomischen Umwälzung der gesellschaftlichen 
Ordnung seine weiteren Ziele und Absichten 
Wahrend der Kommunist oft genötigt ist, die 
Lösung oder auch nur die Diskussion an 'sich 
sehr dringender Fragen aufzuschieben, bis die 
dringendste Aufgabe, die Schaffung der Vor- 
aussetzungen für die Lösung dieser Fragen, 
erfüllt ist, kämpft der Reaktionär aufs schärfste 
gerade gegen die durch die nächstliegenden 
vorbereitenden Aufgaben verdunkelten Endziele 
des Kommunismus. 

„Der Kulturbolschewismus will die Zersetzung un- 
serer bisherigen Kultur und ihre Neuformung in dem 
Sinne, dass sie rein dem Erdenglück der Menschen 
dient ..." 

schreibt Kurt Hütten in seiner Kampfschrift 
„Kulturbolschewismus" (Verlag des evane 
Volksbundes, 1931). Will man nun selbst eine 
klare Stellung in der Kulturfrage beziehen so 
muss man zuerst entscheiden, ob die politische 
Reaktion mit ihren Vorwürfen etwas trifft 
was die bolschewistische Kulturrevolution wirk- 
lich beabsichtigt, oder ob sie aus demagogischen 
Gründen Ziele unterschiebt, die keineswegs im 
Zielbereich des Kommunismus liegen. Im ersten 
Fall ist eine Verteidigung und scharfe Klärung 
der historischen Notwendigkeit dieser Ziele 
unerlässlich. Im zweiten Fall genügt der Nach- 
weis der politischen Hintergründe der Unter- 
schiebung, also eine Ableugnung dessen, was die 
Reaktion dem Kommunismus zumutet. 

Wie schätzt nun die politische Reaktion selbst 
196 






Das Ziel des Kulturbolschewismus etc. 

den Gegensatz von irdischem Glück und Reli- 
gion ein? Kurt Hütten schreibt: 

„Zunächst einmal: Der erbittertste Kampf des Kul- 
turbolschewismus gilt der Religion. Denn die Reli- 
gion, so lange sie lebendig ist, bildet das stärkste 
Bollwerk gegen seine Ziele ... Sie stellt das ganze 
menschliche Leben unter etwas aussermenschlicb.es 
eine ewige Autorität. Sie fordert Entsagung, Opfer, 
Zurückstellung eigener Wünsche. Sie umwittert das 
menschliche Leben mit Verantwortung, Schuld, Ge- 
richt, Ewigkeit ... Sie hemmt ein schrankenloses Sich- 
ausleben der menschlichen Triebe." „Kulturrevolu- 
tion ist kulturelle Revolution des Menschen, ist die 
Unterjochung aller Lebensgebiete unter den Glücks- 
gedanken." 

Der Reaktionär erkennt nicht die ökonomi- 
schen Widersprüche, deren Lösung zu einer 
Milderung oder Beseitigung des materiellen 
Leidens führt. Er fühlt bloss die Gefahr für die 
psychische Verankerung des herrschenden Wirt- 
schaftssystems •(= „Kultur") ; diese Gefahr sieht 
er aber derzeit besser und tiefer, als der heutige 
Revolutionär, weil dieser, wie schon gesagt, 
seine Kräfte und Einsichten zuwächst auf die 
Änderung der Wirtschaftsordnung konzentriert 
hat. Der Reaktionär erkennt die Gefahr, die der 
Familie und der bürgerlichen Sittlichkeit von 
der Revolution her droht, wo der durchschnitt- 
liche Revolutionär noch recht weit von der 
Ahnung der Konsequenzen der Revolution für 
Familie und Sittlichkeit, ja sehr oft in dieser 
Hinsicht brav kleinbürgerlich ist. Der Reak- 
tionär vertritt Heroismus, Leidenerdulden, Ent- 
behrungertragen absolut, ewig, und er vertritt 
solcherweise die Interessen des Kapitals, ob er 
will oder nicht. Dazu braucht er aber Religion, 

197 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

d. h. im Kern sexuelle Entsagung. Daher be- 
deutet Gluck für ihn im wesentlichen sexuelle 
Befriedigung und er hat mit diesem Urteil 
recht. Auch der Revolutionär fordert viel Ent- 
sagung, Pflicht, Verzicht, weil die Glücksmög- 
lichkeit erst erkämpft werden muss. In der 
praktischen Massenarbeit vergisst er darüber oft 

5? i r Und manchmal gern — das eigentliche 
-ßiel, das nicht Arbeit ist (der Kommunismus 
bringt fortschreitende Herabsetzung der Ar- 
beitszeit) sondern das sexuelle Spiel und Leben 
in allen seinen Formen vom grob Sinnlichen bis 
zu den höchsten Sublimationen der Sexualität; 
die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des 
Lebens, aber im Kommunismus schrumpft sie 
personell und zeitlich zusammen, um maschinell 
und räumlich zu wachsen. Das ist das Wesen 
der sozialistischen Rationalisierung der Arbeit 
im Gegensatz zur kapitalistischen. 

Sätze wie die folgenden finden sich in vielen 
christlichen und reaktionären Schriften, wenn 
auch nicht immer so klar formuliert wie hei 
Kurt Hütten: 

• 

„Der Kulturbolschewismus ist nicht von gestern und 
heute. Es liegt ihm ein Streben zugrunde, das von Ur 
zeiten an in der menschlichen Brust angelegt ist- Die 
Sehnsucht nach Glück. Es ist das urewige Heimweh 

nach dem Paradies auf Erden An die Stelle der 

Religion des Glaubens tritt die Religion der Lust." 

Wir fragen dagegen: warum kein Glück auf 
Erden, warum nicht die Lust als Inhalt des 
Lebens? 

Man versuche eine Massenabstimmung über 
diese Frage! 

198 



Das Ziel des Kulturbolschewismus etc. 

Der Reaktionär erkennt (wenn auch ideali- 
stisch verzerrt) aber noch weit mehr, auch den 
Zusammenhang der religiösen Ideologie mit der 
Ehe- und Familieninstitution. 

„Um dieser Verantwortlichkeit (für die Folgen des 
Genusses) zu genügen, hat die menschliche Gesell- 
schaft die Einrichtung der Ehe geschaffen, die als 
lebenslängliche Gemeinschaft den schützenden Rahmen 
für die Geschlechtsbeziehung darstellen soll." 

Und gleich darauf folgt das gesamte Register 
an „Kulturwerten*', die im Gefüge der Ideologie 
zusammengehören wie die Teile einer Ma- 
schine : 

„Die Ehe als Bindung, die Familie als Forderung, 
das Vaterland als Selbstwert, die Moral als Autori- 
tät, die Religion als Verpflichtung aus der Ewigkeit 
heraus." 

Der Reaktionär christlicher oder faschisti- 
scher Prägung verurteilt die bürgerliche Form 
der sexuellen Lust (nicht ohne ihr dennoch 
selbst zu verfallen), weil sie ihn provoziert und 
abstösst zugleich. Er kann in sich selbst den 
Widerspruch zwischen sexuellen Anforderun- 
gen und moralischen Hemmungen nicht lösen. 
Der Revolutionär verneint, sofern er sexualideo- 
logisch klar ist, diese bürgerliche Lust, weil sie 
nicht seine Lust ist, nicht die Sexualität der 
Zukunft, sondern die Lust des Widerspruchs 
zwischen Moral und Trieb, die Lust der Aus- 
beutergesellschaft, erniedrigte, schmutzige, 
kranke Lust. Er begeht nur, wenn er unklar ist, 
den Fehler, beim Verdammen der bürgerlichen 
Lust stehen zu bleiben, statt ihr seine eigene 

199 



D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals 

er° S i^ e ..? exU f de ° lo g ie entgegenzusetzen. Ist 
er sich über das Ziel der Lebensgestaltung im 
Kommunismus infolge seiner eigenen bürger- 
lichen Hemmungen nicht im klaren, so verleue- 

r ; e P r, er /i e T l! berhau P t . wird Asket und ver- 
liert dadurch alle Möglichkeiten an der Tu- 
gend.i) Der Zerfall der bürgerlichen Lebens- 
formen im Sexuellen setzt schon vor der Re- 
volution die sexuelle Rebellion frei. Aber sie 
bleibt zunächst bürgerliche sexuelle Rebellion 

J,° r u. er T, man M her Revol "ti°när und oft mit Recht 
tlieht. Es gilt aber, sie revolutionär umzugestal- 
ten, zur proletarischen Sexualrevolution weiter- 
zufuhren, nicht anders wie sonst aus den Er- 
schütterungen des bürgerlichen Lebens die Zu- 
kunft des Sozialismus geboren wird. 



■?.' 



*) In dem sonst vorbildlichen Sowjetfilm „Der We? 
ins Leben wird (in der Waldschenkenscene) nicht der 
sdfer ^ A- hts ^ orm ,. d " verlotterten bürgerlichen Men- 
den A d e Gesc A hle . chtsfo "" des Kommunismus, son- 
SexLll Ki Se ' Antisexualität, gegenübergestellt. Das 

das is P nnrr m w r i J l gen i wird völli & ausgeschaltet; 
a *s ist politisch falsch und verwirrt, statt zu lösen. 

200 



VII. KAPITEL 

Die Voraussetzungen der sexualpoliti- 
schen Praxis im antireligiösen Kampf 

In einer Massenversammlung in Berlin im Ja- 
nuar 1933 stellte der Nationalsozialist Otto 
Strasser an seinen Gegner, den Kommunisten 
Wittfogel eine Frage, die durch ihre Richtig- 
keit verblüffte und dem Zuhörer, der materialis- 
tisch überzeugt war, das Empfinden gab, dass 
ihre theoretische und praktische Beantwortung 
von der kirchlichen Hierarchie als Botschaft 
ihres Unterganges empfunden werden musste. 
Er warf den Marxisten vor, dass sie die Be- 
deutung des Seelischen und des Religiösen un- 
terschätzten. Wenn die Religion, so meinte er, 
nach Marx nur die Blume an der Kette der 
Ausbeutung der arbeitenden Menschheit wäre, 

M>,T • n u Ch I. VerStanden werden > mit welchen 
Mitteln sich die Religion seit Jahrtausenden, 

die christliche im besonderen seit zwei Jahr- 
tausenden fast unverändert halten konnte, zu- 
mal Sie im Beginne mehr Opfer für ihren 
Bestand gefordert hätte, als alle Revolutionen 
zusammengenommen. Die Frage blieb unbeant- 
wortet, fügt sich aber den Ausführungen dieser 
Schrift restlos ein. Man musste sich sagen, dass 
die Frage berechtigt war, aber nicht als Ein- 
wand gegen die materialistische Geschichts- 
auffassung, sondern als eine Mahnung des me- 
taphysischen Gegners, sich Rechenschaft dar- 



201 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

über zu geben, ob die materialistische Welt- 
anschauung die Religion und die Mittel ihrer 
Verankerung auch vielseitig und tief genug er- 
fasst hatte. Die Antwort musste verneinend 
lauten: Die materialistische Lehre hatte es 
bisher nicht vermocht, den mächtigen Gefühls- 
gehalt der Religion materialistisch zu begreifen 
und dementsprechende Praxis zu entwickeln, 
obgleich ihr die Vertreter der Kirche die Lösung 
der Frage und die praktische Antwort in Schrif- 
ten und Predigten fast restlos ausgehändigt 
hatten. Der sexualökonomische Charakter der 
religiösen Ideologie und Gefühlswelt liegt offen 
zutage; er wurde vom Freidenkertum mit fast 
der gleichen Gründlichkeit übersehen wie die 
offen zutagetretende Sexualität des Kindes von 
den berühmtesten Pädagogen. Es ist klar, dass 
hier die Religion über ein noch unentdecktes 
Bollwerk verfügt, das sie mit allen ihr zu Ge- 
bote stehenden Mitteln gegen den Kulturbol- 
schewismus verfocht, noch ehe dieser daran 
dachte, dass es derartiges gibt. 



1. VERANKERUNG DER RELIGION 
DURCH SEXUELLE ANGST 

Die sexualfeindliche Religion, also die Reli- 
gion im strengsten Sinne des Wortes, ist ein 
Produkt der patriarchalischen Organisation. Da- 
bei ist das Sohn-Vater-Verhältnis, das wir in 
jeder patriarchalischen Religion vorfinden und 
auf das die bisherige psychoanalytische Reli- 
gionsforschung das ausschliessliche Gewicht 
gelegt hat, nur notwendiger gesellschaftlich be- 
202 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

stimmter Inhalt des religiösen Erlebens; dieses 
Erleben selbst geht aber hervor aus der Sexual- 
unterdrückung des Patriarchats, die seine ener- 
getische Grundlage schafft. Der Dienst, in den 
die Religion im Laufe der Zeit sich stellt, die 
Beziehung des Gehorsams und der Entsagung 
der Autorität gegenüber, ist selbst sekundäre 
Funktion der Religion, wenn sie auch später 
zur Hauptfunktion im Sinne der Interessen der 
herrschenden Klasse wird. Sie kann sich als 
historisch jüngere, sekundär bestimmten Zwek- 
ken dienende Funktion auf eine unerschütter- 
liche Basis stützen: auf die durch die Sexual- 
unterdrückung im Sinne des religiösen statt des 
sexuellen Erlebens veränderte Struktur des pa- 
triarchalischen Menschen. Mit Rücksicht auf 
diese lebendige Quelle der religiösen Einstel- 
lung ist leicht verständlich, dass zur inhaltli- 
chen Achse jeder religiösen Dogmengebung die 
Verneinung der Fleischeslust wird, was an den 
zwei Religionen des Christentums und des 
Buddhismus besonders klar zum Ausdruck 
kommt. 

a . VERANKERUNG IN DER KINDHEIT 

„Lieber Gott, nun schlaf ich ein, 
Schicke mir ein Engelein. 
Vater, lass die Augen Dein, 
Über meinem Bette sein. 
Hab ich Unrecht heut getan. 
Sieh es, lieber Goot. nicht an. 
Vater, hab* mit mir Geduld 
Und vergib mir meine Schuld. 
Alle Menschen gross und klein 
Mögen Dir befohlen sein." 

So lautet eines der vielen typischen Gebete, 

die die Kinder vor dem Einschlafen aufzusagen 

203 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

haben. Achtlos geht man an den Inhalten solcher 
Sprüche vorbei. Dennoch enthält er alles in 
konzentrierter Form, was Inhalt und Gefühls- 
gehalt der Religion ausmacht: in der ersten 
Strophe Bitte um Schutz, in der zweiten Wie- 
derholung dieser Bitte direkt an den Vater; in 
der dritten Bitte um Verzeihung für eine be- 
gangene Schuld; Gott- Vater möchte es nicht 
ansehen; worauf bezieht sich das Schuldgefühl? 
Worauf die Bitte, Vater möge es nicht ansehen? 
Im weiten Kreise der verbotenen Taten steht 
die Schuld des Spiels mit den Geschlechtsorga- 
nen zentral. 

Das Verbot der Berührung der Geschlechts- 
organe wäre unwirksam, wenn es nicht durch 
die Vorstellung gestützt würde, dass Gott alles 
sieht und dass man dabei auch „brav" sein 
müsse, wenn die Eltern sich entfernen. Wer 
diesen Zusammenhang,obwohl er ihn an den 
eigenen Kindern oft geübt hat, als psychoanaly- 
tische Phantasie abtun will, wird vielleicht 
durch folgende eindrucksvolle Begebenheit 
überzeugt werden, dass die Verankerung der 
Gottvorstellung mithilfe sexueller Antrst *>r 
folgt. ß er ' 

Ein Mädchen von etwa sieben Jahren, das be- 
wusst völlig gottlos erzogen wurde, entwickelte 
eines Tages einen Zwang zu beten ; Zwang des- 
halb, weil sie sich selbst dagegen sträubte und 
es als ihrem Wissen widersprechend ampfand. 
Die Entstehungsgeschichte des Betenmüssens 
ist folgende : Das Kind pflegte täglich vor dem 
Schlafengehen zu onanieren. Eines Tages hatte 
sie ungewohnterweise Angst davor ; statt dessen 
empfand sie den Impuls, vor dem Einschlafen 
204 



Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

vor ihrem Bettchen niederzuknien und ein dem 
obigen ähnliches Gebet herzusagen. „Wenn ich 
bete, so bekomme ich keine Angst". Die Angst 
war an dem Tage aufgetreten, an dem sie sich 
die Onanie zum ersten Male versagt hatte. Wa- 
rum diese Selbstver sagung? Sie erzählte ihrem 
Vater, der ihr volles Vertrauen besass, dass sie 
einige Monate früher in einem Ferienheim ein bö- 
ses Erlebnis gehabt hatte. Sie hatte wie die mei- 
sten Kinder in einem Busch mit einem Jungen 
Geschlechtsverkehr gespielt („Vater und Mutter 
gespielt"), nun sei ein anderer Junge plötzlich 
dazugekommen und hätte ihnen „pfui" zugeru- 
fen. Obwohl sie von den Eltern dahin unterrich- 
tet war, dass solche Spiele nichts böses seien, 
schämte sie sich und onanierte statt dessen vor 
dem Schlafengehen. Eines Abends, es war kurz 
vor dem Auftreten des Betzwanges, war sie mit 
einigen anderen Kindern aus einem politischen 
Gruppenabend nach Hause gegangen. Auf dem 
Wege sangen sie kommunistische Lieder. Da 
begegnete ihnen eine alte Frau, die sie später 
der Hexe aus Hansel und Gretel ähnlich emp- 
fand. Diese rief ihnen zu: „Ihr gottlose Bande, 
der Teufel soll Euch holen!" An dem Abend 
dachte sie, als sie wieder onanieren wollte, zum 
ersten Male, es könnte vielleicht doch einen 
Gott geben, der das sieht und bestraft. Sie hatte 
die Drohung der alten Frau unbewusst mit dem 
Erlebnis mit dem Jungen verknüpft. Nun be- 
gann sie auch gegen die Onanie anzukämpfen, 
entwickelte Angst und zur Bändigung der 
Angst den Betzwang. Das Beten war an die 
Stelle der sexuellen Befriedigung getreten. Trotz- 
dem wich die Angst nicht vollkommen, sie be- 

205 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

gann allmählich nächtliche Schreckvorstellungen 
zu entwickeln Sie fürchtete sich nunmehr vor 
einem überirdischen Wesen, das sie für ihre 

2*2 X SChUW StrafCn k ° nnte ' sie «P**M 
sich daher seiner Obhut, was im Grunde eine 

Stutzung ihres Abwehrkampfes gegen die Ver- 
suchung zu onanieren bedeutete 

Dieser Prozess ist nicht etwa als individuelle 
Erscheinung zu bewerten, sondern ist der typi- 
sche Vorgang der Verankerung der Gottesvor- 
stellung in der überwiegenden Mehrheit der 
Kinder der christlichen Kulturkreise. Der glei- 
chen Funktion dienen, wie die analytische Mär- 
chenforschung ergeben hat, die Märchen vom 
lypus „Hansel und Gretel", in denen die Ona- 
niebestrafung in verhüllter, jedoch dem Unbe- 
wussten des Kindes eindeutiger Weise ange- 
droht wird. Auf die Einzelheiten der Entste- 
hung des mystischen Denkens der Kinder aus 
solchen Märchenerzählungen und seine Bezie 
nung zur Sexualhemmung kann hier nicht einge 
gangen werden. Die Psychoanalyse lässt in 
keinem behandelten oder untersuchten Falle 
einen Zweifel darüber, dass sich das religiöse 
Empfinden an der Onanieangst als zentralem 
Punkt des allgemeinen Schuldgefühls entwik- 
kelt. Es ist umso unverständlicher, wie dieser 
Tatbestand von der bisherigen analytischen 
Forschung übersehen werden konnte. In der 
Gottvorstellung erscheint das eigene Gewissen 
die verinnerlichte Mahnung oder Drohung der 
Altern und Erzieher objektiviert. Das ist be- 
kanntes Gut der wissenschaftlichen Forschung- 
weniger klar ist, dass der Glaube und die Got- 
tesangst energetisch sexuelle Erregung sind, die 



206 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

ihr Ziel und ihren Inhalt gewechselt haben. Das 
religiöse Empfinden wäre demnach dasselbe wie 
das sexuelle, nur mit anderen psychischen In- 
halten: Von hier ergibt sich ein gerader Weg 
zum Verständnis der Wiederkehr des sexuellen 
Erlebens in mancher asketischen Übung, wie 
etwa in dem Wahn mancher Nonnen, die Braut 
Christi zu sein, der wahrscheinlich selten zur 
genitalen Bewusstheit sich entwickelt und daher 
andere sexuelle Bahnen, etwa masochistisches 
Martyrium beschreiten muss. Die Zurückfüh- 
rung solcher religiöser Einstellungen auf die 
Elternbeziehung gibt nur den typischen Inhalt 
wieder, erklärt jedoch nicht das Erleben selbst. 
Kehren wir zu unserem Kinde zurück. Das 
Betenmüssen schwand wieder, als das Mädchen 
sich über den Ursprung ihrer Angst ins klare 
kam und machte wieder schuldgefühlsfreier 
Onanie Platz. So unscheinbar dieser Tatbestand 
scheinen mag, die Konsequenzen daraus für die 
Sexualpolitik gegenüber der religiösen Verseu- 
chung unserer Jugend sind gross. Einige Mo- 
nate nach dem Schwinden des Betzwanges 
schrieb die Kleine aus einer Ferienkolonie an 
ihren Vater: 

„Lieber Karli, hier ist ein Kornfeld und am Rand 
davon haben wir unser Spital (natürlich nur in Spiel). 
Da spielen wir immer Doktor (wir sind fünf Mädels). 
Wenn einem von uns etwas am Lulu wehtut, so geht 
er dorthin, denn dort haben wir Salben und Creme, 
Watte. Das alles haben wir uns stiebitzt." 

Das ist sexueller Kulturbolschewismus, un- 
zweifelhaft. Und die Kultur? Das Mädchen 
lernt in gleichem Schritt in einer Klasse mit 
durchschnittlich 1 — 2 Jahre älteren Kindern 

207 






D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 



; 



t 

t 

■ 

i 



und die Lehrer bestätigen ihren Fleiss und ihre 
Begabung. Politisch und im allgemeinen Wissen 
sowie in regem Interesse für die Wirklichkeit f 

überragt sie ihre Altersgenossen weit. S 

b. VERANKERUNG DER RELIGION IM 
JUGENDALTER 
Wir haben an dem Beispiel des kleinen Mäd- 
chens zu zeigen versucht, wie sich typischer- 
weise schon im Kleinkinde die religiöse Angst 
verankert. Wir konnten daran sehen, dass die 
Sexualangst die zentrale Vermittlerrolle bei der 
Verankerung der privatwirtschaftlichen Gesell- 
schaftsordnung in der Struktur der Kinder die- 
ser Gesellschaft spielt. Nun müssen wir diese 
Funktion der Sexualangst eine Strecke weit in 
die Zeit der Pubertät verfolgen. Nehmen wir 
eine der typischen christlichen Flugschriften 
vor und versuchen wir, uns daran zu orientie- 
ren: 

LANDEN ODER STRANDEN? 

Nietzsche: Schlamm ruht auf dem Grunde ihrer Seele 

»v.*. * r n ? J- ehe ,V wenn der Schlamm Geist hat 

Kirkegaard: Ist die Vernunft allein getauft bleiben 
die Leidenschaften Heiden ' be ° 

Zwei Felsen sind in das Leben eines jeden Mannes 
gestellt, an denen er landet oder strandet, an denen 
er sich aufrichtet oder zerschellt: Gott und — das 
andere Geschlecht. Unzählige junge Männer stranden 
oder scheitern im Leben, nicht, weil sie zu wenig ge- 
lernt haben, sondern weil sie nicht zur Klarheit kom- 
men über Gott und — weil sie nicht fertig werden 
mit dem Trieb, der den Menschen unnennbares Glück 
aber auch abgrundtiefes Elend bringen kann- dem 
Geschlechtstrieb. 

<*riS S * gibt so viele ' die kommen nie zum Vollmen- 

stenen 11 "* 7*l 1 * 1 * T. er der Herrschaf t des Trieblebens 
cnen. An sich sind ja starke Triebe noch kein Grund 
208 



Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

EfcZSfi Sie be ^ eUten im G ^enteil Reichtum und 
SÄ^22S? W ?¥ SlC ermö g Ji chen grosse, starke Liebe 
Ser We°ckrnf Arbeit -- ^ L t istun g sf ähigkeit. Sie sind 
der tÄk • 5 U emer TT Starken Persönlichkeit. Aber 
zur SÄ d ZU ? Un o r l Cht ^«^ sich ^Ibst und 
ihn Ä *£**? d | n u Scl } ö P f er, wenn der Mensch 
LrS,f ■ i™ e ? r m , Zu - Cht behält ' sondern die Herr- 

h,rr,rh, Verll f rt / nd , Sein ^ Sklave wird ' Im Menschen 
herrscht entweder das Geistige oder das Triebhafte, 

d. i. das Tierische. Beides verträgt sich nicht mi- 
teinander. Riesengrass tritt daher vor jeden denken- 
den Mann einmal die Frage: Willst du den eigentli- 
chen Sinn deines Lebens erkennen, nämlich zu leuch- 
ten, oder willst du in der Weissglut deiner unbe- 
herrschten Triebe verbrennen? 

Willst du als Tier oder als Geistesmensch dein Le- 
ben verbringen? 

Der Prozess des Mannwerdens, um den es sich hier 
handelt, ist das Problem des Herdfeuers. Beherrscht 
und gebändigt, erleuchtet und wärmt die Kraft des 
Feuers den Raum, aber wehe, wenn das Feuer aus dem 
Herd herausschlägt! Wehe, wenn der sexuelle Trieb 
den ganzen Mann so beherrscht, dass der Trieb zum 
Herrn alles Denkens, Tuns und Treibens wird! 

Unsere Zeit ist krank. In früheren Zeiten verlangte 
man, dass der Eros in Zucht und Verantwortung ge- 
halten wurde Heute meint man, dass der moderne 
Mensch der Zucht nicht mehr dedürfe. Man übersieht 
aoer dabei dass der heutige Grosstadtmensch viel 

7n7£ S tV nd Wlll ensschwächer ist und daher mehr 
Zucht haben muss. 

Und nun blick' einmal um dich: Nicht der Geist 
nerrscht in unserem Vaterlande, die Oberhand haben 
die ungezügelten Triebe und in unserer Jungmänner- 
welt vor allem der zuchtlose Geschlechtstrieb, der in 
Unsittlichkeit ausartet. In Fabrik und Kontor, auf der 
Buhne und im öffentlichen Leben regiert der Geist 
der Halbwelt, herrscht vielfach die Zote. Und wieviel 
frohe Jugendlust geht zugrunde in den Pesthöllen der 
Grosstadt, den Tingeltangels und Nachtcafes, den 
Spiellokalen und den schlechten Kinos! Der heutige 
junge Mann hält sich für besonders klug, wenn er der 
Theorie des Auslebens huldigt. In Wahrheit trifft auf 



14 



209 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

ihn das Wort Goethes zu, das er im „Faust" den 
Mephisto sprechen lässt: 

„Er nennt's Vernunft und braucht's allein, 
Um tierischer als jedes Tier zu sein." — 

Zwei Dinge sind es, die den Prozess des Mannwer- 
dens sehr erschweren: Die Weltstadt mit ihren abnor- 
men Verhältnissen und der Dämon in uns. Der junge 
Mann, der zum erstenmal, vielleicht aus wohlbehüte- 
tem Elternhause allein nach der Weltstadt kommt, 
sieht sich umgeben von einer Fülle neuer Eindrücke. 
Standiger Lärm, aufregende Bilder, schwüle Lektüre, 
oft wenig Möglichkeit zur Bewegung in guter Luft, 
Alkohol, Kino, Theater und überall, wo er hinsieht, auf- 
reizende Kleidermoden auf sexuelle Wirkung berech- 
net — wer kann einem solch konzentrierten Angriff 
standhalten? Und auf die Versuchung von aussen ant- 
wortet der Dämon von innen nur zu gern mit einem 
Ja. Denn Nietzsche hat recht, „es ruht Schlamm auf 
dem Grunde der Seele", bei allen Menschen, „bellen 
die wilden Hunde im Keller" und warten darauf, frei- 
gelassen zu werden. 

Viele geraten unter die Diktatur der Unsittlichkeit, 
weil sie nicht zur rechten Zeit über die Gefahren auf- 
geklärt wurden. Solche werden dankbar sein für ein 
offenes Wort der Warnung und des Rates, das ihnen 
ein Entrinnen oder eine Umkehr ermöglicht. 

Die Unsittlichkeit tritt an die meisten zuerst in der 
Form der Selbstbefleckung heran. Es ist wissenschaft- 
lich festgestellt, dass oft in erschreckend frühem Al- 
ter damit begonnen wird. Die Folgen dieser schlim- 
men Gewohnheit sind zwar oft übertrieben worden. 
Doch muss das Urteil bedeutender Ärzte jeden ernst 
stimmen. Professor, Dr. Härtung, viele Jahre Primar- 
arzt der dermatologischen Abteilung des Allerheili- 
gen-Hospitals in Breslau, äussert sich dazu wie folgt: 
„Es ist kein Zweifel, dass ein stärkeres Nachgeben ge- 
genüber dem Hange zur Selbstbefleckung den Körper 
in schwerster Weise schädigt, und dass sich gerade 
im späteren Leben aus dem Betrieb dieses Lasters 
Störungen in Form von allgemeiner Nervosität, gei- 
stiger Arbeitsunfähigkeit und körperlicher Erschlaf- 
fung herausbilden." 
Besonders betont er noch, dass der Mensch, welcher 

210 



Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

Selbstbefleckung treibt, in dem Bewusstsein etwas 
Unreines zu tun, auch seine Selbstachtung und seine 
ZTÄr »"? verhert ; Das ständige Bewusstsein einer 

Sri uSSV Un i - VOr anderen zu y erbergenden 
Heimlichkeit erniedrigt ihn sittlich vor sich selbst. Er 

?«♦*/"£ diejenigen jungen Leute, die diesem 

Laster frohnen, schlaff und weichlich werden, die Ar- 

SSÄV^ffi und dass allerlei nervöse r««u- 

stande ihr Gedächtnis und ihre Leistungsfähigkeit 
schwachen Andere bedeutende Ärzte, die darüber ge- 
schrieben haben, stimmen dem Gesagten bei 

Die Selbstbefleckung verschlechtert aber nicht nur 
das Blut, sie beseitigt seelische Kräfte und Hemmun- 
gen, die tur das Mannwerden notwendig sind sie 
nimmt der Seele die Geschlossenheit, sie wirkt, wenn 
sie zur dauernden Gewohnheit wird, wie ein fressen- 
der Wurm. 

Viel schlimmer sind aber die Folgen der Unsittlich- 
keit mit dem anderen Geschlecht. Es ist doch nicht 
von ungefähr, dass die furchtbarste Geissei der 
Menschheit — die Geschlechtskrankheiten — eine 
frolge dieser Übertretung ist. Erstaunlich ist nur, wie 
unglaublich töricht auch sonst klug sein wollende Leu- 
te auf diesem Gebiet sind. 

Universitätsprofessor Dr. Paul Lazarus, Berlin 
zeichnet ein erschütterndes Bild von der tiefen seeli- 

S5S, ü" d n kÖr Ef rli , ch ? n Erkr *nkung unseres Volkes 
durch die Geschlechtskrankheiten. 

ten^rähW /S v U ,! S , al8 r einer der erfolgreichsten To- 
tengräber der Volkskraft bezeichnet werden. 

i„« tut- 6r Tr 'PP er > den törichterweise viele 

!S2£ r t nn S5 , sehr leicht nehmen, ist eine ernste und 
gefährliche Erkrankung. Und schon die Tatsache, dass 
es der ärztlichen Wissenschaft nicht möglich ist, sie 
mit Sicherheit zu heilen, sollte alle Leichtfertigkeit 
bannen. 

Professor Dr. Binswanger sagt über die Geschlechts- 
krankheiten: „Es ist bemerkenswert, dass scheinbar 
ganz leichte Fälle von Ansteckungen zu solchen 
schweren Leiden führen, dass oft viele Jahre zwischen 
der ursprünglichen Ansteckung und dem Ausbruche 
eines unheilbaren Nervenleidens liegen und dass von 
der heute so überaus häufigen Krankheit, welche im 



211 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

Laienmund als Gehirnerweichung bezeichnet wird, 
sicherlich über 60 % auf eine früher stattgehabte 
geschlechtliche Ansteckung zurückzuführen sind." 

Ist es nicht ein bis ins Innerste erschütternder Ge- 
danke, dass durch eine solche Jugendsünde die, welche 
uns einmal am nächsten stehen — Weib und Kind — , 
in jammervolles Siechtum hineinkommen können? 

Aber ich muss noch eine Verirrung erwähnen, die 
heute viel starker auftritt, als mancher meint: die 
Homosexualität. Vorweg sei gleich gesagt: wir wollen 
stets herzliches Mitgefühl und Verständnis allen ent- 
gegenbringen, die auf diesem Gebiet durch Veranlagung 
oder Vererbung einen stillen, oft verzweifelten Kampf 
um ihre Reinheit führen. Heil allen, die hier Siege 
erringen, weil sie den Kampf mit Gott führen! Aber 
wie Jesus den einzelnen Sünder liebte und jedem half, 
der sich helfen lassen wollte, der Sünde selbst aber 
mit heiligem Ernst entgegentrat, so müssen auch wir 
den volks- und jugendverderbenden Erscheinungen der 
Homosexualität entgegentreten. Es gab ja schon ein- 
mal eine Zeit, in der die Welt zu ertrinken drohte in 
der Flut der Perversität. Nur das Evangelium war 
damals imstande, die in der Fäulnis dieser widerlichen 
Unzuchtssünden versinkende Kultur zu überwinden 
und ein Neues heraufzuführen. Von den Sklaven und 
Opfern dieser Sünden schrieb Paulus an die Römer* 
„Die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch 
. . . und sind gegeneinander entbrannt in ihrer Begier 
de und haben Mann mit Mann Schande betrieben -I 
Darum hat sie auch Gott dahingegeben" (Rom 1) n* 
Homosexualität ist das Kainszeichen einer ' bis ins 
Mark kranken, gott- und seelenlosen Kultur Sie ist 
eine Folge der herrschenden Welt- und Lebensan 
schauung, deren höchstes Ziel Genussucht ist Mit 
Recht sagt Professor Foerster in seiner Sexualethik- 
„Wo der geistige Heroismus lächerlich gemacht und 
das natürliche Ausleben verherrlicht wird, dort be- 
kommt auch alles Perverse, Dämonische und Gemeine 
den Mut, ans Licht zu kommen, ja, es verhöhnt das 
Gesunde als eine Erkrankung und macht sich selbst 
zum Masstab des Lebens." 

Es kommen heute Dinge aus der Tiefe, die der 
Mensch in seiner geheimsten Verkommenheit sich 
212 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

nicht zu gestehen wagt. Es werden noch ganz andere 
Dinge zum Vorschein kommen, und dann wird man be- 
FvinJlr nur T ein e grosse geistige Macht — das 

Evangelium von Jesus Christus - hier allein helfen 

Manche werden aber Einwendungen gegen das Ge- 

SftÄft?" MHande . lt CS Sich hi * r nicht '" «0 sagst 
du vielleicht um einen Naturtrieb, der befriedigt 
werden muss?" - Bei entfesselter Leidenschaft han! 
delt es sich nicht um etwas Natürliches, sondern um 
etwas höchst Unnatürliches. In fast allen Fällen ht 
erst durch eigene oder durch die Schuld anderer die 
böse Luft vorbereitet, entbrannt und grossgezogen 
worden. Sieh einen Trinker oder einen Morphium- 

a U ii i! g f n F L J st sein foi "twährendes Verlangen nach 
Alkohol oder Morphium etwa natürlich? Dies Verlan- 
gen ist nur durch häufige Hingabe an das Laster 
künstlich grossgezogen worden. Der Trieb, der von 
Gott in uns gelegt ist für die Ehe zur Erhaltung des 
Menschengeschlechts, ist an und für sich gut und nicht 
allzuschwer zu zügeln. Tausende von Männern be- 
herrschen ihn in rechter Weise mit Erfolg. 

„Aber ist es denn nicht schädlich für den reifen 
Mann^ wenn er sich dieser Dinge enthält?" Professor 
Dr. Härtung, den wir wieder anführen möchten, sagt 
darauf wörtlich: „Ich antworte Ihnen klipp und klar: 
Nein, dem ist nicht so. Der Mann, der Ihnen jemals 
f,l S f g J ..\ i ass bei gesunden Männern aus Keuschheit 
Jltzl rUCk H ltung im ™*eren Sinne eine Schädigung 
entstehen konnte, hat Sie auf schlimmste Irrwege 
mngewiesen, und wenn er wirklich durchdacht hat, 
was er Ihnen gesagt hat, so ist er ein unwissender 
oder schlechter Mensch gewesen" 

Dringend ist zu warnen vor dem Gebrauch von 
Praventivmitteln. Der einzig wirkliche Schutz ist 
Enthaltsamkeit bis zur Ehe. 

Ich habe versucht, dir die Folgen der Unsittlichkeit 
offen und wahrheitsgemäss vor Augen zu führen. 
Daraus siehst du das Verderben für Leib und Geist 
dessen, der sich mit dieser Sünde abgibt. Dazu kommt 
jedoch noch das Unheil, das aus diesem Laster für 
die Seele entsteht. Ich bezeuge dir mit heiligem 
Ernst: Die Unzucht ist ein Verbrechen gegen Gott. 

213 



r 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

Sie raubt unbedingt den Frieden des Herzens und lässt 
keinen zur rechten Freude und Ruhe kommen. Gottes 
Wort sagt: „Wer auf sein Fleisch säet, der wird vom 
Fleisch das Verderben ernten" fGal. 6, 8). 

Der Geist der Halbwelt zieht dort mit unabwend- 
barer Notwendigkeit ein, wo der Zusammenhang mit 
der Überwelt verlorengeht. 

Für alle aber, welche nicht Opfer der Unsittlichkeit 
sein oder bleiben wollen, füge ich noch einige Worte 
des Rates und der Aufmunterung hinzu. Es muss zu 
einem völligen Bruch mit der Sünde der Unsittlich- 
keit in Gedanken, Worten und Taten kommen. Das ist 
das erste, was diejenigen beachten müssen, die nicht 
ihre Sklaven werden wollen. Selbstverständlich dürfen 
die Stätten der Verführung und Sünde nicht mehr auf- 
gesucht, ja. es muss, soweit dies möglich ist, alles 
gemieden werden, was der Verführung irgendwie Vor- 
schub leisten könnte. So ist der Umgang und Verkehr 
mit unsittlichen Kameraden usw. unbedingt zu meiden; 
ebenso das Lesen schlüpfriger Bücher und Ansehen 
gemeiner Bilder und der Besuch zweideutiger Vor- 
stellungen. Dafür musst du dir guten Umgang suchen, 
durch den du gehalten und gehoben wirst. Empfehlens- 
wert ist alles, was den Körper abhärtet und den 
Kampf gegen die Unsittlichkeit erleichtert, wie Tur- 
nen, Sport, Schwimmen, Fusswanderungen, Aufstehen 
sofort nach dem Erwachen. Massigkeit im Genuss von 
Speisen und vor allem von Getränken. Alkohol ist zu 
meiden. Das alles genügt aber noch nicht; denn viele 
müssen immer wieder, auch wenn sie diese Ratschläge 
befolgen, die schmerzliche Erfahrung machen, dass 
der entfesselte Trieb viel zu stark ist. 

Wo finden wir die Festigkeit, die zum Widerstand 
notwendig ist. wo die Kraft zum Sieg, den wir brau- 
chen, wenn wir nicht unser Bestes, unsere Persönlich- 
keit verlieren sollen? Wenn die Versuchung in glühen- 
dem Reiz an uns herantritt, wenn das lodernde Feuer 
der Sinnenlust jäh aufschlägt, zeigt es sich, dass blos- 
se Aufklärung allein nicht hilft. Kraft, lebendige 
Kraft haben wir nötig, um unsere Triebe zu meistern 
und die unreinen Mächte in uns und ausser uns zu 
überwinden. Nur einer gibt uns diese Kraft: Jesus. 
Er hat uns durch seinen blutigen Opfertod nicht nur 

214 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

Vergebung erwirkt, so dass wir Frieden finden kön- 
nen unter den Anklagen unseres Gewissens, er ist uns 
auch selbst durch seinen Geist die lebendige Kraft 
eines neuen, reinen Lebens. Durch ihn kann auch ein 
im Sündendienst gelähmter Wille wieder fest werden 
und zur Freiheit und zum Leben erstehen und sich in 
den schweren Kämpfen mit der Sünde siegreich be- 
währen. 

Wer zur wirklichen Freiheit gelangen will, der 
komme zum lebendigen Heiland, der der Sünde die 
Macht genommen und für jeden reichlich Kraft und 
Hilfe hat. Das ist keine christliche Theorie, sondern 
eine Tatsache, die viele stark angefochtene junge 
Männer ausprobiert haben und täglich erfahren. Wenn 
irgend möglich, vertraue dich auch einem ernsten 
Christen und wahren Freunde an, der dir raten und 
mit dir kämpfen kann. Denn einen Kampf wird es ge- 
ben, aber einen Kampf mit Aussicht auf Sieg. 

Und nun lass mich zum Schluss an dich selbst die 
persönliche Frage richten: Wie steht es um dich, mein 
Freund, und was willst du mit dieser Warnung ma- 
chen? 

Willst du, um leichtfertigen und gewissenlosen 
Menschen zu gefallen, dich zugrunde richten lassen, 
oder dich reinen, edlen Männern anschliessen, deren 
Umgang dein Inneres erhebt und deinen Willen zum 
Kampf gegen alles Unreine stählt? Willst du ein 
Mensch sein, der durch seine Worte, sein Beispiel 
und Wesen ein Fluch ist für sich und andere, oder 
möchtest du immer mehr ein Mann werden, der ein 
Segen ist für seine Mitmenschen? 

Willst du um einiger Augenblicke flüchtiger Lust 
willen an Leib, Charakter und Seele — zeitlich und 
ewig — zugrunde gehen, oder dich retten lassen, so- 
lange es noch Zeit ist? 

Bitte, sei aufrichtig in der Beantwortung dieser 
Fragen und habe den Mut, zu tun, was Gott deinem 
Gewissen klargemacht hat! 

Wähle ehrlich! Halbwelt oder Überwelt? Tier oder 
Geistesmensch? 

Stranden oder Landen? 

In dieser Flugschrift wird der Jugendliche 
vor die Alternative gestellt: Gott oder die Se- 

215 






D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

xualität. Das „Vollmenschentum" erschöpft sich 
zwar nicht in der Asexualität, aber diese ist sei- 
ne erste Voraussetzung. Die Gegenüberstellung 
von „Tier" und „Geistesmensch" orientiert sich 
an der Gegenüberstellung von „sexuell" und 
„geistig"; es ist die gleiche Antithese, die in 
stets gleichbleibender Weise, wie wir andernorts 
an Beispielen belegen werden, die Grundlage 
der gesamten bürgerlichen und theosophischen 
Moralphilosophie bildet. Sie blieb bisher un- 
angreifbar, weil ihre Grundlage, die Sexualver- 
neinung, die realen Widersprüchen im Leben 
des bürgerlichen Menschen entspricht, nicht 
angetastet wurde. 

Der durchschnittliche Jugendliche, auch der 
aus proletarischen Kreisen, steht, von früher 
Kindheit an durch das Elternhaus darauf vor- 
bereitet, in dem scharfen Konflikt zwischen 
Sexualanspruch und Versagung. Ein Flugblatt 
yon der Art des oben wieder gegebenen drängt 
ihn m die Richtung der Erledigung des Kon- 
fliktes im Sinne der Kirche, ohne freilich die 
Schwierigkeit dabei aus der Welt zu schaffen. 
Die Kirche hilft sich in der Schwierigkeit da- 
durch, dass sie die Onanie zwar offiziell streng 
verdammt, in der Beichte jedoch durch periodi- 
sche Absolution dem Jugendlichen diesen Aus- 
weg im Grunde praktisch nicht versperrt Sie 
gerät aber dabei in eine andere Schwierigkeit, 
die für die Sexualpolitik von grösster Wichtig- 
keit ist. Die Kirche kann ihre Massenbasis nur 
durch zweierlei Taktik erhalten: erstens indem 
sie die Massen durch Sexualangst an sich bin- 
det, zweitens aber auch, indem sie ihre anti- 
kapitalistische Geste aufrecht erhält. Sie verur- 
216 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

teilt das Grosstadtleben mit seinen Gelegen- 
heiten zur Verführung Jugendlicher, weil sie 
gegen die revolutionäre sexuelle Kraft an- 
kämpfen muss, die durch das grosstädtische Le- 
ben der Jugend und des Proletariats geweckt 
werden könnte und durch die Lockerung der 
sexuellen Fesseln in der imperialistischen Pha- 
se auch tatsächlich geweckt wird. Auf der an- 
deren Seite ist das sexuelle Leben der Massen 
in den Grosstädten, gekennzeichnet durch den 
brennenden Widerspruch zwischen hoher sexu- 
eller Bedürftigkeit und minimaler materieller 
und psychischer Befriedigungsmöglichkeit (ne- 
benbei die wichtigste Bedürfnisbasis vieler 
Zweige der kapitalistischen Produktion, z. B. 
Film etc.). Dieser Widerspruch ist prinzipiell 
von keiner anderen Art als der, dass der Kapi- 
talismus auf der einen Seite die gleiche Familie 
mit allen Mitteln verteidigt, die er auf der an- 
deren durch seine wirtschaftlichen Krisen und 
seine Sexualökonomie zerstört. Die Kenntnis 
solcher Widersprüche ist für die praktische 
frexualpolitik von grosser Bedeutung, denn sie 
eröffnet breite Möglichkeiten, den ideologischen 
Apparat der Bourgeoisie an einer seiner wun- 
desten Stellen zu treffen. 

Wo soll der Jugendliche die geeignete Kraft 
zur Niederringung seiner genitalen Sinnlichkeit 
suchen? Im Glauben an Jesus! Und der Jugend- 
liche findet tatsächlich in diesem Glauben eine 
mächtige Kraft gegen seine Sexualität. Auf- 
grund welcher Mechanismen? Der Gottesglau- 
ben, der selbst in früher Kindheit anlässlich der 
ersten sexuellen Regungen aufgenommen wur- 
de, versetzt in einen Zustand sexueller Erre- 

217 



p 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

gung, der nicht nur einen Ersatz für die sinn- 
liche Genitalbefriedigung bildet, sondern viel- 
mehr derart ist, dass dadurch tatsächlich die 
normale, reife Sexualstrebung gelähmt wird. 
Der Jugendliche muss sich nämlich, um das 
Gebot der Kirche zu verwirklichen, in eine pas- 
siv-homosexuelle Triebrichtung begeben bzw. 
die entsprechenden Anlagen hierzu voll ent- 
wickeln; die passive Homosexualität ist trieb- 
energetisch der wirksamste Widerpart der 
phallischen männlichen Sexualität, denn sie 
ersetzt die Aktivität und Agression durch Pas- 
sivität und masochistische Haltungen, also ge- 
rade diejenigen, die die massenstrukturelle Ba- 
sis der christlichen wie jeder patriarchalischen 
Religion bestimmen. Das bedeutet aber gleich- 
zeitig auch Setzung von Neigung zu kritikloser 
Gefolgschaft, Autoritätsgläubigkeit und An- 
passungsfähigkeit an die Institution der Ehe. 
Die Kirche spielt also in Wirklichkeit, indem 
sie die revolutionäre genitale Kraft niederrin- 
gen will, eine andere sexuelle Triebkraft gegen 
sie aus. Sie bedient sich selbst sexueller Me- 
chanismen zur Durchsetzung ihrer Ziele. Diese 
von ihr teils in Gang gesetzten, teils zur Blüte 
gebrachten nichtgenitalen sexuellen Regungen 
bestimmen dann die Massenpsychologie der 
kirchlichen Anhängerschaft: moralischer (sehr 
oft auch deutlich körperlicher) Masochismus 
und passive Homosexualität. Es ist daher un- 
vollständig, zum Teil sogar falsch, wenn die 
Religion und ihre Macht aus der infantilen 
Vaterbindung erklärt wird. Sie bezieht ihre 
Macht aus der genitalen Sexualeinschränkung, 
die erst sekundär zur Regression auf die Linie 
218 



v 



"----"- 



Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

der passiven und masochistischen Homosexuali- 
tät drängt. Sie basiert sich also triebdynamisch 
auf doppelte Weise : durch Erzeugung von geni- 
taler Angst und Ersatz der Genitalität durch 
infantile, für den Jugendlichen nicht mehr nor- 
male Triebrichtungen, die ihre Kraft aus der 
versagten Genitalität beziehen. Für die sexual- 
politische Arbeit unter christlichen Jugend- 
lichen halten wir vorläufig fest, dass im Kampfe 
gegen die Religion, wenn er mit geeigneten 
Mitteln geführt werden soll, der genitale An- 
spruch der Jugendlichen gegen den passiv- 
homosexuellen ausgespielt werden kann und 
muss. Diese massenpsychologische Aufgabe 
deckt sich vollkommen mit den objektiven Ent- 
wicklungslinien des Kommunismus auf sexual- 
politischem Gebiet: Aufhebung der genitalen 
Versagungen und Bejahung des genitalen Ge- 
schlechtslebens der Jugendlichen. 

Mit der Aufdeckung dieser Mechanismen der 
religiösen Verseuchung der Massen ist aber die 
Frage nicht erschöpft. Eine besondere Stellung 
nimmt dabei der Manenkult ein. Wir bringen 
wieder eine typische Flugschrift zur Orientie- 
rung: 

Marienverehrung und der Jungmann. 
Von Dr. theol. Gerhard Kremer. 

Echte, katholische Jugendfrömmigkeit wird stets 
dem Marienideal aufrichtig zugetan sein. Es ist nicht 
so, als ob Marienverehrung einer starken und warmen 
Christusfrömmigkeit Eintrag täte, im Gegenteil, wahre 
Marienverehrung muss zu Christus und sittlicher Le- 
benshaltung hinführen. Wir wollen das Marienideal 
für die sittliche und religiöse Erziehung unserer Ju- 
gend nicht entbehren. 

Jugend ist Zeit des Werdens, des äusseren und inne- 

219 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

ren Kampfes. Es erwachen die Leidenschaften, es ist 
ein Garen und Ringen im Menschen, ein stürmisches 
Drangen und Wachsen. In dieser Jugendnot muss ein 
Ideal vor der Jugend stehen, stark und machtvoll, ein 
lichtes, helles Ideal, das selbst nicht berührt wird von 
dem Drangen und Gären, sondern das die wankenden 
Herzen emporreissen kann, das durch seinen Glanz das 
Unendle und Gemeine überstrahlt und den schwanken- 
den Sinn nach oben zieht. Dieses Ideal soll dem jun- 
gen Menschen Maria sein, in der sich eine alles über- 
strahlende Reinheit und Schönheit verkörpert. 

„Man sagt, es gibt Frauen, die durch ihre Gegenwart 
erziehen, da ihr Benehmen schon niedrige Gedanken 
verscheucht, kein zu freies Wort über die Lippen lässt. 
So eine edle Frau ist vor allem Maria. Ein junger Rit- 
ter, der sich ihrem Dienst geweiht, der überzeugt ist, 
dass ihr Blick auf ihm ruht, ist zu einer Gemeinheit 
nicht fähig. Sollte er aber doch, ihrer Gegenwart ver- 
gessend, fallen, so wird die Erinnerung an sie brennen- 
den Seelenschmerz bewirken und dem Edelsinn wieder 
zur Herrschaft verhelfen." (P. Schiigen S. J.) 

Maria steht vor dem Jungmann als unerreichte An- 
mut, Hoheit und Würde, wie sie in Natur. Kunst und 
Menschenwelt nicht zu finden ist. Warum haben die 
Kunstler und Maler immer wieder der Madonna ihr 
Können und Schaffen geweiht? Weil sie in ihr die er- 
habenste Schönheit und Würde erblickten. Das ist eine 
Wurde und Schönheit die nie enttäuschen wird Da 
steht eine Herrin und Konigin vor dem Jungmann der 
zu dienen, vor der zu bestehen höchste Ehre sein muss 
Da ist die hehre Frau und Seelenbraut, der du dich 
hingeben kannst mit der ganzen aufquellenden Liebes 
kraft deines jugendlichen Herzens, ohne Entwürdigung 
und Entweihung zu fürchten." ° 

Das Marienideal soll den jungen Menschen begei- 
stern; zumal in einer Zeit, die es liebt, das Strahlende 
zu schwärzen und das Erhabene in den Kot zu ziehen 
soll das Marienideal vor ihm aufleuchten als Rettung 
und Kraft. In ihm soll der junge Mann begreifen, dass 
es doch etwas Grosses und Erhabenes ist um seelische 
Schönheit und Keuschheit. In ihm soll er die Kraft fin- 
aen den Weg aufwärts zu gehen, auch wenn alle ande- 
c n m den Niederungen ihr Bestes verlieren. Das Ma- 
220 



— 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

rienideal soll den Schwankenden zur Besinnung rufen, 
den Strauchelnden wieder aufrichten und stark machen, 
ja es soll gar den Gefallenen ergreifen, damit er mit 
neuem Mut sich aufrafft. Maria ist der Meeresstern, der 
in der dunklen Nacht der Leidenschaft dem jungen 
Menschen aufleuchten will; der dann, wenn alles in 
ihm erschüttert zu sein scheint, doch wieder das Edle 
in ihm wachruft. Durchschweif' ich Berg' und Auen. - 
In unverstand'ner Qual. - Von Unserer Lieben Frauen. 
- Das Kirchlein steht im Tal. - Berührt mein Fuss die 
Schwelle, - So sänftigt sich mein Blut: - Und denk ich 
dein, Maria, - So ist schon alles gut." (Fr. W. Weber.) 
Ihr Jungmänner, die ihr idealen Sinn habt und um 
heilige Tugend einen Ringkampf führet, schauet auf zu 
eurer Herrin und Königin. Wie kann ein junger Mann 
zu ihr aufschauen, ohne mit heiligem Idealismus erfüllt 
zu sein? Wie kann er sie im Ave Maria grüssen, ohne 
Sehnsucht nach starker Keuschheit in sich zu tragen? 
Wie kann er die herrlichen Marienlieder singen, ohne 
den Mut zum Kampfe in sich zu fühlen? Wie könnte 
ein Jungmann, der das Marienideal erfasst hat, hin- 
gehen und an Frauenunschuld zum Räuber werden? 
Wie kann er sie Mutter und Königin nennen und dann 
an weiblicher Würdelosigkeit Geschmack gewinnen? 
Ja, das Marienideal ist, wenn es nur ernst genommen 
wird, für den jungen Mann ein starker Antrieb und ein 
mächtiger Uufruf zur Keuschheit und Männlichkeit. 
»»Auf ^ sie schauend, ihr Bild im Herzen tragend, musst 
du nicht rein werden, so schwer du auch zu ringen 
hast?' 

Für die sittliche Haltung des jungen Mannes ent- 
scheidend ist seine Stellung zum Mädchen, zur Frau. 

„Beim Ritterschlage musste einst der Ritter geloben, 
die wehrlosen Frauen zu beschützen. Das war die Zeit, 
die die Dome baute zu Ehren der Himmelskönigin." 
(P. Gemmel S. J.) Es besteht ein innerer Zusammen- 
hang zwischen Marienminne und wahrer Ritterlichkeit 
gegenüber dem Frauengeschlecht. Der Mann, der vom 
Marienideal ergriffen ist, trägt naturnotwendig jenen 
ritterlichen Schlag in sich, der hervorgeht aus ehr- 
furchtsvoller Hochachtung vor weiblicher Würde und 
Hoheit. Darum verpflichtete der Ritterschlag des Mit- 
telalters den jungen Mann wie zum heiligen Minne- 

221 



1 






D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

dienst so auch zum Schutze der Frauenehre. Die Sym- 
bole dieses Rittertums sind nicht mehr; aber schUm- 
mer ist, dass in der mannlichen Jugend mehr und mTtr 
die scheue Ehrfurcht vor der piau erstTrbTundeTnem 
£ Ä ^"''Btoubrittertum gewichen ist. Schutt 
e und schirmte ernst der Ritter in Panzer und Waf- 
fenrustung schwache Weiblichkeit und Unschuld so 
soll und muss der echte Mann heute sich innerHch der 
Männ^chL^r^ UnS l huld ^ ls Schu ^ner fühlen. Solide 
ehesten fSS^JSr *?***! Herzens ^el werden sich am 
ehesten und schönsten dem weiblichen Geschlecht ge- 
genüber offenbaren. Wohl dem jungen Manne, der sei- 
WnMA ^ dens 5j la j t l , mit diesem Panzer umgeben hat! 
Wohl dem Madchen, das die Liebe eines solchen jun- 
gen Mannes gefunden hat! „Tue keinem Mädchen ein 
Leid an und bedenke, dass auch deine Mutter ein Mäd- 
chen gewesen ist!" 

Der Jungmann von heute ist der Mann und Gatte 
von morgen Wie wird der Gatte und Mann Frauentum 
und Frauenehre schützen können, wenn der Jungmann 
und Bräutigam Liebe und Brautzeit entweiht hat« 
Brautzeit soll sein Zeit heiliger unentweihter Liebe 
Wieviel Menschenschicksale würden glücklicher sein* 
wenn das Marienideal in unserer Jungmännerwelt le- 
bendig wäre. Wieviel Leid und Weh brauchte nicht zu 
sein, wenn nicht junge Männer ein freventliches Spiel 
trieben mit der Liebe einer Mädchenseele. O, ihr LI 
gen Menschen lasst das helle Licht des Marienid ea Ts 
undTallt hineinleuchten > *"»* ^r nicht strauchelt 

Das Marienideal kann unserer männlichen Jugend 
viel bedeuten. Gerade darum haben wir in unseren Tu 
gendveremen und Kongregationen das Marienbanner" 
entfaltet. O dass ich unsere katholische männliche 
Jugend um dieses Banner scharen wollte! CKath K-,v 
chenblatt, Nr. 18, 3.-5.-1931). V Klr " 

Der Marienkultus wird zur Durchsetzung der 
Keuschheit herangezogen, und — das muss klar 
erkannt werden — mit grossem Erfolg Wir 
müssen wieder nach dem psychologischen Me- 
lanismus fragen, der diesen Absichten der Kir- 
222 



,, 






Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst 

che die Erfolge sichert. Es ist wieder nicht so 
sehr ein Problem der objektiven, soziologischen 
Rolle der Religion, als ein Problem der Psycho- 
logie der dieser Rolle unterworfenen Massen 
von Jugendlichen. Es geht dabei wieder um die 
Niederringung der genitalen Triebkräfte. Mobi- 
lisiert der Jesuskult die passivhomosexuellen 
Kräfte gegen die Genitalität, so der Marienkult 
wieder sexuelle Kräfte, diesmal aus der genita- 
len heterosexuellen Sphäre selbst. „Tue keinem 
Mädchen ein Leid an und bedenke, dass auch 
deine Mutter ein Mädchen war." Die Mutter 
Gottes übernimmt also im Gefühlsleben des 
christlichen Jugendlichen die Rolle seiner eige- 
nen Mutter, und er wendet ihr automatisch, nur 
noch bestärkt durch derartige Einflüsse der Kir- 
che die ganze Liebe zu, die er seinerzeit für sei- 
ne Mutter hatte, die ganze starke Liebe seiner 
ersten genitalen Wünsche. Das Inzestverbot, das 
durch die Kastrationsdrohung sanktioniert wur- 
de, spaltete nun seine Genitalität in genitale Sinn- 
lichkeit und Zärtlichkeit der gleichen sexuellen 
Sphäre. Die Sinnlichkeit musste verdrängt wer- 
den und ihre Energie verschärfte die zärtliche 
Strebung, gestaltete sie zu einer schwer lösba- 
ren Bindungsfähigkeit, die einhergeht mit einer 
heftigen Abwehr nicht nur des Inzestwunsches, 
sondern jeder genitalen sinnlichen Beziehung 
zu einer Frau. Die ganze lebendige Kraft und 
grosse Liebe, die der gesunde, areligiöse junge 
Mann im genitalen Erleben mit der Geliebten 
aufbringt, stützt beim Religiösen nach der Ver- 
drängung der genitalen Sinnlichkeit (die, wie 
wir früher zeigten, auch noch anders gebunden 
wird) den religiösen Marienkult. Aus diesen 

223 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

Quellen bezieht die Religion weitere Kräfte, die 
deshalb nicht zu unterschätzen sind, weil es un- 
befriedigte und genitale Kräfte sind. Sie erklä- 
ren uns auch die jahrtausendealte Macht der 
Kirche über die Menschen und damit zugleich 
die Hemmungen, die der Kulturbildung in den 
Massen entgegenwirkten. 



2. GESUNDES UND NEUROTISCHES 
SELBSTGEFÜHL 

Für den sexuell vollwertigen, sexualökono- 
misch organisierten jungen Menschen bedeutet 
das sinnliche Erleben mit einer Frau erfüllende 
Bindung, Erhöhung des Partners, Austilgung 
jeder Art irgendwie angelegter Erniedrigungs- 
tendenzen gegenüber der sich sexuell gebenden 
Frau. Nach der Verdrängung der genitalen Sinn- 
lichkeit können sich nur mehr die psychischen 
Abwehrkräfte auswirken, Ekel und Abscheu vor 
der genitalen Sinnlichkeit ; diese Abwehrkräfte 
beziehen ihre Energie aus mehreren Quellen. 
Zunächst ist die abwehrende Kraft zumindest 
ebenso stark wie die abgewehrte, durch die Ver- 
drängung und Unbefriedigtheit gesteigerte ge- 
nitale Begehrlichkeit, an der durch die Unbe- 
wusstheit des Verlangens nicht im geringsten 
gerüttelt wird. Dazu kommt die Rechtfertigung 
des Abscheus vor dem Geschlechtsverkehr durch 
die tatsächliche Verrohung des Liebeslebens 
beim bürgerlichen Menschen. Dieses verrohte 
Liebesleben gilt dann als Vorbild des Liebes- 
lebens überhaupt. Die Moral schafft also zuerst 
das, worauf sie sich dann zur Rechtfertigung 

224 



- 



Gesundes und neurotisches Selbstgefühl 

ihres Bestandes („das Sexuelle ist asozial") be- 
ruft. Als dritte affektive Quelle wirkt die sadis- 
tische Auffassung des Geschlechtslebens mit, die 
die Kinder aller patriarchalischen Kulturkreise 
in der frühen Kindheit erwerben. Da jede Hem- 
mung der genitalen Befriedigung die sadisti- 
schen Impulse hochtreibt, infolgedessen die ge- 
samte Sexualstruktur sadistisch wird; da ferner 
ein teilweiser oder vollständiger Ersatz der ge- 
nitalen Ansprüche durch anale in den meisten 
Fällen statthat, klingt die kirchliche Parole von 
der Erniedrigung und Brutalisierung der Frau 
durch den Geschlechtsverkehr an die Struktur 
der Jugendlichen an und gewinnt erst auf diese 
Weise ihre grosse Bedeutung. Der Jugendliche 
hat ja, noch ehe -er auf kirchliche Parolen stiess, 
aus eigenem Erleben die sadistisch-anale Auf- 
fassung des Geschlechtsverkehrs ausgebildet. 
Auch hier bestätigt sich also aufs neue, dass die 
moralischen Abwehrmächte der Menschen die 
Macht und Gewalt der Instanzen der politischen 
Reaktion begründen. Der Zusammenhang des 
religiösen Empfindens mit der sexuellen „Sitt- 
lichkeit" beginnt nun klarer zu werden. Welche 
Inhalte immer religiöses Erleben haben mag, es 
ist im wesentlichen das Negativ des sexuellen 
Strebens, im wesentlichen Sexualabwehr, aber 
mithilfe nichtgenitaler sexueller Erregungen. 
Der Unterschied des sexuellen zum religiösen 
Empfinden ist, dass dieses die Wahrnehmung 
der Erregung als sexueller nicht zulässt und dass 
die Entspannung ausfällt, auch dort, wo es sich 
um die sogenannte religiöse Exstase handelt. 

In der Wahrnehmung der sexuellen Lust und 
der Endlust selbst gesperrt, muss die religiöse 

*» 225 



D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc. 

Erregung eine dauernde Veränderung der psy- 
chischen Apparatur herbeiführen. Nicht nur dass 
das reale Sexualerleben selbst als erniedrigend 
erlebt wird, es kann auch nie zu einem Voll- 
erleben kommen. Die Abwehr des sinnlichen Be- 
gehrens muss im Ich-Ideal gefühlsbetonte Vor- 
stellungen von ethischer Reinheit und Vollkom- 
menheit einbauen. Was die gesunde Sinnlich- 
keit und Befriedigungsfähigkeit an Selbstgefühl 
vermittelt, ergibt sich beim religiösen und my- 
stischen Menschen aus diesen Abwehrformatio- 
nen. Wie beim nationalistischen Empfinden 
wird auch beim religiösen das Selbstgefühl aus 
diesen Abwehrhaltungen geschöpft. Es unter- 
scheidet sich jedoch vom genital basierten 
Selbstgefühl schon äusserlich durch seinen zur 
Schau getragenen Charakter, durch den Man- 
gel an Natürlichkeit im Auftreten, durch die tie- 
fenpsychologisch leicht festeilbare Unterbau- 
ung durch ein sexuelles Minderwertigkeitsge- 
fühl, das zur Kompensation mithilfe entlehnter 
tugendvoller Eigenschaften drängt. Das erklärt 
warum der christlich oder national „sittlich" er- 
zogene Mensch den Phrasen der politischen Re- 
aktion wie „Ehre", „Reinheit" etc. so leicht zu- 
gänglich ist. 



226 



VIII. KAPITEL 

Einige Fragen der sexualpolitischen 

Praxis 

1. THEORIE UND PRAXIS 

Die bürgerliche akademische Forschung for- 
dert die Trennung von Sein und Sollen, Erken- 
nen und Handeln. Sie dünkt sich daher „unpo- 
litisch", der Politik disparat. Die Wissenschaft 
der Logik behauptet sogar, dass sich aus dem 
Sein niemals das Sollen ableiten lasse. Wir er- 
kennen darin eine Beschränkung, die den Zweck 
hat, sich ungestört akademischer Forschung hin- 
geben zu können, ohne auch die Konsequenzen, 
die jeder ernsthaften wissenschaftlichen Ein- 
sicht innewohnen, ziehen zu müssen, Konsequen- 
zen, die regelmässig fortschrittlich, sehr oft um- 
stürzlerisch sind. Für uns geht die Bildung 
theoretischer Ansichten nicht nur aus den Not- 
wendigkeiten des lebendigen Lebens, aus dem 
Zwange, praktische Probleme unseres Daseins 
zu lösen, hervor, führt die theoretische Ansicht 
nicht nur zu neuem, besserem, angepassterem 
Handeln und Bewältigen der praktischen Auf- 
gaben; mehr, eine Theorie gewinnt für uns nur 
dann Wert, wenn sie sich in der Praxis und durch 
sie bestätigt. Alles andere überlassen wir den 
Jongleuren des Geistes, den Hütern der bür- 
gerlichen „Werte"ordnung. Wir haben vor al- 
lem den Grundfehler der bürgerlichen Religi- 
onsforschung zu überwinden, die in akademi- 
schen Darlegungen stecken bleibt und uns daher 

227 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

keinen Ausweg zeigen kann. Wir sind mit 
vielen bürgerlichen Forschern der gleichen 
Meinung, dass die Religion in allen ihren For- 
men geistige Nacht und Beschränktheit bedeu- 
tet. Wir wissen, dass die Religion im Verlaufe 
des historischen Prozesses zu einem Machtin- 
strument der herrschenden Klasse geworden ist ; 
auch darin sind wir mit manchem bürgerlichen 
Forscher einig. Wir unterscheiden uns nur von 
ihnen durch den ernsthaften Willen, den Kampf 
gegen Religion und Aberglauben erfolgreich zu 
führen, unsere Theorie harte Praxis werden zu 
lassen. Wurden in Kampf zwischen Materialis- 
mus und Theismus alle Möglichkeiten von er- 
stem ausgeschöpft? Wir müssen die Frage ver- 
neinen. Vom letztem gewiss. Doch zunächst 
wollen wir in einem kurzen Überblick Orien- 
tierung gewinnen. 



2. DER BISHERIGE KAMPF GEGEN 
DIE RELIGION 

In der Entwicklung der Religion und des 
Kampfes gegen sie lassen sich ohne Verpflich- 
tung vier Phasen unterscheiden. Die erste ist 
gekennzeichnet durch Mangel jeder wissen- 
schaftlichen Anschauung der Dinge, an deren 
Stelle die animistischen und mystischen An- 
schauungen herrschen. Der Primitive hat den 
Drang, vor allem um sein Leben zu sichern, Na- 
turerscheinungen zu erklären und dadurch auch 
seine Angst vor dem Unverständlichen zu über- 
winden. Er sucht Schutz vor den überwältigen- 
den Mächten der Natur. Beides leisten ihm 

228 



• 



Der bisherige Kampf gegen die Religion 

subjektiv, nicht objektiv, die Mystik, der Aber- 
glaube und die animistische Anschauung der 
natürlichen Vorgänge, seine inneren, seelischen 
eingeschlossen. Er glaubt etwa die Fruchtbar- 
keit des Bodens durch Aufstellen von Phallus- 
skulpturen zu heben oder Dürre durch Urinie- 
ren zu beseitigen. Diese Situation bleibt in den 
Grundzügen unverändert bei allen Völkern der 
Erde, bis am Ausgang des Mittelalters die ural- 
ten Ansätze zu wissenschaftlicher Erfassung 
der Natur in voller Abhängigkeit von einigen 
technischen Entdeckungen einen ernsten, aller 
Mystik und Religion gefährlich werdenden Cha- 
rakter annehmen. Im Prozess der grossen bür- 
gerlichen Revolution entbrennt ein heisser 
Kampf gegen die Religion, für die Aufklärung: 
Der Zeitpunkt naht heran, in dem die Wissen- 
schaft die Religion in Bezug auf Erklärung der 
Natur, die aufblühende Technik im besonderen 
hinsichtlich des menschlichen Schutzbedürfnis- 
ses ersetzen könnte (zweite Phase). Aber das 
Bürgertum schwenkt, nunmehr an der Macht, 
um und schafft einen Widerspruch des Kultur- 
prozesses, indem es auf der einen Seite die wis- 
senschaftliche Forschung mit allen Mitteln för- 
dert, weil sie ihm die wirtschaftliche Ausbeute 
stützt, auf der anderen Seite dagegen macht 
es die Religion zur wichtigsten ideologischen 
Macht zur Unterdrückung der Millionenarmeen 
der Lohnempfänger (dritte Phase). Dieser Wi- 
derspruch findet seinen tragikomischen Aus- 
druck etwa in wissenschaftlichen Filmen, z. B. 
„Natur und Liebe", in dem jeder Abschnitt 
zwei Aufschriften trägt: „Die Erde entwickelte 
Sich in Millionen Jahren infolge mechanischer 

229 






• 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

und chemischer kosmischer Prozesse" oder so 
ähnlich, und darunter: „Am ersten Tage schuf 
Gott Himmel und Erde". Und im Parkett sitzen 
hohe Gelehrte, Astronomen und Chemiker, und 
sehen sich diese friedliche Eintracht still- 
schweigend an, in der Überzeugung, dass die „Re- 
ligion ja auch ihre guten Seiten habe", lebendige 
Darstellungen der Trennung von Theorie und 
Praxis. Die zielbewusste Fernhaltung der Er- 
gebnisse der Wissenschaft von den Massen der 
Bevölkerung und Affenprozesse wie in der USA 
fördern Demut, Kritiklosigkeit, freiwillige Ent- 
sagung und Hoffnung auf Glück im Jenseits, 
Autoritätsglauben, Anerkennung der Heilig- 
keit des Privateigentums und der Ewigkeit und 
Unantastbarkeit der vaterrechtlichen Familie 
Das Proletariat und Teile des ihm nahestehen- 
den Kleinbürgertums schaffen die Freidenker- 
bewegung, die das liberale Bürgertum gewähren 
lässt, so lange sie gewisse Grenzen nicht über- 
schreitet. Aber das Freidenkertum arbeitet mit 
unzulänglichen Mitteln, nur mit intelektuellen 
Argumenten, während die Kirche die Hilfe des 
staatlichen Machtapparates geniesst und sich 
massenpsychologisch auf die gef ühlmässig mäch- 
tigste Kraft, die Sexualangst und Sexualver- 
drängung stützt. Dieser grossen Macht im Ge- 
fühlsbereiche ist keine entsprechende Kraft von 
gefühlsmässigem Gewicht entgegengesetzt. So- 
weit das Freidenkertum Sexualpolitik betreibt, 
ist sie wieder intellektualistisch oder auf die 
Fragen der Bevölkerungspolitik eingeschränkt, 
im besten Falle bezieht es die Forderung nach 
wirtschaftlicher Gleichberechtigung der Frau 
ei n, was sich aber gegen die Mächte der Re- 
230 






Der bisherige Kampf gegen die Religion 

ligion massenmässig nicht auswirken kann, weil 
für die meisten Frauen die Vorstellung der wirt- 
schaftlichen Gleichberechtigung durch Sexual- 
angst, d. h. durch Angst vor der sogenannten 
sexuellen Freiheit, die bei wirtschaftlicher 
Gleichstellung mitgegeben ist, unbewusst ge- 
fühlsmässig gebremst ist. 

Die Schwierigkeiten in der Bewältigung 
dieser unerkannten gefühlsmässigen Tatbestän- 
de zwingen die revolutionäre Freidenkerbewe- 
gung nur mehr mit der Enthüllung der Klas- 
senfunktion der Religion und der Kirche zu 
opieren, die sogenannte „Weltanschauungsfra- 
ge" dagegen in den Hintergrund zu rücken, weil 
man damit oft das Gegenteil des Beabsichtigten 
erzielte, ein Standpunkt, der gewiss für diese 
Phase des Kampfes, in dem der Religion keine 
entsprechende gefühlsmässige Macht entgegen- 
gesetzt werden kann, restlos gilt. 

Die russische Revolution hebt den Kampf ge- 
gen die Religion auf ein ungleich höheres Ni- 
veau (viert e Phase) 1). Der Machtapparat steht 

., !? b ite L atU - T z „ ur ReIi gionsfrage in der 'S. U. Schule 
und Kirche in Sowjetrussland, Süddeutsche Arbeiter- 
Zeitung vom 26.-9.-1927 ; Kirche und Staat in der Sow- 
jetrepublik, Stepanow. Jhrb. f. P. u W. 23—24. Kirche 
und Staat, Jaroslawski, Jhrb. 1925—26. Die Freidenker- 
bewegung in Russland, v. Muzak, „Der Freidenker", 
Nr. 6. Das Verhältnis von Kirche und Staat im neuen 
Russland. v. Jakoby Weimar, Neue Bahnen 1928. — 
Lenin, W. I.: über die Religion, Bd. IV, der kleinen 
Lenin-Bibl. Verl. f. Lit. u. Pol. — Elgers, A.: Die 
Kulturrevolution in der Sowjetunion, Verlagsanstalt 
proletarischer Freidenker 1931. — Kurella, A.: Die 
sozialistische Kulturrevolution im 5- Jahresplan, Inter- 
nationaler Arbeiterverlag. — Feodorow: Antireligiöse 
Propaganda im Dorf. — Wogan: Sozialistischer Auf- 
bau des Dorfes und die Religion. — 

231 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

nicht mehr der Bourgeoisie und der Kirche, 
sondern den Exekutivkomitees der Sowjets zur 
Verfügung. Die antireligiöse Bewegung erhält 
ein festes Fundament, die sozialistische Neu- 
ordnung der Wirtschaft. Jetzt wird erstmalig 
im Massenmasstabe der Ersatz der Religion 
durch Naturwissenschaft, der Ersatz des das Ge- 
fühl des Schutzes bietenden Aberglaubens durch 
die aufblühende Technik, die Zerstörung der 
Religion durch gesellschaftswissenschaftliche 
Erklärung der Funktion der Religion selbst 
möglich. Der Kampf gegen die Religion erfolgt 
in der USSR im wesentlichen in dreifacher 
Weise: Durch Entzug der wirtschaflichen 
Basis, also direkt wirtschaftlich, durch antire- 
ligiöse Propaganda, also direkt ideologisch, und 
durch Hebung des kulturellen Niveaus der Mil- 
lionenmassen, also indirekt ideologisch. 

Die gewaltige Bedeutung des staatlichen 
Machtapparates für die Existenz der Kirche 
geht aus einigen Zahlen hervor, die die Zu- 
stände im alten Russland beleuchten. Die rus- 
sische Kirche besass 1905 2.611.000 Desjatinen 
Grund und Boden, d. s. ca. 2 Millionen Hektar. 
1903 gehörten in Moskau den Pfarrkirchen 908 
Häuser, den Klöstern 146. Die jährlichen Be- 
züge der Metropoliten betrugen in Kiew 84.000 
Rubel, in Petersburg 259.000 Rubel, in Moskau 
81.000 Rubel, in Nishni-Nowgorod 307.000 Ru- 
bel. Die Naturaleinnahmen und Gebühren für 
jede einzelne kirchliche Handlung sind nicht 
abzuschätzen. 200.000 Personen standen auf 
Kosten von Massensteuern im Dienste der Kir- 
ceh. Das Troitzkij-Lawra Kloster, das von 
durchschnittlich 100.000 Wallfahrern jährlich 
232 



» 






Der bisherige Kampf gegen die Religion 

besucht wurde, verfügte über Kirchengeräte im 
Werte von etwa 650 Millionen Rubel. Wie die 
ökonomische Macht der Kirche in den kapitali- 
stischen Ländern beschaffen ist, wird sich erst 
nach der Machtergreifung durch die Arbeiter- 
und Bauernräte erfassen lassen. Sie ist gewiss 
nicht geringer als im alten Russland. 

Auf ihre wirtschaftliche Macht gestützt 
konnte die Kirche ihre ideologische entspre- 
chend ausüben. Dass alle Schulen konfessionell, 
der Kontrolle und Herrschaft der Priesterschaft 
unterworfen waren, versteht sich von selbst. Der 
erste Artikel der Verfassung des zaristischen 
Russland lautete: „Der Herrscher aller Reussen 
ist selbstherrschender und unumschränkter Mo- 
narch und Gott selbst befiehlt freiwillige Un- 
terordnung unter seine Regierungsgewalt." Wir 
wissen bereits, was Gott darstellt, auf welche 
kindlichen Gefühle im Menschen sich derartige 
Machtsprüche stützen können. Derzeit baut 
Hitler in Deutschland die Kirche in ganz der 
gleichen Weise um, erweitert er ihre Machtvoll- 
kommenheit, verleiht er ihr die üblen Rechte, 
in den Schulen die Kindergemüter für die Auf- 
nahme der reaktionären Ideologien reif zu ma- 
chen. Die „Versittlichung" steht in vorderster 
Kampffront des das Vermächtnis des allerhöch- 
sten Gottes vollziehenden Hitler. Kehren wir 
zum gründlich entlarvten alten Russland zurück. 
An den geistlichen Seminaren und Akademien 
gab es spezielle Lehrstühle für den Kampf ge- 
gen den Sozialismus. Am 9. Januar 1905 erschien 
ein Aufruf der Geistlichkeit der die revoltieren- 
den Arbeiter beschuldigte, von den Japanern 
bestochen zu sein. Die Februarrevolution 1917 

233 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

brachte nur geringe Änderungen; alle Kirchen 
wurden gleichgestellt, aber die lange erwartete 
Trennung von Kirche und Staat blieb aus, das 
Oberhaupt der Kirchenverwaltung wurde der 
Grossgrundbesitzer Fürst Lwow. In einer Kir- 
chenversammlung im Oktober 1917 wurden die 
Bolschewiken in Bann getan, der Patriarch Ti- 
chon erklärte ihnen den Krieg. 

Die Sowjetregierung erliess am 23. Januar 
1918 ein Dekret folgenden Inhaltes: 

„Hinsichtlich der Religion begnügt sich die RKP 
nicht mit der bereits dekretierten Trennung der Kir- 
che von Staat und Schule,d. h. mit Massnahmen, die 
auch auf dem Programm der bürgerlichen Demokratie 
stehen, ohne dass sie infolge der zahlreichen faktischen 
Zusammenhänge zwischen Kapital und religiöser Pro- 
paganda irgendwo in der Welt rigoros bis zu Ende 
durchgeführt worden wäre. 

Die RKP ist der Überzeugung, dass nur die Ver- 
wirklichung der Planmässigkeit und Bewusstheit im 
gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben 
der Massen das völlige Absterben der religiösen Vor- 
urteile nach sich ziehen wird. Die Partei beabsichtigt 
die völlige Beseitigung aller Zusammenhänge zwischen 
den Ausbeuterklassen und der Organisation der religio 
sen Propaganda: sie organisiert eine umfassende wis 
senschafthch aufklarende und antireligiöse Propaean 
da, wodurch sie faktisch zur Befreiung der schaffen 
den Massen von den religiösen Vorurteilen beiträgt 
Hierbei muss sorgfältig vermieden werden, die Gefüh- 
le der Gläubigen zu kränken, was nur zu einer Verstär- 
kung des religiösen Fanatismus führt. — 

Danach sind auf dem Territorium der Republik lo- 
kale Verordnungen, durch die die Freiheit des Gewis- 
sens beschränkt oder aber Privilegien für Angehörige 
eines bestimmten Glaubensbekenntnisses geschaffen 
würden, unzulässig (§ 2 des Dekrets). 

Jeder Staatsbürger kann sich zu einer beliebigen 
Religion oder auch zu keiner bekennen; alle früheren 
™ It: .zusammenhängenden Rechtsbeschränkungen sind 

234 



Der bisherige Kampf gegen die Religion 

Aus allen offiziellen Akten ist jeder Hinweis auf 
die religiösen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit 
eines Staatsbürgers zu entfernen (§ 3 des Dekrets). 

Die Tätigkeit der staatlichen und sonstigen öffent- 
lich-rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen 
vollzieht sich ohne jegliche religiösen Gebräuche und 
Zeremonien (§ 4). 

Die freie Ausübung der religiösen Gebräuche wird 
gewahrleistet, sofern sie keine Störung der öffentli- 
chen Ordnung mit sich bringt und nicht von Anschlä- 
gen auf die Rechte von Staatsbürgern der Sowjetunion 
begleitet ist. Die lokalen Behörden sind befugt, in sol- 
chen Fällen alle Massnahmen der öffentlichen Ruhe 
und Ordnung zu treffen. (§ 5). 

Niemand kann sich unter Berufung auf seine reli- 
giösen Anschauungen seinen staatsbürgerlichen Pflich- 
ten entziehen. 

Ausnahmen hiervon sind nur aufgrund einer Ent- 
scheidung des Volksgerichtes in jedem einzelnen Falle 
zulässig und unter der Bedingung, dass die eine staats- 
bürgerliche Pflicht durch eine andere ersetzt wird. 
(§ 6). 

Der religiöse Eid ist abgeschafft. Nötigenfalls wird 
eine feierliche Erklärung abgegeben. (§ 7). 

Die Zivilstandsakten werden ausschliesslich von den 
Zollbehörden und zwar von den Registrierabteilungen 
Mir Eheschliessungen und Geburten geführt (§ 8). 

Die Schule ist von der Kirche getrennt. 

Die Propagierung religiöser Glaubensbekenntnisse 
'st an samtlichen staatlichen und öffentlichen sowie 
privaten Unterrichtsanstalten wo Gegenstände der All- 
gemeinbildung gelehrt werden, untersagt (§ 9). 

Alle kirchlichen und religiösen Gesellschaften unter- 
legen den allgemeinen Bestimmungen über private 
Gesellschaften und Verbände und geniessen keinerlei 
Vergünstigungen und Subsidien weder seitens des Staa- 
tes, noch der autonomen lokalen Selbstverwaltungs- 
organe (§ 10). 

Die Zwangseintreibungen von Umlagen zugunsten 
der kirchlichen und religiösen Gesellschaften, sowie 
Zwangs- und Strafmassnahmen dieser Gesellschaften 
gegen ihre Mitglieder sind unzulässig (§ 11). 

Die kirchlichen und religiösen Gesellschaften besit- 

235 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

"ich? d i re er Rl?t igen - tUmS - reCht '- des S lei ^en besitzen sie 
An die T> R « cht e einer juristischen Person (§ 12) 
Aller Besitz der kirchlichen und religiösen Gesell 

*ur den Gottesdienst bestimmte Baulichkeiten und 
Gegenstande werden aufgrund besonderer Verfügungen 
der lokalen oder zentralen Behörden den £2253? 
den religiösen Gesellschaften zur unenteelSichen S 
nutzung überlassen (§ 13) ""entgeltlichen Be- 

Geistliche, Mönche und Nonnen haben weder akti 

Schon am 18. Dezember 1917 wurde die Füh- 
rung der Zivilstandsakten den Sowjetämtern 
übergeben. Beim Volkskommissariat für Justiz 
wurde eine Liquidationsabteilung gegründet, die 
mit der Liquidation des Kirchenbesitzes begann 
im Troitzkij-Lawrakloster wurde z. B. eine 
Akademie für die elektrotechnische Abteilung 
der Roten Armee und ein pädagogisches Tech- 
nikum errichtet. Auf den Territorien der Klö- 
ster wurden Arbeiterkartelle und Kommunen 
eingerichtet, die Kirchen verwandelten sich all 
mählich in Arbeiterklubs und Leseräume Die 
antireligiöse Propaganda setzte mit der Ent 
larvung des direkten Volksbetruges durch die 
kirchliche Hierarchie ein. Der heilige Brunnen 
in der Sergiuskirche entpuppte sich als simple 
Pumpe, die Stirn manches Heiligen, die küssen 
zu dürfen sogar Geld kostete, war nicht anderes 
als ein geschickt arrangiertes Stück Leder Die 
Wirkung dieser Entlarvung im Angesicht mas- 
senhaft versammelter Menschen wirkte prompt 
und radikal. Dass die Gottlosenpropaganda Stadt 
und Land mit Millionen von aufklärenden Bro- 

■bfe? i. Und Zeitun S en überschwemmte, ver- 
geht sich von selbst. Die Errichtung von anti- 
236 



* 









Sexuelle Bewusstheit contra Mystik 

religiösen naturwissenschaftlichen Museen er- 
möglichte die Gegenüberstellung von wissen- 
schaftlicher und abergläubischer Weltbetrach- 
tung. 

Trotz alledem hörte ich in Moskau 1929, dass 
die einzig organisierten und festgefügten kon- 
terrevolutionären Gruppen die religiösen Sek- 
ten wären. Die Beziehung des religiösen Sekten- 
wesens zum Geschlechtsleben der Sektenmit- 
glieder wie auch zur Sexualstruktur der Gesell- 
schaft, die in der S. U. theoretisch und praktisch 
schwer vernachlässigt, weil unterschätzt ist, was 
sich bereits schädlich ausgewirkt hat, führt zu 
unserem Thema zurück. 



3. SEXUELLE BEWUSSTHEIT CONTRA 

MYSTIK 

Die Zerstörung der wirtschaftlichen Basis der 
Macht der Kirche ist in den kapitalistischen Län- 
dern nicht möglich, und auch nach der Revolution 
bedeutet sie nur die Beseitigung der wichtigsten 
Hilfsmittel der Kirche. An ihrer ideologischen 
Macht, die sich auf die entgegenkommenden Ge- 
fühle und abergläubischen Strukturen der durch- 
schnittlichen Massenindividuen stützt, rührt 
diese Massnahme nicht. Daher setzte die Sow- 
jetmacht mit der ideologischen Beeinflussung 
ein. Die naturwissenschaftliche Aufklärung und 
Entlarvung der Religion setzt aber blos eine, 
allerdings sehr mächtige, intellektuelle Kraft 
neben die religiösen Gefühle und überlässt im 
Übrigen alles dem Kampf zwischen Intellekt 
und mystischem Empfinden im Menschen. Dieser 

237 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

Kampf gelingt nur bei bereits auf anderer Ba- 
sis reifenden Persönlichkeiten. Dass er auch bei 
solchen versagen kann, zeigt sich an den nicht 
seltenen Fällen, wo selbst klare Materialisten 
ihren religiösen Empfindungen fa T der £ 

™M e h l Foim - nachgeben > etwa &£* 

vZt S? USSe "' Der gewiegte Kirche «- 
W £5nnT„ ♦ u! US Cln Ar S u «^nt für sich 
zu gewinnen trachten und behaupten, das be- 
weise eben die Ewigkeit und Unausrottbarst 
rt h, re i lgl ° Se , n ? Ühlens - Er hat tr °**dem Un- 

U~rL T?~?? S ^ WeiSt nur ' dass zwar d ^ re- 
ligiösen Fühlen die Macht des Intellekts ge- 
genübergestellt ist, dass aber seine Quellen 

5ȣ T angetas , tet wurd en- Der Schluss ist 
gültig, dass dem religiösen Empfinden der Bo- 
den restlos entzogen wäre, wenn nicht nur die 
soziale Macht der Kirche beseitigt und dem re- 
ligiösen Empfinden eine intellektuelle Kraft 
gegenübergestellt, sondern darüber hinaus die 
Gefühle, die das religiöse Empfinden speisen 

Bahn bew r; f gemacht WÜrden und *nen f refe 
Bahn geschaffen wäre. Da die unwiderlegbare 
psychoanalytische Erfahrung besäet da« h 
religiöse Empfinden gehemnfter SelualS ent 
springt dass in gehemmter Sexualerregung dfe 
Quelle der religiösen Erregung zu suchen lst 
so folgt daraus der zwingende Schluss dass' 
klares sexuelles Bewusstsein und natürliche 
Ordnung des sexuellen Lebens das Ende des 
mystischen Empt indes jeder Art sein muss, dass 
also die natürliche Geschlechtlichkeit der Tod 
imm? ' , ReIi ^" i«. Wenn die Kirche, wo 
hT? 'J e ka . nn ' den bisexuellen Kampf führt 
'hn , n das Zentrum ihrer Dogmen und in den 



Sexuelle Bewusstheit contra Mystik 

Vordergrund der Massenbeeinflussung stellt, so 
gibt sie dieser Auffassung damit nur recht. 

Ich versuchte die sehr komplizierten Tatbe- 
stände zunächst auf die einfachste Formel zu 
bringen, wenn ich sagte, sexuelle Bewusstheit 
sei das Ende der Religion. Wir werden bald 
wahrnehmen, dass, so einfach diese Formel auch 
ist, ihre wirkliche Grundlage und die Bedin- 
gungen ihrer praktischen Durchführung äusserst 
kompliziert sind und den ganzen uns zur Ver- 
fügung stehenden wissenschaftlichen Apparat 
und die tiefste Überzeugung von der Notwen- 
digkeit des unerbittlichsten antireligiösen 
Kampfes erfordern, wenn man mit entsprechen- 
den Mitteln dem raffinierten ideologischen Ap- 
parat der Kirche begegnen will. Doch das 
schliessliche Resultat wird einmal die grosse 
Mühe lohnen. 

Um die Schwierigkeiten richtig abzuschätzen, 
die der praktischen Durchführung dieser ein- 
fachen Formel entgegenstehen, müssen einige 
grundsätzliche Tatbestände in der psychischen 
Organisation des bürgerlichen oder durch die 
bürgerliche Erziehung gegangenen Menschen 
grundlich erfasst werden. Wenn einige proleta- 
rische Organisationen im katholischen Westen 
Deutschlands den sexualpolitischen Kampf ge- 
gen die religiöse Verseuchung ablehnten, weil 
sie angeblich Misserfolge damit gehabt hatten, 
so spricht das nicht gegen meine Aufstellung, 
sondern bezeugt nur die Ängstlichkeit, eigene 
Sexualscheu und sexualpolitische Unerfahren- 
heit derer, die es unternahmen, vor allem aber 
den Mangel an Geduld und Gründlichkeit, sich 
der komplizierten Sachlage anzupassen, sie zu 

239 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

verstehen und zu meistern. Wenn ich einer 
christlichen Frau, die sich in sexuellen Nöten 
befindet, einfach sagen werde, dass sie sexuell 
leide und nur durch sexuelles Glück ihr seeli- 
sches Leiden lösen könne, so wird sie mich wahr- 
scheinlich und mit Recht vor die Türe setzen. 
Wir haben die Schwierigkeit vor uns, dass nicht 
nur jeder einzelne Widersprüche in sich trägt, 
die man begreifen muss, sondern dass auch die 
Frage praktisch in verschiedenen Gegenden und 
Ländern verschieden liegt, also verschieden zu 
lösen ist. Fraglos wird mit wachsender sexual- 
politischer Praxis die Grösse der Hindernisse 
kleiner werden, aber einzig und allein die Praxis 
kann diese Schwierigkeiten beseitigen. Man 
muss nur einig darüber sein, dass unsere Grund- 
formel richtig ist, und man muss die Schwierig- 
keiten in ihrem Wesen selbst begreifen. Wenn 
die Religion die Menschheit seit Jahrtausenden 
beherrscht, so darf sie von uns Anfängern for- 
dern, dass wir sie auch nicht unterschätzen, sie 
richtig erfassen und uns klüger, raffinierter 
wissender erweisen als ihre Vertreter. 

4. DIE INDIVIDUELLE ENTWURZE- 
LUNG DES RELIGIÖSEN GEFÜHLS 
Aus dem richtigen Verständnis der Verankerung 
der Religiosität und der Möglichkeiten, sie zu 
entwurzeln, das wir beim einzelnen bürgerlichen 
Menschen durch die psychoanalytische Klinik 
erlangen, lassen sich auch Richtlinien für die 
Massenbeeinflussung gewinnen. Die Erfahrun- 
gen über die Veränderungen, die an religiösen 
240 



D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls 

oder in einer anderen Weise mystischen Men- 
schen im Verlaufe einer psychoanalytischen Be- 
handlung vor sich gehen, sind von entscheiden- 
der Bedeutung, nicht deshalb, weil sie sich auf 
die Massenbeeinflussung einfach übertragen 
Hessen, sondern weil sie uns die Widersprüche, 
Kräfte und Gegenkräfte beim Durchschnittsin- 
dividuum enthüllen. 

Ich habe bereits geschildert, welche unbe- 
wussten Vorgänge die religiösen Vorstellungen 
und Gefühle verankern. Versuchen wir nur}, 
den Prozess der Entwurzelung der Religiosität 
in den Grundzügen zu verfolgen. 

Die religiöse Einstellung wirkt sich zunächst 
typischerweise als mächtigster Widerstand ge- 
gen die Aufdeckung des unbewussten Seelen- 
lebens, im besonderen der verdrängten sexuel- 
len Ansprüche aus. Es ist bezeichnend, dass die 
religiöse Abwehr weniger den praegenitalen 
kindlichen, als den genitalen Triebregungen gilt, 
zentral der kindlichen Onanie, an die gewöhn- 
lich jede bewusste Erinnerung erloschen ist. 
Der Kranke klammert sich an seine asketischen, 
moralischen und religiösen Anschauungen, ver- 
schärft seine Ideologie vom unüberbrückbaren 
Gegensatz des „Moralischen" zum „Tierischen", 
d. h. Natürlichen-sexuellen, wehrt sich gegen 
den Analytiker, der nicht anderes tut, als ihm 
das Bewusstsein seiner Sexualität nahezubrin- 
gen, mithilfe moralischer Herabsetzung, des 
Vorwurfs des Unverständnisses für „seelische 
Werte" und „groben, niedrigen Materialismus". 
Kurz, wer die Argumentation der Kirchenver- 
treter und Faschisten in der politischen und 
der Charakterologen und „Geisteswissenschaft- 

16 241 



i 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

ler" in der naturwissenschaftlichen Diskussion 
kennt, dem klingt das alles wohlbekannt, es ist 
ein und dasselbe. Es ist kennzeichnend, dass 
sich die Gottesfürchtigkeit und die moralische 
Abwehr sofort verstärken, wenn es der Analyse 
gelingt, ein Stück Sexualverdrängung aufzulok- 
kern. Nähert man sich insbesondere dem Kon- 
flikt, der aus der kindlichen Onanieangst quillt, 
drängt infolgedessen der genitale Sexualan- 
spruch zur Aktivität in erhöhtem Masse, dann 
pflegt ein Schwanken zwischen intellektueller 
Einsicht und Hinneigen zur sexuellen Bejahung 
einerseits und heftigster moralischer Abwehr 
andererseits das Bild zu beherrschen, bis der 
völlige Durchbruch der genitalen Ansprüche 
und ihre Einverleibung in die übrige Person 
gelingt. In dem gleichen Masse, in dem die 
Angst vor der Sexualität bzw. dem alten elter- 
lichen Sexualverbot schwindet, vermindert sich 
auch die religiöse Gläubigkeit. Was ist vor sich 
gegangen? Vorher hatte sich der Kranke unbe- 
wusst des Gottesglaubens bedient, um die sexu- 
ellen Wünsche in der Verdrängung zu erhalten. 
Sein Ich war zu schwach, zu ängstlich, der 
eigenen Sexualität zu sehr entfremdet, um die 
mächtigen natürlichen Kräfte aus eigenem zu 
beherrschen und zu regulieren. Im Gegenteil, je 
mehr er sich seiner Sexualität erwehrte, desto 
stärker wurden die Ansprüche und dement- 
sprechend mussten auch die moralischen und 
religiösen Hemmungen ausgebaut werden. Im 
Verlaufe der Behandlung erstarkte dieses Ich, 
die kindlichen Abhängigkeiten von Eltern und 
Erziehern wurden gelöst, es erkannte die Na- 
türlichkeit der verdrängten Sexualität, lernte 
242 



D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls 

unterscheiden, was daran kindlich, derzeit un- 
brauchbar, und was der Erwachsenheit und den 
Forderungen des wirklichen Lebens entspricht. 
Der christliche Jüngling wird etwa bald er- 
kennen, dass seine intensiven exhibition istischen 
und perversen Neigungen teils einer Rückkehr 
zu uralten kindlichen Formen der Sexualität, 
teils, ihrer Intensität und Unbeherrschbarkeit 
nach, der Hemmung der genitalen Sexualität 
entsprechen, er wird auch erkennen, dass seine 
mehr oder minder unterdrückten genitalen 
Wünsche nach Vereinigung mit einem Weibe 
durchaus mit seinem Alter und seiner natür- 
lichen Organisation in Einklang sind, dass ihre 
Befriedigung nicht nur möglich, sondern sogar 
notwendig sind. Er braucht nunmehr die Stütze 
des Glaubens an einen allmächtigen Gott und 
der moralischen Hemmung nicht mehr. Er wird 
Herr im eigenen Hause und lernt, seinen sexuel- 
len Haushalt selbst zu regulieren. Dazu kommt, 
dass die Analyse von der kindlich-hörigen Ab- 
hängigkeit von der Autorität des Vaters und 
der Personen, die ihn ersetzen, befreit, indem 
sie die Bindung an ihn durch die Ich-Erstar- 
kung lost, sodass die Gottesbindung, die eine 
Fortsetzung der Vaterbindung ist, ihre Kraft 
einbüsst. Führt schliesslich die Analyse dazu, 
dass der Betreffende ein normales, befriedigen- 
des Liebesleben aufnimmt, dann verliert die Re- 
ligion ihren letzten Halt. Studierende Theolo- 
gen etwa geraten dann in nicht geringe Schwie- 
rigkeiten, denn eine überzeugungsvolle Fort- 
setzung des Berufes, dessen gesundheitliche 
Segnungen am eigenen Leibe verspürt wurden, 
ist unmöglich geworden. Vielen bleibt nur übrig] 

243 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

an die Stelle des Priestertums die antireligiöse 
Religionsforschung zu setzen. 

Diese Vorgänge am religiösen Menschen wird 
nur derjenige Analytiker nicht bestätigen kön- 
nen, der entweder die Genitalstörung seiner Pa- 
tienten theoretisch und praktisch nicht begreift 
oder aber wie etwa ein bekannter psychoanaly- 
tischer Pfarrer der Ansicht ist, dass man die 
Sonde der Psychoanalyse nur so tief ins Unbe- 
wusste senken dürfe, wie es die Ethik erlaubt. 
Mit derlei „unpolitischer", „objektiver" Wissen- 
schaft wollen wir ebensowenig zu tun haben wie 
etwa mit der, die zwar die revolutionären Kon- 
sequenzen der Psychoanalyse als „Politik" aufs 
eifrigste bekämpft, selbst aber als Konsequenz 
etwa den Rat für Mütter zieht, die Erektionen 
der kleinen Knaben durch Übungen im Verhal- 
ten des Atems zu bekämpfen. Fraglich ist in sol- 
chen tragikomischen Schlussfolgerungen nicht 
ihre Herkunft, sondern der Prozess im Wissen- 
schaftler, der sie vor seinem Gewissen bestehen 
lässt und ihn zum Priester macht, ohne ihn je- 
doch vor der politischen Reaktion zu rehabili- 
tieren. Er benahm sich nur wie die deutschen 
SPD-Abgeordneten, die das Deutschlandlied bei 
der letzten Parlamentsitzung begeistert-flehend 
mitsangen und trotzdem „als Sozialisten" ins 
Konzentrationslager kamen. 

Es ist genau festzuhalten, dass unser Ergeb- 
nis nicht durch Diskussionen über Dasein oder 
Nichtdasein Gottes erzielt wird, sondern einzig 
und allein durch Behebung der sexuellen Ver- 
drängungen und Lösung der kindlichen Bin- 
dungen an die Eltern. Die Zerstörung der Re- 
ligion im Analysanden liegt auch garnicht in 
244 



D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls 

der Absicht des Therapeuten, er behandelt sie 
nur wie jede andere psychische Tatsache, die 
als Stütze der Sexualverdrängung fungiert und 
die sexuellen Energien aufzehrt. Der analyti- 
sche Prozess besteht also nicht darin, dass der 
religiösen Weltanschauung des Analysanden eine 
materialistische, antireligiöse entgegengesetzt 
wird; das wird absichtlich vermieden, denn es 
würde an der Tatsache nichts ändern; er be- 
steht vielmehr darin, dass die religiöse Einstel- 
lung als antisexuelle Kraft entlarvt und die sie 
speisenden Kräfte anders untergebracht wer- 
den. Der Mensch, der vorher übertrieben mora- 
lisch in der Ideologie, dagegen pervers, lüstern 
und neurotisch verzerrt in der Wirklichkeit 
war, verliert diesen Widerspruch und mit der 
Moral auch die sexuelle Dissozialität und Un- 
moral im sexualökonomischen Sinne. An die 
Stelle der unzulänglichen moralischen und reli- 
giösen Hemmung tritt die sexualökonomische 
Regelung der sexuellen Bedürfnisse. 

Die Kirche hat also von ihrem Standpunkt 
durchaus Recht, wenn sie, um sich zu erhalten 
und in den Menschen zu reproduzieren, so scharf 
gegen die Sexualität auftritt. Sie irrt nur in 
einer ihrer Voraussetzungen und in ihrer wich- 
tigsten Rechfertigung: Ihre Moral schafft erst 
dasjenige Triebleben, zu dessen sittlichen Be- 
herrschung sie sich berufen ausgibt, und der 
Wegfall dieser Moral ist die Vorbedingung des 
Wegfalls dessen, was zu beseitigen sie vergeb- 
lich sich bemüht. Das ist die unerbittliche 
Tragik der Moral und Religion jeder Art, denn 
die Aufdeckung der sexualökonomischen Pro- 



245 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

zesse, die die Religion speisen, bedeutet ihr 
praktisches Ende. 

Sexuelle Bewusstheit und religiöses Empfin- 
den können nebeneinander nicht bestehen. Sexu- 
alität und religiöses Empfinden ist energetisch 
dasselbe, solange erste verdrängt ist und sich 
vom Bewusstsein unkontrolliert in religiöse Er- 
regung umsetzen kann. (Wir sprachen hier 
selbstverständlich vom echten religiösen Erle- 
ben und nicht von der gemachten Religiosität, 
die Erwerbszwecken dient.) 

Aus diesen analytischen Tatbeständen ergeben 
sich zwangsläufig einige Konsequenzen für die 
Massenpraxis, die wir darlegen werden, nachdem 
wir einige naheliegende Einwände erledigt ha- 
ben. 



5. EINWÄNDE UND DIE PRAXIS DER 

SEXUALPOLITIK 

In der sexualpolitischen Praxis ist man daran 
gewöhnt, dass die beruflichen Wirtschaftspoli- 
tiker als Gegner der sogenannten „Überspitzung 
und Übertreibung der Sexualfrage" auftreten 
und bei den geringsten Schwierigkeiten, die sich 
naturnotwendig auf diesem neuen Gebiete erge- 
ben, sofort das Ganze erledigen. Diesen Geg- 
nern der Sexualpolitik überhaupt ist zunächst 
zu sagen, dass die Eifersucht unbegründet ist. 
Die sexualpolitische Kulturfront bedeutet kei- 
nen Eingriff in ihre eigene Domäne der Wirt- 
schafts- und Staatspolitik, auch keine Ein- 
schränkung ihres Arbeitsgebietes, sondern zielt 
auf die Erfassung eines bisher völlig vernach- 
246 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

lässigten, aber äusserst wichtigen Gebietes des 
Kulturprozesses. Der sexualpolitische Kampf ist 
ein Teil des gesamten Kampfes der Klasse der 
Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die 
Klasse der Ausbeuter und Unterdrücker. Wie 
wichtig dieser Kampf ist, welchen Platz und 
Raum er innerhalb der Arbeiterbewegung ein- 
zunehmen hat, dies gegenwärtig am Schreibtisch 
zu entscheiden, hiesse scholastische Diskutiere- 
rei betreiben. In der bisherigen Diskussion um 
Rolle und Bedeutung der Sexualpolitik pflegte 
man, statt durch die Praxis sich seine Ein- 
schätzungen zu holen, eine Rivalität zwischen 
Wirtschafts- und Sexualpolitik zu konstruieren. 
Auf solche Diskussionen darf keine Zeit ver- 
schwendet werden. Wenn alle Fachbearbeiter der 
verschiedenen Gebiete alles herausschlagen wer- 
den, was zur Niederringung des Kapitalismus 
notwendig ist,- wenn jeder sein Gebiet restlos 
beherrschen wird, dann werden sich alle Diskus- 
sionen über Rang und Rolle erübrigen, dann 
wird sich die objektive Bedeutung der einzelnen 
Fragen von selbst ergeben. Wichtig ist nur, an 
der Grundauffassung festzuhalten, dass die 
Wirtschaftsform auch die Sexualform bestimmt 
und dass ohne Änderung der wirtschaftlichen 
und politischen Formen des menschlichen Seins 
die sexuellen nicht geändert werden können. 

Es gibt einen öden Einwand, die Sexualpoli- 
tik, die sich aus der psychoanalytischen Sexual- 
theorie herleite, sei „individualistisch", für den 
Klassenkampf also nicht zu brauchen. Es gibt 
Schlagworte, die wie Hautläuse festsitzen und 
nur mit radikalen Mitteln zu entfernen sind. 
Gewiss ist die Methode, mit der die Erkennt- 

247 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

nisse gewonnen werden „individualistisch". Be- 
trifft aber das, was sie untersucht, nämlich das 
Ergebnis der gesellschaftlichen Unterdrückung 
des Geschlechtslebens, nicht alle Mitglieder un- 
serer Gesellschaft? Ist die Sexualnot nicht kol- 
lektiv? Ist die Tuberkulosebekämpfung in der 
Sowjet-Union individualistisch, weil die Erfor- 
schung der Tuberkulose am einzelnen Kranken 
erfolgt? Die revolutionäre Bewegung beging 
bisher den schweren Fehler die Sexualität als 
eine „Privatangelegenheit" zu betrachten. Sic 
ist es nicht für die politische Reaktion, die stets 
und immer auf zwei Geleisen gleichzeitig fährt: 
auf dem der Wirtschaftspolitik und auf dem der 
„sittlichen Erneuerung". Wir fuhren bisher ein- 
geleisig. Es kommt also darauf an, die Sexual- 
frage zu politisieren, die Kulissen des persön- 
lichen Lebens in offene Tribüne zu verwandeln, 
die Sexualfrage in die gesamte Kampffront ein- 
zureihen, und zwar ganz anders, wie es bisher 
mit der einzigen Frage aus diesem Gebiet, der 
Frage d er Bevölkerungspolitik, geschah.i) Di ese 

*) Die proletarische Bewegung be°inp- hiQi,-, a 
schweren Fehler, der unter andefemrncnt wenig zur 
Niederlage beitrug, die politischen Parolen Ins dem 
Gebiete der Gewerkschaftspolitik und des zTntrflen 
politischen Kampfes mechanisch auf alle anderen Ge 
biete des Klassenkampfes zu übertragen, statt auf ie 
dem Gebiete des menschlichen Lebens und Handelnd 
eine diesem Gebiet entsprechende Linie und Taktik zu 
entwickeln. So wollten leitende Funktionäre der deut 
sehen sexualpolitischen Organisation die Sexualfraee 
ausschalten und mit der Parole „gegen Hunger und 

tu ?*\ ii! Uf j 1CS o m Geblet » die Massen mobilisieren". 
ü£J , lten u d fr Sexualfrage die „soziale Frage" gegen- 
len Tr r alS °, b dle , S «ualfrage nicht ein Teil des sozia- 
len Fragenkomplexes wären! 

248 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

Frage ist keine sexualpolitische im strengen 
Sinne des Wortes, sie betrifft nicht die Re- 
gelung des Sexualbedürfnisses, sondern nur die 
der Volksvermehrung, wozu freilich der Ge- 
schlechtsakt gehört. Aber sonst hat sie mit dem 
wirklichen Geschlechtsleben in seinem sozialen 
und biologischen Sinne nichts zu tun. Die Mas- 
sen der Bevölkerung interessieren sich auch 
nicht im mindesten für die Fragen der Bevöl- 
kerungspolitik, weil sie ihnen völlig egal sind. 
Und der Abtreibungsparagraph interessiert nicht 
aus bevölkerungspolitischen, sondern einfach 
aus Gründen der persönlichen Not, die aus ihm 
quillt. Soweit der Abtreibungsparagraph Not, 
Tod und Kummer bereitet, ist er eine Frage der 
allgemeinen Sozialpolitik. Sexualpolitisch wird 
die Frage der Abtreibung erst und nur dann, 
wenn ganz klar zum Ausdruck kommt, dass die 
Menschen den Paragraphen übertreten, weil sie 
geschlechtlich verkehren müssen, auch wenn sie 
keine Kinder zeugen. Das fiel bisher völlig unter 
den Tisch und ist doch seinem Gefühlsgehalt 
nach und vom Standpunkt der Massenpropagan- 
da der wichtigste Punkt der Frage. Wenn es 
heute einem reaktionären Sozialpolitiker einfal- 
len sollte, den Massen zu sagen: „Ihr beklagt 
Euch, dass der Abtreibungsparagraph soviel 
Opfer an Gesundheit und Menschenleben fordert, 
ja, ihr müsst doch nicht geschlechtlich verkeh- 
ren", dann wäre man mit seinem bisherigen 
Latein, das nur die Bevölkerungspolitik berück- 
sichtigte, zu Ende. Die Frage hat nur Sinn, 
wenn man klar und offen für die Notwendigkeit 
des befriedigenden Geschlechtsverkehrs eintritt. 
Den Frauen und Männern aller Schichten, wie 

249 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

sie heute sind, ginge die Betonung ihrer Bedürf- 
nisse, die sie unausgesetzt beschäftigen, viel 
naher als die Aufzählung der Toten, die der 
Paragraph fordert. Das erste wendet sich an die 
personlichsten Interessen, das zweite erfordert 
bereits einen gewissen Grad von sozialem Ge- 
wissen und Mitgefühl, das wir beim bürgerli- 
chen Menschen nicht immer voraussetzen dür- 
fen So wie man auf dem Gebiete der Nahrungs- 
beschaffung das persönliche Bedürfnis und nicht 
weiter abliegende soziale oder politische Tat- 
bestande propagandistisch verwertet, so ist das 
auch für das sexualpolitische Gebiet selbstver- 
ständlich. Die Frage ist also eine Masscnfrage, 
eine erstrangige Frage des gesellschaftlichen 
Lebens. 

( Ernster ist der Einwand, der von psychoanaly- 
tischer Seite kommen könnte. Der Fachanalyti- 
ker wird sagen, es sei völlig utopisch, mit dem 
sexuellen Unglück der Menschen ebenso Politik 
machen zu wollen wie mit der materiellen Aus 
beutung, denn es brauche in der Einzelbehand- 
lung Monate und Jahre mühseliger Arbeit um 
die sexuelle Bedürftigkeit zum lewusstsein Tu 
bringen, die moralischen Hemmungen wären 
ebenso tief verankert wie das sexuelle Verlan- 
gen und hätten meist im Bewusstsein die Ober- 
hand. Wie könne man es unternehmen die 
Sexualverdrängung der Massen zu überwinden 
wenn kein der Einzelanalyse entsprechendes 
Mittel zur Verfügung steht. Dieser Einwand ist 
ernst zu nehmen und schwer zu erledigen. Hätte 
ich mich durch derartige Einwände im Beginne 
abhalten lassen die sexualpolitische Arbeit prak- 
"scn aufzunehmen und Erfahrungen zu sam- 



' 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

mein, dann hätte ich denen zustimmen müssen 
die die Sexualpolitik als eine individualistische 
Frage beiseiteschieben und auf einen zweiten 
Jesus warten, der sie lösen soll. Von sehr 
nahestehender Seite wurde mir einmal sogar ein- 

fi e ^!?. , *• meine Versuch e würden nur eine ober- 
flächliche Aufklärung bedeuten, die die tiefen 
sexualverdrängenden Kräfte übersähe. Wenn ein 
gut Orientierter einen derartigen Einwand 
machen konnte, dann scheint die Schwierigkeit 
genauer Erörterung wert. Ich hätte im Beginne 
meiner Arbeit auch keine Antwort auf diese 
Fragen gewusst. Die Praxis jedoch gab sie. 

Zunächst ist festzuhalten, dass wir in der 
sexualpolitischen Arbeit eine andere Aufgabe vor 
uns haben als in der individuellen analytischen 
Behandlung. Hier haben wir Verdrängungen zu 
beseitigen und die psychische Gesundheit her- 
zustellen. Das ist nicht die Aufgabe der Sexual- 
politik, die einzig den Widerspruch und das 
Leiden im bürgerlichen Menschen bewusst zu 
machen hat. Dass man moralisch ist, weiss man ; 
dass man eine Sexualität hat, die befriedigt 
werden muss, ist entweder nicht bewusst oder 
aoer das Wissen davon ist moralisch derart ge- 
bremst, dass es sich nicht weiter auswirkt. Der 
Analytiker könnte nun wieder einwenden, dass 
ja auch zur Bewusstmachung der sexuellen An- 
sprüche psychoanalytische individuelle Auf- 
losungsarbeit gehört. Die Praxis antwortet dar- 
auf: Wenn ich mit einer kleinbürgerlichen oder 
christlichen Frau in meiner Sprechstunde über 
ihre sexuellen Bedürfnisse sprechen werde, wird 
sie mir ihren ganzen moralischen Apparat ent- 
gegenstellen, ich werde nicht durchdringen und 

251 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

ihr keine Überzeugung beibringen. Wenn aber 
die gleiche Frau einer Afassenatmosphäre aus- 
gesetzt ist, etwa einer sexualpolitischen Ver- 
sammlung beiwohnt, in der offen und klar über 
die sexuellen Bedürfnisse zunächst medizinisch, 
dann auch politisch gesprochen wird, so fühlt 
sie sich nicht allein, merkt sie, dass alle anderen 
ebenso verbotene Dinge anhören; ihrem indivi- 
duellen Überich bzw. ihrer moralischen Instanz 
wird eine kollektive Atmosphäre der Sexual- 
bejahung entgegengesetzt, eine neue Moral, die 
deshalb ihre Sexualablehnung paralysieren 
(nicht aufheben !) kann, weil sie selbst sicher im 
geheimen ähnliche Gedanken und Wünsche hat, 
weil sie selbst ihr verlorenes Lebensglück in 
geheimen Gedanken betrauert oder sich nach 
sexuellem Glück sehnt. Durch die Massensitua- 
tion wird der sexuelle Anspruch gestärkt, er 
erscheint sozial vollwertig, ja bei richtiger Auf- 
rollung der Frage der Forderung der Askese 
und Entsagung weit überlegen, menschlicher, 
persönlichkeitsnäher, von selbst aufs tiefste 
bejaht. Es geht also nicht darum zu helfen, son- 
dern Unterdrücktheit bewusst zu machen! den 
Kampf zwischen Sexualität und Moral ins Licht 
des Bewusstseins zu rücken, ihn unter dem Druc- 
ke einer Massenideologie zum Auflodern zu 
bringen und in politische Aktion zu überführen. 
Man könnte nun wieder sagen, dieser Versuch 
sei teuflisch, denn man stürze dadurch die Men- 
schen in schwere Nöte, mache sie erst richtig 
krank, ohne ihnen helfen zu können. Wir den- 
ken dabei an den prächtigen Ausspruch Pallen- 
bergs in „Der brave Sünder": „Ein armes Luder 
^t der Mensch; er weiss es nur nicht. Wüsste 
252 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

er es, was wäre er für ein armes Luder!" Die 
Antwort muss lauten: Das Kapital und seine 
Kirche sind unendlich teuflischer. Im übrigen 
gilt der gleiche Einwand im Grunde auch für 
die Not des Hungers. Der indische Kuli, der un- 
bewusst, sein Schicksal wie selbstverständlich 
gottergeben tragend, dem Kapital dient, leidet 
innerlich weniger als derjenige, der um die 
grauenhafte Ordnung der Dinge weiss, der also 
klassenbewusst sich gegen die Sklavenarbeit 
empört. Wer würde fordern, dass man aus Grün- 
den der Menschlichkeit dem Kuli die Wahrheit 
über sein Leiden vorenthalten soll? Nur der 
Kirchenvertreter, sein kapitalistischer Auftrag- 
geber und der chinesische Professor für soziale 
Hygiene. Diese „Menschlichkeit" ist Verewigung 
der Unmenschlichkeit und ihre Verhüllung 
gleichzeitig. Unsere „Unmenschlichkeit" ist der 
Auftakt zum Kampfe für das, worüber die Guten 
und Gerechten soviel schwätzen, um sich im Fal- 
le einer faschistischen Reaktion sofort gleich- 
schalten zu lassen. Wir geben also zu : Die wirk- 
liche, konsequente sexualpolitische Arbeit macht 
stummes Leiden laut, schafft neue und ver- 
schärft vorhandene Widersprüche, bringt die 
Menschen in die Lage, ihre Situation nicht mehr 
ertragen zu können. Sie schafft aber gleichzeitig 
eine Abfuhr: die Möglichkeit des politischen 
Kampfes gegen die gesellschaftlichen Ursachen 
des Leidens. Es ist richtig, die sexualpolitische 
Arbeit greift an das heikelste, erregendste, per- 
sönlichste Gebiet des menschlichen Lebens. Tut 
dies nicht die mystische Verseuchung der Mas- 
sen auch? Entscheidend ist doch, welchem Zweck 
das eine und das andere dient. Wer einmal in 

253 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

sexualpolitischen Versammlungen die brennen- 
den Augen und Gesichter gesehen, wer die hun- 
derte Fragen über allerpersönlichstes gehört hat 

^1 >f T°u ten -- mUSSte> der hat auch die un- 
erschütterliche Überzeugung gewonnen da«« 

hxer gesellschaftliches D^amit^egraben Hegt 

vtrÄ WClt dGr SChier Unbe ^ reif * aren SclS: 
Vernichtung sprengen helfen kann. Allerdings, 

wenn diese Arbeit von Revolutionären der Art 
geleistet werden sollte, die in der Beteuerung 
und Vertretung der Sittlichkeit mit der Kirche 
wetteifern, die eine sexuelle Fragebeantwortung 
als der Erhabenheit der revolutionären Ideologie 
unwürdig erachten, die die kindliche Onanie als 
bürgerliche Erfindung abtun, wie manche Pio- 
nierleiter es taten, kurz, die selbst in einer wich- 
tigen Ecke ihres Seins trotz Leninismus und 
Marxismus gut kleinbürgerlich moralisch sind 
dann wäre leicht der Nachweis erbracht, dass 
meine Erfahrungen nicht stimmen könnten 

denn die Masse würde sofort sexualablehnend 
reagieren. cna 

Wir müssen noch eine Weile bei der Be 
sprechung der Rolle des moralischen Widerstan" 
des verharren, dem wir in unserer Arbeit begeg- 
nen. Ich sagte, dass die individuellen morali- 
schen Hemmungen, die sich heute im Gegensatz 
zu den sexuellen Ansprüchen auf die gesamte 
sexualverneinende Atmosphäre der bürgerlichen 
Gesellschaft stützen, durch Schaffung einer ent 
gegensetzten sexualbejahenden Ideologie soweit 
ausser Wirkung gesetzt werden können, dass die 
Menschen zur Aufnahme des sexualpolitischen 
n^ g ^ amms des Kom munismus fähig werden 
und dadurch dem Einfluss der Kirche und der 
254 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

reaktionären Mächte entrückt werden können. 
Es ist klar, dass eine derartige Atmosphäre der 
Sexualbejahung nur von einer mächtigen inter- 
nationalen sexualpolitischen Organisation ge- 
schaffen werden kann. Es hatte bisher Schwie- 
rigkeiten, die Führung der kommunistischen 
Parteien zu überzeugen, dass dies eine ihrer 
Hauptaufgaben wäre. 

Bisher nannten wir nur die stillen und stum- 
men Bedürfnisse der Massenindividuen, auf die 
wir uns stützen können. Das würde nicht ge- 
nügen. Um die Jahrhundertwende bis zum Krie- 
ge waren diese Bedürfnisse und ihre Unter- 
drückung ebenfalls vorhanden, trotzdem hätte 
damals eine sexualpolitische Bewegung kaum 
Aussicht auf Erfolg gehabt. Seither sind einige 
objektive, gesellschaftliche Voraussetzungen für 
die sexualpolitische Arbeit entstanden, die man 
genau kennen muss, wenn man richtig ansetzen 
will. Schon dass so viele sexualpolitische Ver- 
bände verschiedener Form und Richtung in 
Deutschland entstanden, weist darauf hin, dass 
sich im gesellschaftlichen Prozess eine neue 
Kampfesart vorbereitet. Eine der wichtigsten 
objektiven Voraussetzungen der Sexualpolitik 
ist, dass durch die Monopolisierung und Ver- 
trustung des Kapitals, durch die Schaffung von 
ungeheueren Grossbetrieben und mit ihnen von 
Millionenarmeen an Angestellten und Beamten 
die Gründpfeiler der moralischen antisexuellen 
Atmosphäre, der Kleinbetrieb und die Familie, 
erschüttert wurden. Die in die Betriebe streben- 
den Frauen und Mädchen entwickelten freiere 
Auffassungen über das Geschlechtsleben, als 
ihnen das Elternhaus zugestand. War das in kol- 

255 






Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

lektiver Weise arbeitende Proletariat von jeher 
der Sexualbejahung zugänglicher, so begann der 
moraliche Zersetzungsprozess mit der Monopo- 
lisierung des Kapitals auch im Kleinbürgertum 
um sich zu greifen. Wer die heutige kleinbür- 
gerliche Jugend mit der von 1910 vergleicht, 
wird ohne weiteres die Feststellung machen 
können, dass heute die Kluft zwischen realem 
Sexualleben und noch herrschender gesellschaft- 
licher Ideologie breit und unüberbrückbar ge- 
worden ist. Das Ideal des jungfräulichen Mäd- 
chens ist zu einer Schande geworden, gewiss 
das des jungfräulichen Mannes. Schon begannen 
auch im Kleinbürgertum offenere Stellungnah- 
men zur ehelichen Treue Platz zu greifen. Die 
grossindustrielle Produktionsweise ermöglichte 
den Widersprüchen der bürgerlichen Sexual- 
ökonomie, an die Oberfläche zu kommen. An ein 
Zurück zu dem alten Gleichklang von realem 
Leben und Ideologie, wie er noch vor der Jahr- 
hundertwende das Kleinbürgertum im grossen 
und ganzen beherrschte, kann keine Rede sein 
Als Analytiker gewinnt man tiefen Einblick in 
die Geheimnisse des kleinbürgerlichen Daseins 
und kann eine restlose Zersetzung der noch im- 
mer laut vertretenen moralischen Lebensformen 
feststellen. Die Kollektivisierung des jugend- 
lichen Lebens hat nicht nur die einschränkende 
Macht des Elternhauses untergraben, wenn auch 
nicht beseitigt, sondern auch in der heutigen 
Jugend eine Situation geschaffen, die nach Auf- 
nahme einer Weltanschauung und politischen 
Lehre vom Kampf um sexuelle Gesundheit, um 
sexuelle Bewusstheit und Freiheit lechzt. Um 
die Jahrhundertwende wären christliche Frauen, 
256 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

die geburtenreglerischen Verbänden beitreten, 
undenkbar gewesen; heute wird es immer mehr 
zur Regel. Dieser Prozess wurde durch die 
Machtergreifung der Nationalsozialisten in 
Deutschland nicht unterbrochen, sondern nur ins 
Unterirdische verwiesen. Fraglich bleibt nur, 
wie sich der Prozess weiter gestalten wird, wenn 
die faschistische Barbarei länger dauert, als wir 
ohnedies befürchten. 

Ein weiterer objektiver Umstand, der mit dem 
früheren eng zusammenhängt, ist die rasche 
Zunahme der neurotischen Erkrankungen als 
Ausdruck gestörter Sexualökonomie und Stei- 
gerung des Widerspruchs zwischen realen sexu- 
alen Anforderungen und alter moralischer Hem- 
mung und kindlicher Erziehungssituation. Die 
Zunahme der Neurosen bedeutet Anwachsen der 
Bereitschaft, auch die sexuelle Verursachung 
der Neurosen zur Kenntnis zu nehmen. 

Den praktisch sexualpolitisch schwerwiegend- 
sten Tatbestand ergibt die Ohnmacht der politi- 
schen Reaktion gegen die sexualpolitische Ar- 
beit. Es ist bekannt, dass in den Volksbüchereien 
die sexuelle Schundliteratur die meistgelesene 
ist ein Masstab für die Bedeutung der Sexual- 
politik, wenn es ihr gelingt, dieses ungeheuere 
Interesse revolutionär zu lenken. Die National- 
sozialisten können auf wirtschaftspolitischem 
Gebiet die ungeschulten Massen lange Zeit täu- 
schen, indem sie vorgeben, das Recht der Arbeit 
und des Arbeiters zu vertreten. Anders auf 
sexualpolitischem Gebiet. Niemals kann es der 
politischen Reaktion gelingen, der revolutionä- 
ren Sexualpolitik ein eigenes sexualpolitisches 
Programm entgegenzusetzen, das anders wäre, 

17 257 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

als restlose Unterdrückung und Verneinung des 
Geschlechtslebens, was unverschleiert, laut als 
Programm vertreten die Massen sofort abstossen 
wurde, mit Ausnahme eines politisch bedeu- 
tungslosen Kreises alter Frauen und hoffnungs- 
loser, schwächlicher Spiesser. Auf die heutige 
Jugend kommt es an! Und die, das ist gewiss, 
ist einer bewusst sexualablehnenden Ideologie 
nicht mehr zugänglich. Das ist unsere Stärke. 
Wer zum Beispiel bedenkt, was eine weitere 
Erschwerung des Vertriebs von Schutzmitteln, 
wie sie kürzlich erfolgte, in einem Deutschland 
1933 bedeutet, der erkennt, dass hier die revolu- 
tionäre Arbeit zunächst weit leichteres Feld 
hätte als auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Der 
durchschnittliche, politisch ungeschulte Werk- 
tätige ist schwer dazu zu bringen, besonders 
wenn er unter reaktionärem Gefahrendruck 
steht, eine wirtschaftspolitische Broschüre zu 
lesen, während eine Sexualbroschüre sofort sein 
Interesse wecken wird. Das gilt ganz besonders 
für den kleinbürgerlichen Angestellten und den 
verkleinbürgerlichten Arbeiter. In Deutschland 
gelang es den roten Verbänden mit der Sexual- 
pohtik in Betriebe einzudringen, die für das 
Thema der roten Gewerkschaft völlig verschlos 
sen waren, und zwar jahrelang. Es ist klar und 
wurde auch in der Praxis selbstverständlich 
geübt, dass die sexualpolitische Arbeit schliess- 
lich in die allgemeinen gesellschaftlichen Fra- 
gen des Klassenkampfes einmünden muss. Wir 
müssen aber ein ungetrübtes Auge für Tatbe- 
stände haben wie etwa den, dass nationalsoziali- 
stische Arbeiter und Angestellte, ja auch Stu- 
denten, der revolutionären Bejahung des Ge- 
258 






Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

schlechtslebens restlos zustimmen und sich da- 
durch in Widerspruch zu ihrer Führung setzen. 
Und was könnte diese Führung dagegen tun, 
wenn es gelänge, diesen Widerspruch ganz be- 
wusst zu machen? Nichts als Terror üben. Sie 
wurden in gleichem Masse an Einfluss verlieren. 
Wir betonen noch einmal, dass die objektive 
Lockerung der moralischen Fesseln der Sexuali- 
tät unter keinen Umständen wieder rückgängig 
zu machen ist und unsere stärkste Kraft dar- 
stellt. Es gibt nur die Möglichkeit, wenn die 
revolutionäre Arbeit dieses Gebiet nicht erfasst, 
dass die Jugend eingeschränkt im geheimen 
weiter so lebt, wie bisher, ohne sich der Ur- 
sachen und Folgen dieses Lebens bewusst zu 
sein. Die politische Reaktion hätte dagegen bei 
konsequenter sexualpolitischer Arbeit keine 
Antwort, keine Gegenideologie. Ihre asketische 
Lehre ist nur so lange haltbar, als die Sexual- 
bejahung in den Massen geheim, zersplittert, 

nicht kollektiv erfasst und ihr entgegengesetzt 
ist. 

Der deutsche Faschismus versucht es derzeit 
mit aller Macht, sich in den psychischen Struk- 
turen zu verankern und legt daher das grösste 
Oewicht auf die Erfassung der Jugend und der 
Kinder. Er hat keine anderen Mittel zur Ver- 
fugung, als Weckung und Pflege der Hörigkeit 
zur Autorität, deren psychologische Grund- 
voraussetzung die asketische, sexualverneinende 
Erziehung ist. Die natürlichen sexuellen Stre- 
bungen zum anderen Geschlecht, die von Kind- 
heit an zur Befriedigung drängen, werden im 
wesentlichen durch verstellte, abgelenkte homo- 
sexuelle und sadistische Gefühle, teils auch 

259 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

durch asketische Neigungen ersetzt. Das gilt 
etwa für den sogenannten Kameradschaftsgeist 
in den Arbeitsdienstlagern wie für die Einpflan- 
zung des sogenannten Geistes von Zucht und 
Gehorsam. Sie haben die Aufgabe, jede Brutali- 
tät und am Ende die Entfesselung aller derart 
erzeugten und gebremsten brutalen Regungen in 
einem antisowjetistischen Kriege von denen 
abzulenken, gegen die sich die durch die strenge 
Erziehung in den Arbeitsdienstlagern erzeugten 
Hassgefühle ursprünglich richteten. Die Fassade 
heisst Kameradschaft, Ehre, freiwillige Diszi- 
plin, die Kulisse birgt geheime Auflehnung, 
Gedrücktheit bis zur Rebellion wegen der Be- 
hinderung jedes persönlichen Lebens, im be- 
sonderen des sexuellen. Eine konsequente Sexu- 
alpolitik muss die grosse sexuelle Entbehrung 
in den Arbeitsdienstlagern ins grellste Licht 
rücken und wird dabei auf den lebhaftesten Wi- 
derhall bei den jungen Menschen rechnen kön- 
nen. Das Resultat beim faschistischen Führer 
kann zunächst nichst anderes sein als Verblüf 
fung und Ratlosigkeit. Es ist unschwer einzu- 
sehen, dass einem durchschnittlichen Jungen die 
Bewusstheit seiner sexuellen Entbehrung viel 
leichter nahezubringen ist, als die, dass sein Ar- 
beitsdienst letzten Endes den Kapitalisten zu- 
gute kommt. Und die Praxis der Jugendarbeit 
ergibt entgegen den Behauptungen solcher Ju- 
gendführer, die es nie praktisch versuchten, dass 
der durchschnittliche Jugendliche, inbesondere 
der weibliche, seine Klassensituation viel ra- 
scher, affektiver, bereitwilliger erfasst, wenn 
roan sie ihm auf dem Wege der Bewusstmachung 
seiner sexuellen Unterdrückung begreiflich 
260 






Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

macht. Es kommt nur darauf an, die Sexualfrage 
politisch zu fassen und zur allgemeinen sozialen 
Situation hinzuführen. Für das soeben behaupte- 
te lassen sich tausendfach Beweise anführen. 
Durch öde Einwände soll man sich nicht ab- 
schrecken, sondern einzig von der Praxis leiten 
lassen. 

Welche Antwort hätte die politische Reaktion 
auf eine Anfrage deutscher Jugendlicher etwa 
folgenden Inhalts? 

„Die Einordnung der deutschen Jugend in den Ar- 
beitsdienst hat in ihr privates und geschlechtliches 
Leben mächtig eingegriffen. Dringende Fragen harren 
der Klärung und Lösung da sich überall schwere, be- 
drohliche Misstände ergeben haben. Erschwert wird die 
Lage durch die allgemeine Scheu und Ängstlichkeit 
der Jugendlichen, ihre persönlichen, brennenden Fra- 
gen zur Diskussion zu stellen, wozu hinzukommt, dass 
die Leitung der Lager jede Unterredung über solche 
Fragen verbietet. Es geht aber um die körperliche und 
seeliche Gesundheit der Jugendlichen!!! 



Wie ist das Geschlechtsleben der Jugend in den 
Arbeitsdienst-Lagern? 

D *f A ^ejtsdienstjugend ist durchschnittlich im Al- 
ter der blühenden Sexualität, die meisten von ihnen 
waren vorher gewohnt, in einem Liebesverhältnis mit 
einer Freundin ihr natürliches Liebesbedürfnis zu be- 
friedigen. Das Geschlechtsleben dieser Jugend war 
zwar schon vorher behindert durch Fehlen geeigneter 
Möglichkeiten zu gesundem Liebesleben (Wohnungs- 
not der Jugend), durch Mangel an Geldmitteln, sich 
die Empfängnisverhütungsmittel zu beschaffen, durch 
die Feindschaft der staatlichen Autorität und reak- 
tionären Kreise gegen ein gesundes Liebesleben der 
Jugend, wie es ihren Bedürfnissen entsprechen würde. 
Durch den Arbeitsdienst hat sich diese schlimme Lage 
noch verschlechtert! 

Keine Möglichkeit mit Mädchen zusammenzukom- 

261 









Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

men, die alten Liebesbeziehungen zu erhalten und zu 
pflegen. 

Zwang zu Enthaltsamkeit oder zur Selbstbefriedi- 
gung. 

Dadurch Verrohung und Verlotterung des erotischen 
Lebens, Überwuchern der sexuellen Zote und schmut- 
ziger sexueller Witze, Züchtung quälender, ungesun- 
der zersetzender und den Willen und die Kraft läh- 
mender Phantasievorstellungen (Vergewaltigung, lü- 
sterne Gier, Schlagephantasien). 

Nächtliche unfreiwillige Samenergüsse, die die Ge- 
sundheit untergraben und keine Befriedigung geben. 

Entwicklung homosexueller Neigungen und Bezie- 
hungen zwischen Jungs, die sonst nie an derartiges 
dachten; schwere Belästigung durch homosexuelle Ka- 
meraden. 

Zunahme von Nervosität, Reizbarkeit, körperlichen 
Beschwerden und seelichen Störungen verschiedener 
Art. 

Drohende Folgen für die Zukunft. 

Jeder Jugendliche gerade in dem Alter zwischen 
etwa 17 und 25 Jahren, der kein befriedigendes Ge- 
schlechtsleben führt, ist von einer künftigen Potenz- 
störung und schwerer seelischer Verstimmung be- 
droht, die auch immer eine Störung der Arbeitsfähig 
keit mit sich bringen. Wenn ein Organ oder eine na 
turhche Funktion lange Zeit nicht betätigt werden" 
dann versagen sie später den Dienst. Nervöse und see- 
lische Erkrankungen. Perversionen (Geschlechtsverir- 
rungen) sind meist die Folgen. 

Wie stellen wir uns zu den Massnahmen und Verord- 
nungen unserer Führung in diesen Fragen? 

Die Führung hat bisher in ganz allgemeinen Aus- 
drücken die „sittliche Erstarkung der Jugend" gefor- 
dert. Uns ist nicht klar geworden, was damit gemeint 
ist. Die deutsche Jugend hatte sich im Laufe der Jah- 
re unter schweren Kämpfen mit dem Elternhaus und 
den Systembonzen ihr Recht auf ein gesundes Ge- 
schlechtsleben allmählich zu erobern begonnen, ohne 
"•eihch unter den gesellschaftlichen Bedingungen zum 
=*we zu kommen. Aber ihre Idee war in breiten Krei- 
262 






Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

sen klar: Die Jugend hat gegen sexuelles Muckertum 
und sexuelle Schweinerei und Heuchelei, die Folgen 
der sexuellen Unterjochung der Jugend, auf das 
schärfste zu kämpfen. Ihre Idee war, dass Jungs und 
Mädels in guter geistiger und sexueller Kamerad- 
schaft zu leben haben; ihre Idee war, dass die Gesell- 
schaft verpflichtet ist, ihnen ihr Leben zu ordnen und 
zu erleichtern. Wie stellt sich das neue Reich dazu? 

Seine bisherigen Verordnungen widersprechen den 
Anschauungen der Jugend auf das schärfste. Die Her- 
beischaffung von empfängnisverhütenden Mitteln ist 
durch Verbot des offenen Vertriebs unmöglich ge- 
worden. Die Massnahme der Hamburger Polizei gegen 
die Wassersportler in sittlicher Hinsicht, die Drohung 
mit Einlieferung ins Konzentrationslager für „Verlet- 
zung der Sitte und des Anstands" bedroht unser Recht. 
Ist es Verletzung des Anstandes, wenn ein Junge im 
Zeltlager mit seiner Freundin schläft? 

Wir fragen die Reichsleitung der deutschen Jugend: 
Wie soll die Jugend geschlechtlich leben? 

Es gibt nur vier Möglichkeiten: 

1. Enthaltsamkeit; soll die Jugend enthaltsam leben, 
das heisst sich jeder Art geschlechtlicher Betäti- 
gung bis zur Ehe enthalten? 

2. Selbstbefriedigung ; soll die Jugend sich selbst be- 
friedigen? 

3. Homosexuelle Befriedigung; soll die deutsche Ju- 
gend sich gleichgeschlechtlich betätigen, wenn ja, 
in welcher Form? Durch wechselseitige Onanie 
oder durch Verkehr im After? 

4. Natürliches Liebesleben und Geschlechtsverkehr 
zwischen Jungs und Mädels; Soll die deutsche Ju- 
gend das natürliche Geschlechtsleben bejahen und 
fordern? Wenn ja: 

Wo soll sich das Liebesleben abspielen (Woh- 
nungsfrage) ? 

Wie und womit soll die Empfängnis verhütet wer- 
den? 

Wann soll sich dieses Liebesleben abspielen? 
Darf der Jugendliche das gleiche tun wie der Füh- 
rer?" 

Ähnliche Fragen betreffen die Kinderarbeit. 
Es ist ungewohnt, manchem unbegreifbar, aber 

263 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

als Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: 
Die revolutionäre Kinderarbeit kann im wesent- 
lichen nur die sexualpolitische sein. Man meiste- 
re sein Erstaunen und höre geduldig weiter. 
Warum sind Kinder in der Vorpubertät am be- 
sten und leichtesten mit Sexualfragen zu er- 
fassen? 

1. Das Kindesalter ist in allen Schichten, auch 
beim Proletariat trotz Hunger und Entbehrung, 
mehr als spätere Altersstufen von sexuellen In- 
teressen erfüllt. Dazu kommt, dass Hungern bis 
zur körperlichen Verwüstung nur einen — heute 
sehr grossen — Teil der Kinder im Kapitalismus 
trifft, die sexuelle Unterdrückung betrifft aber 
ausnahmslos jedes Kind. Dadurch erweitert sich 
die politische Angriffsfläche ganz ungeheuer. 

2. Die üblichen Methoden der proletarischen 
Bewegung, die Kinder zu organisieren, bedienen 
sich der gleichen Methoden wie die bürgerliche 
Kinderarbeit: Marschieren, Lieder singen, Uni- 
formen, Gruppenspiele etc. Das Kind unter- 
scheidet, wenn es nicht bereits äusserst klassen- 
bewussten Eltern entstammt, was ja nur eine 
Minderheit betrifft, nicht zwischen den Inhal- 
ten der reaktionären und denen der revolutio- 
nären Propagandaformen. Es bedeutet keine 
Schmähung des Klassenbewusstseins, sondern 
nur Erfüllung des ersten Gebots proletarischer 
Politik, nämlich die Wirklichkeit nicht zu ver- 
wischen,^ wenn wir behaupten, dass Kinder und 
Jugendliche morgen ebenso freudig unter na- 
tionalsozialistischen Klängen wie heute unter 
proletarischen marschieren, wieder der geringe 
Prozentsatz der bereits klassenbewussten Kinder 
ausgenommen. Zudem kann heute im Kapitalis- 
264 






Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

mus die politische Reaktion die Formen der 
gruppenmässigen Propaganda bei den Kindern 
ungleich besser gestalten als die Arbeiterbewe- 
gung. Diese ist somit immer im Nachteil, was 
sich in Deutschland darin ausdrückte, dass die 
Pionierbewegung überall im Vergleich zur bür- 
gerlichen Kinderbewegung äusserst schwach 
war. 

3. Wenn die bürgerliche Kinderbewegung 
alles besser kann, eines kann sie nicht, unter 
keinen Umständen: Nämlich den Kindern sexu- 
elles Wissen, sexuelle Klarheit bringen, ihnen 
die sexuelle Unterdrücktheit bewusst machen. 
Das kann nur das Proletariat, erstens weil es 
kein Interesse an der sexuellen Unterdrückung 
der Kinder hat, vielmehr gerade das gegenteili- 
ge, zweitens weil das proletarische Lager von 
jeher der Anwalt der konsequenten sexuellen 
Aufklärung der Kinder war. Diese mächtige 
Waffe blieb bisher ungenützt, ja man begegnete 
in Kreisen der Pionierführung in Deutschland 
erheblichem Widerstand, die übliche individu- 
elle Sexualaufklärung in eine Massenmassnahme 
umzubauen. Tragikomischerweise beriefen sich 
diese Gegner der sexualpolitischen Arbeit un- 
ter Kindern bei der Weigerung, eine individu- 
elle Aktion in eine Massenaktion umzuwandeln, 
auf Marx und Lenin. Freilich von dieser 
Sexualpolitik steht weder bei Marx noch bei 
Lenin etwas drin. Demgegenüber steht die Tat- 
sache, dass die Kinder den Machenschaften der 
politischen Reaktion auch im Proletariat mas- 
senhaft verfallen müssen, weil die Möglichkeit 
einer massenmässigen Kinderorganisation im 
Faschismus nicht besteht und weil Kinder in 

265 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

der Vorpubertät nur ausnahmsweise wirtschafts- 
politischer Propaganda Interesse entgegenbrin- 
gen. Dagegen ergeben sich trotz grosser Schwie- 
rigkeiten ungeahnte Möglichkeiten, Kinderar- 
beit auf sexualpolitischer Basis zu entfalten, 
weil wir hier bestimmt mit dem brennenden In- 
teresse der Kinder rechnen können. Wenn ein- 
mal die Kinder und Jugendlichen massenweise 
mit ihren sexuellen Interessen erfasst wären, 
dann wäre der reaktionären Verseuchung eine 
mächtige Gegenkraft entgegengestellt — und 
die politische Reaktion wäre machtlos. 

Den Zweiflern, Widerstrebenden und sittlich 
um die „Reinheit" der Klassenkämpfe Besorgten 
können wir hier nur zwei Beispiele aus prakti- 
chem Erleben anstelle von vielen entgegenhalten: 
Erstens: Die Kirche ist nicht so wählerisch. 
Ein 15-jähriger Junge, der aus einer christlichen 
Organisation in den kommunistischen Jugendver- 
band übergetreten war, berichtete, dass in seiner 
früheren Organisation allwöchentlich der Prie- 
ster die Jungen einzeln vorzunehmen und nach 
ihrem sexuellen Verhalten auszufragen pflegte ; 
regelmässig wurde gefragt, ob sie onaniert hät- 
ten, was natürlich immer der Fall war und 
schuldbewusst zugegeben wurde. „Das ist eine 
grosse Sünde, mein Junge ; aber Du kannst Dich 
ihrer entledigen, wenn Du für die Kirche fleis- 
sig arbeitest und diese Flugblätter morgen ver- 
teilst." So sieht unter anderem die sexualpoliti- 
sche Praxis der politischen Reaktion aus. Wir 
aber sind verschämt, „rein", wollen „mit solchen 
Dingen" nichts zu tun haben. Und dann wun- 
dern wir uns, wenn die Kirche über dreissigmal 
soviel Jugendliche verfügt, wie wir, die wir von 
266 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

„jugendgemässer politischer Arbeit unter der 
Jugend" sprechen. 

Zweitens: Die sexualpolitische Arbeitsgemein- 
schaft in Berlin hatte einen ersten Anlauf unter- 
nommen, es mit der sexualpolitischen Kinder- 
arbeit zu versuchen, und zu diesem Zwecke eine 
Erzählung kollektiv zusamengestellt, „Das Krei- 
dedreieck, Verein zur Erforschung der Geheim- 
nisse der Erwachsenen*'. Diese Schrift wurde vor 
dem Druck zunächst mit Arbeiterfunktionären 
durchbesprochen. Es wurde beschlossen, die Bro- 
schüre in einer Fichte-Kindergruppe vorzulesen 
und die Reaktion der Kinder abzuwarten. Man 
hätte gewünscht, dass alle diejenigen, die bei der 
Nennung der proletarischen Sexualpolitik ver- 
ächtlich die Schulter zucken, wenn sie nicht mit 
allen Mitteln diese Arbeit behindern, anwesend 
gewesen wären. Zunächst waren, statt wie sonst 
etwa zwanzig, ungefähr siebzig Kinder anwe- 
send. Während nach den Berichten der Funktio- 
näre sonst nur teilweise Aufmerksamkeit 
herrschte, Ruhe schwer zu erzielen war, lausch- 
te diesmal alles gespannt, die Augen glühten, die 
Gesichter bildeten einen einzigen hellen Fleck 
im Saale. An manchen Stellen wurde die Vorle- 
sung mit heller Begeisterung unterbrochen. Am 
Schlüsse wurden die Kinder aufgefordert, ihre 
Wünsche und ihre Kritik vorzubringen. Viele 
meldeten sich. Und man musste sich vor diesen 
Kindern seiner Prüderie schämen. Die pädago- 
gischen Bearbeiter der Erzählung hatten be- 
schlossen, die Frage der Empfängnisverhütung 
nicht einzubeziehen, ebenso die der kindlichen 
Onanie wegzulassen. Prompt kamen Fragen: 
„Warum sagt Ihr nichts darüber, wie man die 

267 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

Erzeugung von Kindern verhütet?" „Das wissen 
wir ohnedies", rief ein Junge lachend dazwi- 
schen Was ist das, eine Nutte?" fragte ein drit- 
ter^ „davon war in der Erzählung nicht die Re- 
de. „Morgen gehen wir zu den Christlichen" 

Sachet dl g T- Crt ' "*? r ,?, den immer von «**« 

Buch? W^ m*** W1 f ' " Wann erscheint das 
Buch? Wieviel wird es kosten? Wird es so billig 

sein dass wir es kaufen und auch vertreiben kön- 
nen? Der erste vorgelesene Teil enthielt vor- 
wiegend sexuelle Aufklärung, politisch durch- 
setzt, die Arbeitergruppe hatte jedoch die Ab- 
sicht dem ersten Band einen zweiten anzufügen, 
der den Kindern von diesen Fragen ausgehend 
die Fragen der Ausbeutung und des Klassen- 
kampfes naher schildern sollte. Das wurde mit- 
geteilt. „Wann kommt der zweite Band ; wird er 
auch so lustig sein?" Wann hat je eine Kinder- 
gruppe derart stürmisch nach politischen Bro- 
schüren gefragt? Sollten wir daraus nicht ler- 
nen? Gewiss, wir müssen: Die Kinder müssen 
durch Bejahung ihrer sexuellen Interessen und 
Befriedigung ihrer Wissbegierde zu politischem 
Interesse erzogen werden; sie müssen das uner- 
schütterliche Gefühl bekommen, dass ihnen das 
die politische Reaktion nicht geben kann. Und 
man wird sie massenweise gewinnen, in allen 
Ländern gegen die kirchlichen Einflüsse immu- 
nisieren und — was das wichtigste ist — tief 
gefühlsmässig an die revolutionäre Bewegung ' 
binden. Doch zunächst stehen zwischen dieser 
Leistung und den Kindern nicht nur die politi- 
sche Reaktion, sondern auch die „Moralischen" 
im eigenen Lager. 

Ein weiteres wichtiges Gebiet der sexualpoli- 
268 r 



Einwände und die Praxis der Sexualpolitik 

tischen Arbeit ist die Klärung der sexuellen Si- 
tuation, die sich aus der Zurückdrängung der 
Frauen aus den Betrieben in die Hauswirtschaft 
in Deutschland neu ergibt. Man kann diese Ar- 
beit nur durch restlose Erfüllung des Begriffes 
der Freiheit der Frau mit den Inhalten der se- 
xuellen Freiheit leisten. Man muss wissen, dass 
vielen Frauen die materielle Abhängigkeit vom 
Manne in der Familie nicht an sich, sondern we- 
sentlich wegen der sexuellen Einschränkung, die 
mit ihr verbunden ist, lästig wird. Beweis dafür 
ist, dass solche Frauen, die ihre Sexualität zur 
glatten, anspruchslosen Verdrängung gebracht 
haben, diese wirtschaftliche Abhängigkeit nicht 
nur leicht und widerspruchslos ertragen, sondern 
sogar bejahen. Die Weckung der sexuellen 
Bewusstheit dieser Frauen, die nachdrücklichste 
Warnung vor den Folgen eines eingeschränkten 
sexuellen Lebens sind die wichtigsten Voraus- 
setzungen für die politische Fruchtbarmachung 
der materiellen Abhängigkeit vom Manne. Wenn 
die sexualpolitischen Organisationen diese Arbeit 
nicht leisten werden, dann wird die neuerliche 
Welle der Sexualunterdrückung der Frau im 
Faschismus ihr das Bewusstsein ihrer materiel- 
len Versklavung vermauern. In Deutschland und 
anderen hochindustriellen Ländern sind alle ob- 
jektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen für 
eine stürmische sexuelle Rebellion der Frauen 
und Jugendlichen gegeben. Mit einer unerbitt- 
lichen, konsequenten, vor nichts zurückschrec- 
kenden Sexualpolitik auf diesem Gebiet würde 
eine Frage aus der Welt verschwinden, die unse- 
re Freidenker und Politiker immer wieder be- 
schäftigt, ohne dass sie die Antwort wissen, 

269 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

nämlich die unvergleichlich höhere Bereitschaft 
der Frauen und Jugendlichen, sich der noHti 
sehen Reaktion zuzuwenden, Kein anderes Ge 
biet enthu 1t so deutlich die politische Funktion 

berufener^ T* f* ? inwand > der mir von 

Abseht u l der Lektüre dieses atzten 

Abschn itts gemacht wurde und dessen Widerle- 

ffcntÄ le ^ cht v 5 ällt - Er lautet: Es ist zwar 

2m3L f e b - reiten Massen von d en Ge- 

schlechtsfragen am intensivsten erfüllt sind, dass 

ihr Interesse dafür brennend ist; aber W 

d£. ^u^ n ? weiteres d er Schluss ziehen, 
uass sich dieses Interesse auch politisieren lässt 
im binne der sozialen Revolution, die soviel Ent- 
sagung und Opfer fordert? Werden nicht die 
sexualpohtisch erfassten Massen den Wechsel 
auf die sexuelle Freiheit sofort einlösen wollen 
nachdem man ihn ausgestellt hat? — Wir mii«' 
sen, je schwieriger die Arbeit ist, umso gründli" 
eher jeden Einwand anhören, überlegen und be 
antworten. Wir müssen uns davor hüten, unseren 
revolutionären Wunschphantasien zu verfallen" 
und etwas in der Wirklichkeit für durchführ 
bar zu halten, was nur „an sich" richtig ist über 
den Ausgang des Kampfes gegen den Hunger 
entscheidet nicht, dass man ihn brennend besei- 
tigen wi 1, sondern ob die objektiven Vorausset 
jungen dazu vorhanden sind. Lässt sich also das 

se„"Tl C \ nter A eSSe r d die Sexuelle N ot der Mas- 
gen Sf Ä f eb6n /° in P olitis£ he Aktion ge- 
gen das notbedingende gesellschaftliche Systfm 
Z70 



Der unpolitische Mensch 

überführen wie das grob materielle Interesse? 
Wir haben die praktischen Erfahrungen ange- 
führt und auch die theoretischen Überlegungen, 
die dafür sprechen, dass, was in einzelnen Grup- 
pen, in einzelnen Versammlungen gelingt, auch 
massenmässig möglich sein muss. Wir unterlies- 
sen es bisher nur, noch einige unerlässliche Vor- 
aussetzungen zu nennen. Zur fruchtbaren Durch- 
führung der Aufgabe, die Sexualpolitik dem 
Klassenkampfe einzuordnen, gehört erstens die 
rein politische Sammlung der Arbeiterbewegung 
überhaupt ; ohne diese Voraussetzung kann die 
sexualpolitische Arbeit zunächst nur eine vor- 
bereitende sein; ferner gehört unerlässlich dazu 
die Schaffung einer straffen internationalen se- 
xualpolitischen Organisation, die die reale 
Macht der Durchführung herstellt und sichert; 
drittens gehört unerlässlich dazu eine Reihe 
gründlichst geschulter Leiter der Bewegung. Im 
übrigen empfiehlt es sich nicht, im voraus jede 
Einzelfrage lösen zu wollen. Das würde verwir- 
ren und lähmen. Aus der Praxis ergibt sich die 
neue und detaillierte Praxis von selbst. Damit 
sollte diese Schrift nicht belastet werden. 



6. DER UNPOLITISCHE MENSCH 

Wir kommen damit endlich zur Frage des so- 
genannten unpolitischen Menschen. Hitler hat 
seine Macht nicht nur von vornherein mit bis 
dahin wesentlich weniger politisierten Massen 
begründet, sondern auch seinen letzten Schritt 
zum Siege im März 1933 durch Mobilisierung 
von nicht weniger als 5 Millionen bisheriger 

271 



•» 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

NichtWähler, also Unpolitischer, legal durchge- 
führt. Die Linksparteien hatten alle Anstrengun- 
gen unternommen, die indifferenten Massen zu 
gewinnen, ohne sich die Frage vorzulegen, was 
das ist „indifferent- oder unpolitisch sein". 

Wenn der Fabriks- und Grossgutsbesitzer poli- 
tisch klar, und zwar rechts steht, so ist das aus 
seinen unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen 
ohne weiteres zu begreifen. Bei ihm würde po- 
litische Linksorientiertheit seiner sozialen Situa- 
tion widersprechen und wäre daher nur psycho- 
logisch zu erklären, d. h. auf irrationale Motive 
zurückzuführen. Wenn der Industriearbeiter po- 
litisch links orientiert ist, so ist das ebenfalls 
rational durchaus konsequent, quillt es aus sei- 
ner ökonomischen und sozialen Position im Be- 
trieb. Wenn aber Arbeiter oder Angestellte oder 
Beamte politisch rechtsorientiert sind, so meist 
aus politischer Unklarheit, das heisst aus einem 
Unwissen über ihre soziale Position. Je unpoli- 
tischer ein Mensch aus der grossen Masse der 
Werktätigen ist, desto leichter wird er der Ideo- 
logie der politischen Reaktion zugänglich sein. 
Dieses Unpolitischsein ist nun nicht etwa, wie 
man glaubt, ein passiver psychischer Zustand, 
sondern ein höchst aktives Verhalten, eine Ab- 
wehr des politischen Bewusstseins. Die analy- 
tische Zerlegung dieser Abwehr des Politisch- 
seins- und Denkens ergibt eindeutige Ergebnis- 
se, die manche dunkle Frage des Verhaltens der 
breiten unpolitischen Schichten löst. Beim 
Durchschnitt der Intellektuellen, „die mit der 
Politik nichts zu tun haben wollen", lassen sich 
unmittelbare wirtschaftliche Interessen und 
Ängste um ihre von der Meinung der Grossbour- 
272 



Der unpolitische Mensch 

geoisie abhängig Existenz leicht nachweisen, de- 
nen sie die groteskesten Opfer an Wissen und 
Überzeugung bringen. Unter den Menschen, die 
im Produktionsprozess an irgendeiner Stelle ste- 
hen und trotzdem unpolitisch sind, lassen sich 
analytisch zwei grosse Gruppen unterscheiden. 
Bei den Vertretern der einen ist der Begriff der 
Politik unbewusst assoziiert mit der Vorstellung 
von Gewalt und leiblicher Gefahr, also mit einer 
schweren Angst, die sie verhindert, sich der 
Wirklichkeit entsprechend zu orientieren. Bei 
den anderen, die wohl die Mehrzahl umfassen, be- 
ruht das Unpolitischsein auf völligem Eingefan- 
gensein in persönlichen Konflikten und Sorgen, 
unter denen die sexuellen Sorgen die der Exi- 
stenz nicht zu politischer Konsequenz ausreifen 
lassen. Wenn eine jugendliche Angestellte, die 
wirtschaftlich genügend Grund zu politischem 
Bewusstsein hätte, unpolitisch ist, so in 99 von 
100 Fällen wegen der sogenannten „Liebesge- 
schichten", um ernster zu sprechen, wegen ihrer 
restlosen Befangenheit in ihren sexuellen Kon- 
flikten. Das gilt ganz in der gleichen Weise für 
die unpolitische Kleinbürgerfrau, die alle seeli- 
schen Kräfte aufbringen muss, um ihre sexuelle 
Situation so weit zu meistern, dass sie nicht rest- 
los zusammenklappt. Der Kommunismus mis- 
verstand bisher diese Situation und versuchte 
den unpolitischen Menschen dadurch zu politi- 
sieren, dass er ihm nur seine wirtschaftlichen In- 
teressen, die unerfüllt bleiben, zum Bewusstsein 
zu bringen suchte. Die Praxis lehrte, dass die 
Masse dieser Unpolitischen kaum zum Hinhören 
zu bringen ist, sich aber leicht den mystischen 
Phrasen eines Nationalsozialisten zuzuwenden 



18 



273 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

vermag, ohne dass dieser allzu viel über die wirt- 
schaftlichen Interessen spricht. Wie erklärt sich 
das? Daraus, dass die schweren sexuellen Kon- 
flikte (im weitesten Sinne), gleichgültig ob be- 
bewusst oder unbewusst, das rationale Denken 
in der Richtung des durchaus rationalen Marxis- 
mus hemmen, den Betreffenden unfähig und 
ängstlich machen, ihn in seine seelischen Ein- 
geweide verstricken. Begegnet er nun einem mit 
den Mitteln der Gläubigkeit und Mystik, also 
mit sexuellen, libidinösen Mitteln arbeitenden 
Faschisten, so wendet er ihm seine Interessen 
restlos zu, nicht weil ihm das nationalsozialisti- 
sche Programm mehr imponiert als das kommu- 
nistische, sondern weil er in der Hingabe an den 
Führer und seine Ideologie eine momentane Ent- 
lastung seiner ständigen inneren Spannung er- 
fährt, weil er seinen Koflikt dadurch unbewusst 
in eine andere Form bringen und dadurch lösen 
kann; ja, das befähigt ihn gelegentlich im Fa- 
chisten den Kommunisten, in Hitler den deut- 
schen Lenin zu sehen. Man muss nicht Psycholo- 
ge sein, um zu begreifen, warum einer sexuell 
hoffnungslosen Kleinbürgerfrau, die nie an Poli- 
tik dachte, oder einem kleinen Ladenmädel, das 
den Weg zur schweren Klassenpolitik wegen in- 
tellektueller, sexualkonfliktbedingter Insuffizi- 
enz nicht finden konnte, die erotisch aufreizende 
Form des Nationalsozialismus eine Art Befriedi- 
gung, verstellte freilich, verschafft. Man muss 
das Leben solcher 5 Milionen die Entscheidung 
fällender, unpolitischer, kleinbürgerlicher Men- 
schen kennen, wie es sich in der Kulisse abspielt, 
um auch zu begreifen, welche Rolle das Privat- 
leben, das heisst im wesentlichen das Ge- 
274 



Der unpolitische Mensch 

schlechtsten, in der grossen lauten Politik lei- 
se unterirdisch spielt. Es ist nicht statistisch zu 
erfassen, wir sind auch nicht Verehrer der stati- 
stischen Scheinexaktheit, die am wirklichen Le- 
ben vorbeigeht, während Hitler mit seiner Nega- 
Q°M t eT Statistik und durch Ausnützung der 
Schlaken der sexuellen Misere die Macht ero- 
oerte. 

Der unpolitische Mensch ist der in Sexualkon- 
fhkten absorbierte Mensch. Ihn durch Ausschal- 
tung der Sexualität gewinnen zu wollen, wie das 
bisher geschah, ist nicht nur hoffnungslos, son- 
dern das sicherste Mittel, ihn der politischen Re- 
aktion auszuliefern, die die Folgen seiner sexu- 
ell-sozialen Lage glänzend ausnützt. Hier gibt 
es nach einfacher Rechnung nur den anderen 
Weg, sein Privat- und Geschlechtsleben zu poli- 
tisieren. Ich hätte vor einer solchen Konsequenz, 
so banal sie ist, selbst zurückgeschreckt, und 
kann begreifen, wenn die zünftigen Wirtschafts- 
und Staatspolitiker eine derartige Auffassung 
tur die Ausgeburt eines trockenen, staatspoli- 
2? u 5f rf ahrenen Schreibtischgelehrtenhirns 
eine t Di ? n 1 ^ äre abe ' zu empfehlen, einmal 
und *5* ual P°l>tische Versammlung zu besuchen 
K?ü ! ui ZU uberze ugen, dass die überwiegende 
Mehrzahl gewöhnlich solche Leute sind, die bis- 
ner nie oder nur selten in eine politische Ver- 
sammlung überhaupt, geschweige in eine kom- 
munistische, gingen ; oder zur Kenntnis zu neh- 
men, dass die sexualpolitischen Organisation 
z. B. im Westen Deutschlands überwiegend unor- 
ganisierte und unpolitische Menschen umfassten. 
Und die Anmassung solcher Urteile lässt sich am 
eindrucksvollsten an der Tatsache nachweisen, 

275 



Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis 

dass die internationale Organisation des Chri- 
stentums seit Jahrtausenden in jedem kleinsten 
Nest der Welt allwöchentlich zumindest ein- 
mal eine eindrucksvolle sexualpolitische Ver- 
sammlung in ihrem Sinne abhält, denn nichts 
anderes sind die sonntäglichen Kirchenversamm- 
lungen. Die Vernachlässigung oder gar Leugnung 
dieser Tatbestände bedeutet heute, wo bereits 
bestimmte Erfahrungen über sexualpolitische 
Arbeit und Erkenntnisse über die Beziehungen 
der Religion zur Sexualunterdrückung vorlie- 
gen, eine unentschuldbare, vom Standpunkt der 
proletarischen Bewegung gesehen reaktionäre 
Stützung der Herrschaft des geistigen Mittelal- 
ters und der wirtschaftlichen Ausbeutung. Wir 
sind bereit, alles daran zu setzen, die proletari- 
schen Wirtschafts- und Staatspolitiker zu über- 
zeugen, dass hier notwendige Praxis vorliegt. 
Wir sind ebenso entschlossen, wenn sie sich 
nicht überzeugen lassen oder gar unsere Arbeit 
organisatorisch hemmen wollten, sie mit ganz 
den gleichen Mitteln zu bekämpfen wie Kirche 
und politische Reaktion. Hoffen wir, dass die 
meisten und gewichtigsten unter ihnen sich die 
erforderliche Beweglichkeit des Anschauens der 
Wirklichkeit bewahrt haben. 



276 



Fremdwörterverzeichnis 

abstrahieren, vom Wirklichen, Einzelnen absehen 

abstrakt, vom Wirklichen, Einzelnen entfernt 

absurd, unsinnig 

Affekt, unmittelbare Äusserung eines Gefühls 

affizieren, beeinflussen 

aggressiv, angriffslustig 

akademisch, nach der Art der Universitätsprofessoren: 

gründlich, aber lebensfern 
anal, der Gesässgegend zugeordnet 
Analyse, Untersuchung durch Auseinanderlegen 
Anarchie, Herrschafts-, Planlosigkeit, Durcheinander 
Annexion, polit. Aneignung (bes. v. Land) 
animistisch, die Natur abergläubisch beseelend 
asketisch, enthaltsam (vor allem sexuell) 

Bachofen, schweizer Rechthistoriker, der aufgrund der 
altgriechischen Geschichtsquellen die Mutter- 
rechtstheorie (siehe dort) aufstellte; Hauptwerk: 
„Das Mutterrecht" 1867 

basieren, fussen, begründet sein 

Bastardierung, Kreuzung verschiedener Rassen (oft 
mit herabsetz. Sinn) 

borniert, beschränkt 

biologisch, von Biologie = Lehre vom Leben 

Chauvinismus, leidenschaftlicher, engstirniger Natio- 
nalismus 
chronisch, dauernd, unausgesetzt, gewohnheitmässig 
chtonisch, erdhaft (die Erde als Gott gedacht) 
Coue, franz. Apotheker, Erfinder einer Heilmethode 
(Coueismus); die Kranken müssen so lange sich 
einreden, dass sie gesund werden, bis sie es wirk- 
lich zu sein glauben; bei ernsthaften Leiden na- 
türlich fruchtlos 

Demagogie, Volksverführung 

destillieren, (ehem. Fachausdruck, hier:) ausscheiden, 

rein darstellen 
destruktiv, zerstörend 

277 



/* 






Fremdwörterverzeichnis 

dialektischer Materialismus, im Gegensatz zum me- 
chanischen Materialismus Lehre von der Entwick- 
lung in Widersprüchen (Dialektik) aufgrund ma- 
t tendier (siehe dort) Gegensätze 

Differenzierung, Prozess des sich Unterscheidens 

diffus, zerstreut 

Dissozialität, Unfähigkeit sich in die Gesellschaft ein- 
zuordnen 
Dynamik, Kräfteverhältnis. Bewegungsverhältnis 
dynamisch, kräftemässig, bewegungsmässig 

elementar, ganz einfach, grundlegend 

Emanation, Ausströmung 

energetisch, kräftemässig 

Ethnologie, Völkerkunde 

exhibitionistisch, vom Drang beseelt, sich zu entblössen 

Expansion, Ausbreitung 

Expropriation der Expropriateure, Enteignung der 

Ausbeuter 
Extase, berauschtes Aussersichsein 

feminin, weiblich 
fixiert, vgl. Anm. S. 91 

genital, die Geschlechtsorgane betreffend 
Gens, Summe aller mütterlichen Blutsverwandten = 
Clan 

Hegemonie, Vorherrschaft 

Hellenen, Griechen im Altertum 

Hetäre, vornehme, sexuell freilebende Frau im alten 

Griechenland 
Hypothese, unbewiesene Annahme 

idealistisch, die Materie als Abbild und Werk des Gei- 
stes auffassend 

Identifikation = Identifizierung, vergl. Anm. S. 75 

Ideologie, Spiegelung der Wirklichkeit im Kopf des 
Menschen; kann der Wirklichkeit entsprechen 
oder nicht und ist stets mit einer gefühlsmässigen 
Einstellung verbunden 

illusinonär, aufgrund falscher Vorstellungen 

imperialistisch, mit kriegerischen Anspruch auf frem- 
des Gebiet zum Zweck kapitalistischer Ausbeutung 

rS??*?*' unfäh ig zu genitaler (s. d.) Sexualität 

Individuum, Einzelwesen, Einzelmensch 

278 



Fremdwörterverzeichnis 

infantil, kindlich 

Instanz, entscheidende Stelle 

inscenieren, ins Werk setzen 

irrational, unvernünftig, unbewusst gefühlsmässig 

kardinal, hauptsächlich, grundsätzlich 

klinisch, die Krankenheilung betreffend 

Komintern, Kommunistische (III) Internationale 

kollektivistisch, gemeinschaftlich 

kondensiert, verdichtet 

konservativ, das Bestehende erhaltend 

konträr, entgegengesetzt 

Konzeption, Aufbau, auch Empfängnis 

Korrelation, Wechselverhältnis 

Libido, Energie des Geschlechtstriebes 
Logik, Lehre vom Denken und von den Begriffen, ab- 
gesehen von der Wirklichkeit 

Mänaden, wein- und liebesberauschte Frauen im alten 
Griechenland 

Masochismus, sexuelle Lust an Schmerz und Erniedri- 
gung, Gegensatz: Sadismus 

Massenindividuum, politisch wichtiger Menschentyp, 
z. B. klassenbewusster Arbeiter, kleiner Angestell- 
ter, christlicher Jugendlicher 

materiell, wirklich, unabhängig vom Denken vorhanden 

Matriarchat, vgl. Mutterrechtstheorie 

Mechanik, Arbeitsweise (einer Maschine) 

mechanisch, wie eine Maschine, starr 

mechanistisch, nur das Mechanische berücksichtigend 

Methaphysik, angebliche Lehre vom angeblich über- 
natürlichen 

Miniatur, ganz kleines Abbild 

Monogamie, Einehe 

Moralphilosophie, Wissenschaft vom sittlich richtigen 
Verhalten 

Mutterrechtstheorie, Lehre von der Ursprünglichkeit 
der Erbfolge von der Mutter her (Matriarchat) 

Mystik, angebliche Verbundenheit mit dem angeblich 
Übernatürlichen 

Mythus, religiöse Volksdichtung von Vergangenem 

Narzissmus, Verliebtheit in sich selbst, triebhafte Ein- 
stellung auf das eigene Ich 

279 



.• 1 



Fremdwörterverzeichnis 
Neurose, seelische Krankheit 

Ökonomismus, angeblicher Marxismus, der ausser der 
Wirtschaft nichts berücksichtigt 

Orgasmus , Höhepunkt des sexuellen Erlebens, volks- 
tumlich „Auslösung" 

Patriarchat, vaterrechtliche Gesellschaft 

Patrizier, Adelsklasse im alten Rom 

Paupensierung, Verarmung 

Phallus, männliches Glied 

Phraseologie, System von Phrasen 

Plebejer, Bürger- und Arbeiterklasse im alten Rom 

Produktionskapazität, höchstes Mass der wirtschaftli- 
chen Leistungsfähigkeit 

Produktionsmittel, zur Produktion verwandte Sach- 
werte (Maschinen, Gebäude, Boden) 

Produktivkräfte, alle an der Produktion beteiligten 
Kräfte (Technik, Wissenschaft, Naturkräfte, Ar- 
beitskraft) 

promiskue, vermischt, durcheinander 

Psychologie, Lehre vom Seelenleben 

Psychose, Geisteskrankheit 

puberil, geschlechtsreif werdend 

rational, zweckmässig, vernunftgemäss 

Regression, Rückentwicklung 

Repräsentanz, Darstellung 

Reproduktion, Wiedererzeugung 

restaurieren, wiederherstellen 

Roosevelt-Plan, Plan des amerik. Präsidenten Roose- 
velt im August 1933. durch staatl. Kontrolle der 
Grossproduktion, Dollarentwertung, künstl. Lohn- 
u. Preissteigerung, Arbeitszeitverkürzung die ame- 
rik. Wirtschaft anzukurbeln 

Sadismus, sexuelle Grausamkeit 

sanktionieren, billigen 

scholastisch, spitzfindig, lebensfern 

Skepsis, Zweifel, Zweifelsucht 

stereotyp, sich einförmig wiederholend, gleichmässig 

Sublimation, soziale und geistige Umsetzung sexueller 

Energie 
Symbol, Sinnbild 

280 






Fremdwörterverzeichnis 

Tellurismus, Erdgebundenheit, Niedrigkeit 
Theismus, Gottglaube 
Therapie, Heilbehandlung 

vulgär, im schlechten Sinne volkstümlich, platt 

Zadruga bosnische vaterrechtliche Grossfamilie, Wirt- 
schaftseinheit 









281 



INHALT 



Vorrede 5 

I. KAPITEL 

Die Ideologie als materielle Gewalt 13 

1. Die Schere 13 

2. Ökonomische und ideologische Struktur der 
Gesellschaft 22 

3. Die Fragestellung der Massenpsychologie ... 33 

4. Die gesellschaftliche Funktion der Sexual- 
unterdrückung 44 

IL KAPITEL 

Die Familienideologie in der Massenpsychologie 

des Faschismus 56 

1. Führer und Massenstruktur 56 

2. Hitlers Herkunft 65 

3. Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 65 

4. Familienbindung und nationales Empfinden... 77 

5. Das nationalistische Selbstgefühl 97 

6. Ideologische Verbürgerlichung des Prole- 
tariats 103 

III. KAPITEL 

Die Rassetheorie 115 

1. Ihr Inhalt 115 

2. Objektive und subjektive Funktion der Ideo- 
logie 121 

3. Rassereinheit, Blutsvergiftung und nationali- 
stischer Mystizismus 123 

IV. KAPITEL 

Ol'e Symbolik des Hakenkreuzes 147 

282 



■ 



INHALT 



V. KAPITEL 

Die sexualökonomischen Voraussetzungen der 

bürgerlichen Familie 154 

VI. KAPITEL 

Die Kirche als internationale sexualpolitische Or- 
ganisation des Kapitals 169 

1. Das Interesse an der Kirche 169 

2. Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 177 

3. Der Appell an das religiöse Gefühl 188 

4. Das Ziel des Kulturbolschewismus im Lichte 
der Reaktion 195 

VII. KAPITEL 

Die Voraussetzungen der sexualpolitischen Praxis 

im antireligiösen Kampf 201 

1. Die Verankerung der Religion durch sexuelle 
Angst 202 

a. Verankerung in der Kindheit 203 

b. Verankerung im Jugendalter 208 

2. Gesundes und neurotisches Selbstgefühl 224 

VIII. KAPITEL 

Einige Fragen der sexual politischen Praxis 227 

1. Theorie und Praxis 227 

2. Der bisherige Kampf gegen die Religion 228 

3. Sexuelle Bewusstheit contra Mystik 237 

4. Die individuelle Entwurzelung des religiösen 
Gefühls 240 

5. Einwände und die Praxis der Sexualpolitik... 246 

6. Der unpolitische Mensch 271 

Fremdwörterverzeichnis 277 

283 






Früher erschien zur Sexual Ökonomie: 

WILHELM REICH 

DER EINBRUCH DER SEXUALMORAL 

Kartoniert D. Kr. 6,35 
Leinen „ „ 8,20 

Zeitschrift für Sozial forschung: 

„Reich ist einer der wenigen Autoren, die bei 
der Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftli- 
che Probleme keine Umbiegung der Theorie ins Idea- 
listische vornehmen und damit mehrere Schritte zu- 
rück hinter die Ausgangsposition von Freud tun, 
sondern die im Gegenteil, auf den Ergebnissen der 
Freudschen Personalpsychologie und der Marxschen 
Soziologie aufbauend zu neuen und fruchtbaren Er- 
gebnisen für Soziologie und Psychologie kommen." 

* 

Völkerkunde, Kultur und Wirtschaftsgeschichte 
Soziologie und Psychoanalyse werden sich mit diesem 
Buch auseinandersetzen müssen. Es bestätigt an dem 
Beispiel einer mutterrechtlichen Gesellschaft die völ- 
kerkundlichen Forschungen von Morgan und Engels 
und stellt den Zusammenhang zwischen ihnen und 
den neuen Problemen der sexuellen Ökonomie her. 
Hier wird der Nachweis dafür erbracht, dass die 
Unterdrückung des kindlichen und jugendlichen Se- 
xuallebens aus den ökonomischen Prozessen des auf- 
keimenden Patriarchats abzuleiten ist. Seelische Er- 
krankungen als soziologische Erscheinungen zu er- 
klären, wird damit erstmalig ermöglicht. Die Frage, 
welche Funktion der Sexualmoral im gesellschaftlichen 
Prozess zukommt, wird scharf umrissen und im We- 
sentlichen entschieden. Das Buch ist zugleich eine 
Einführung in die sexualökonomische Forschung. 

Verlag für Sexualpolitik 

Kopenhagen — Prag — Zürich 

Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827 



284 









Früher erschien: 

WILHELM REICH 

DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND 

Kartoniert D. Kr. 2,45 
In Leinen „ „ 4,25 

Völkischer Beobachter: 

„Zerstörung der Sittengesetze durch Verführung der 
Jugend. Ein krasses Beispiel für den Kampf auf die- 
sem Gebiet stellt das kommunistische Buch von Dr. 
Wilhelm Reich „Der Sexuelle Kampf der Jugend" 
dar. Es ist der kommunistische Appell an die deut- 
sche Jugend, sich gegen alle Sittengesetze aufzuleh- 
nen, die nur eine Knechtung durch den Kapitalismus 
seien. Es ist eine schamlose Verführung, die an die 
niedrigsten Instinkte unreifer Menschenkinder sich 
wendet und versucht, im Jugendlichen die Verpflich- 
tung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zer- 
setzen." 
Kritik einer Jugendbetriebszelle Charlottenburg : 

„Ich habe mit einigen Jugendlichen gelesen. Sie 
waren begeistert und sagten, dass solche Broschüre 
bis jetzt immer fehlte. Inhaltlich ist alles knorke. Du 
bist auf alles klar eingegangen, was uns beschäftigt. 
Uns ist beim Lesen schon vieles an uns selber, was 
wir nie richtig erklären konnten, klar geworden." 

Neue Lehrerzeitung: 

Während z. B. Hodann trotz klarer fachlicher Darle- 
gungen in seinen Schriften seine Schwäche ganz deut- 
lich offenbart, wenn es sich darum handelt, Wege zur 
Lösung der sexuellen Frage aufzuzeigen, gibt Reich 
eine gründliche Analyse der sozialen Wurzeln der 
Sexualnot und zeigt, dass die sexuelle Befreiung nur 
von einer Änderung des wirtschaftlichen und politi- 
schen Fundaments der Gesellschaft erwartet werden 
kann. Die Sprache des Buches ist volkstümlich, sodass 
es besonders der proletarischen Jugend, für die : es 
geschrieben ist, als Wegweiser dienen wird. Wir 
empfehlen es aber darüber hinaus allen Lehrern und 
Erziehern, die eine Einführung in die sexuelle^Frage 
vom marxistischen Standpunkt aus wünschen. 

Verlag für Sexualpolitik 

Kopenhagen — Prag — Zürich 

Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827 

285 



Sexualpolitische Schriften: 

Dr. med. ANNIE REICH 

WENN DEIN KIND DICH FRAGT 

Beispiele, Gespräche und Ratschläge zur 
Sexualerziehung 

Geheftet D. Kr. 0,35 
Kartoniert „ „ 1,05 

Berlin am Morgen: 









„Sexualaufklärung als Teil der allgemeinen Aufklä- 
rungsbewegung ist heute, wo ein Wolkenmeer finster- 
ster Mystik den kulturellen Horizont verdunkelt, be- 
deutsamer als je. Unausgesetzt denkt man bei der 
Lektüre der Schrift Annie Reichs an die tiefen Worte 
des Programms der III. Internationale: „Die neue 
Kultur der zum ersten Mal geeinten Menschheit, die 
alle Staatsgrenzen zerstört hat, wird — im Gegensatz 
zum Kapitalismus — auf klaren und durchsichtigen 
Beziehungen der Menschen zueinander beruhen." Die- 
ser neuen Kultur im Sexualgebiet einen Weg geebnet 
zu haben, ist Annie Reichs kulturpolitische Tat." 



DAS KREIDEDREIECK 

Verein zur Erforschung der Geheimnisse der 

Erwachsenen. 
Geh. D. Kr. 1,70 

Eine lustige Kindererzählung, in enger Zusammen- 
arbeit mit proletarischen berliner Kindern entstanden, 
die auf neue Art die alte Frage „Wie sage ichs 
meinem Kinde?" löst. 

Verlag für Sexualpolitik 

Kopenhagen — Prag — Zürich 

Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827 



286 



V 









Sexualpolitische Schriften: 

WILHELM REICH 

SEXUALERREGUNG 
UND SEXUALBEFRIEDIGUNG 

IV. Aufl. Geheftet RM —,80 
Aus dem Inhalt: 

Sexualnot und bürgerliche Sexualmoral — Die ge- 
schlechtliche Erregung — Empfängnisverhütung — 
Der Geschlechtsakt — Fünfzig Fragen und Antwor- 
ten über Onanie, Geschlechtsverkehr der Jugend, Im- 
potenz und Frigidität, Geschlechtsverkehr und Askese, 
Homosexualität. 

Kulturv/ille Leipzig: 

„Die Schrift von Reich ist ganz ausgezeichnet. Auf 
knappstem Raum werden Probleme aufgerissen und, 
soweit das möglich, gelöst. Zahlreiche Fragen und 
Antworten aus der Wiener Beratungsstelle sind an- 
gefügt." 

Der sozialistische Arzt: 

„Dieses Heft zeichnet sich vor anderen seiner Art 
dadurch aus, dass es die Fragen der Sexualität in 
enge und richtig gesehene Verbindung mit der herr- 
schenden Gesellschaftsordnung bringt." 

WILHELM REICH 

GESCHLECHTSREIFE f ENTHALTSAMKEIT, 

EHEMORAL 

Eine Kritik der bürgerlichen Sexualreform 

Leipziger Volkszeitung: 

„Auf seinen etwa 180 Seiten steht mehr als sonst 
in ganzen Wörterbüchern der Sexualwissenschaft und 
der Soziologie. Auf knappere und treffendere Formeln 
lässt sich beim gegenwärtigen Stande unserer sozio- 
logischen und psychoanalytischen Einsichten kaum 
eine Kritik bringen. Noch nie wurden die Zusammen- 
hänge zwischen bürgerlicher Ideologie und kapitali- 
stischer Klassengesellschaft in ihrer Verflochtenheit 
mit der Sexualverfassung so treffend enthüllt." 

Münster — Verlag 

(Dr. Arnold Deutsch) 

Wien II 

287 



: ] 






Von Wilhelm Reich erschienen ferner an theoretischen 
Arbeiten zur Psychoanalyse und Sexualökonomie: 

CHARAKTERANALYSE 

Technik und Grundlagen 
Für studierende und praktizierende Analytiker 

1933 

- 

* 

DIE FUNKTION DES ORGASMUS 

1927 

* 

DER TRIEBHAFTE CHARAKTER 

1925 
* 

Zu beziehen durch den 
Internationalen Psychoanalytischen Verlag Wien I 



DIALEKTISCHER MATERIALISMUS 
UND PSYCHOANALYSE 

In: „Unter dem Banner des Marxismus", Moskau 1929 






288 







i 


















'L 



■